Mach’s noch einmal, John! John Neumeier erklärte am Sonntag beim Hamburg Ballett in der „Ballett-Werkstatt“, wie er seine Mammutballettsaga „Die Kameliendame“ entwickelte

Die Kameliendame wird 40

Alina Cojocaru – die auch in Hamburg „Die Kameliendame“ tanzt – hier mit Marlon Dino beim Schlussapplaus nach einer Vorstellung beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Gisela Sonnenburg

„Die Kameliendame“ heißt die Leibspeise aller, die tragisch-tödlich endende Ballette über die Liebe mögen. Das dreistündige Stück von John Neumeier ist der Ka­viar unter solchen Tanzstücken. Schon der zugrunde liegende gleichnamige Roman, 1848 erschienen und geschrieben von Alexandre Dumas fils, dem Sohn des Autoren von „Der Graf von Monte Christo“, ist so konsequent gefühlig, dass kein Romantiker und keine Romantikerin widerstehen können.Die Steigerung der Verlustsituation aus „Romeo und Julia“ und ihre Versetzung in die morbid-dekadente Erwachsenenwelt im Paris des 19. Jahrhunderts erfassen das Publikum stets vollauf. Neumeier schuf sein Werk 1978 als kalkuliert großen Coup für die ehemalige John-Cranko-Muse Marcia Haydée beim Stuttgarter Ballett. Die Hamburger Premiere 1981, mit einigen hinzugefügten tänzerischen Raffinessen vor allem bei den großen Pas de deux, machte das Stück über die Kurtisane, die Kamelien als Schmuck trägt, noch berühmter.

Mittlerweile wurde das Meisterwerk von führenden Ballettensembles in München, Mailand undMoskau, in Paris, in Amsterdam, in Kopenhagen, in Warschau, in Wien und in New York ins Repertoire aufgenommen. Mit der in all diesen Städten vorhandenen opulenten Ausstattung von Jürgen Rose und mit der stets live gespielten, schmachtenden Klavier- und Orchestermusik von Frédéric Chopin setzte  Neumeier der illustrierten Ideologie von absoluter Liebe zwischen zwei Menschen die Krone auf. Zudem ist sein Libretto der mythischen Tanzkunst angepasst und mit sinnlich-kraftvoller, ebenso origineller wie sinnstiftender Choreografie bebildert. Vier Ebenen erschließen sich dem geneigten Zuschauenden: Die theatrale Gegenwart nach dem Tod der Luxuskurtisane Marguerite; die Erinnerungen ihres Liebhabers Armand, wie er sie beim Lesen ihres Tagebuches durchlebt; die Geschehnisse, wie sie dieses Tagebuch selbst schildert; das ebenfalls aus der Weltliteratur stammende Paar Manon und Des Grieux, das bei Dumas zitiert wird und das von Neumeier als geisterhaft das Stück begleitende Vision von Marguerite eingebracht wird.

Diese vier Handlungsebenen sind dramaturgisch nachvollziehbar miteinander verzahnt, sodass ein cineastisches Erlebnis nachgerade garantiert ist. „Die Kameliendame“ – als komplexe Mammutballettsaga – ist nicht ohne Grund einer der größten Erfolge von Neumeier.

Anna Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett in der „Kameliendame“ von John  Neumeier, sie waren auch mal zu Gast in München. Foto: Wilfried Hösl

Dieses Jahr locken neue wie auch schon bewährte Besetzungen, das Vollblutdrama erneut anzusehen.

Und am gestrigen Sonntagvormittag erklärte der geniale Tanzschöpfer John Neumeier in seiner „Ballett-Werkstatt“ unter dem etwas missverständlichen Titel „Ein Hamburger Klassiker: Die Kameliendame“  im Opernhaus seine eigene Beziehung zum Stück. Wie er dazu kam, das Stück zu machen und – Überraschung, Überraschung – wie er immer noch an Details arbeitet und sie auf die jeweilige Besetzung abstimmt.

Höhepunkt dieser 239. „Ballett-Werkstatt“ Neumeiers seit 1973:

Live zu sehen, wie John Neumeier mit der Ersten Solistin Madoka Sugai an der Rolleninterpretation der „Kameliendame“ feilt. Es geht um eine Szene im ersten Akt, in dem sie bald darauf anfangen wird, sich in Armand zu verlieben. Geplagt von einem Hustenanfall – sie leidet an Tuberkulose – stürmt Marguerite in ihr Ruhezimmer. Ein Spiegel und eine Recamière auf einem Teppich stehen da – ein bereits legendär gewordenes Bühnenbild.

In ihrem violetten Ballkleid, in Paris und München ist es nachtblau, steht Marguerite in dieser Szene vorn an der Rampe wie ein Häuflein Elend. Die glamouröse Luxuskurtisane ist erschöpft und ausgepowert; zusätzlich zur Tuberkulose macht ihr wohl eine schleichende Depression zu schaffen. Ihre Verehrer langweilen sie, und der Herzog, der einen Großteil ihres aufwändigen Lebens bezahlt, spielt sich heimlich als Ersatzvater auf, ohne dass er sie offiziell akzeptiert.

Jetzt ist sie körperlich so erschöpft, dass Neumeier der kleine Hustenanfall, der hier normalerweise von der Darstellerin der Marguerite gespielt wird, nicht mehr ausreicht. Er hat eine Idee und weist Madoka Sugai an, die Erschöpfung sinnlicher und fasslicher zu machen. Sie soll zu Boden gehen, sich sogar tänzerisch hinwerfen – die Kameliendame ist hier ja allein und muss sich vor niemandem für ihre Erkrankung schämen.

Die Kameliendame wird 40

Svetlana Zakharova, Primaballerina am Bolschoi-Theater in Moskau, als „Kameliendame“ von John Neumeier: sichtlich mit dem Schicksal ringend, statt nur hustend. Foto: Bolschoi

Wie Madoka Sugai die Novität ausprobiert, ist spannend zu sehen. Noch gespannter ist man natürlich darauf, das Ganze in der fertigen Aufführung zu sehen. Am kommenden Mittwoch wird es soweit sein: Madoka und Alessandro Frola als Armand sind das neue Team der „Kameliendame“. Sie geben ihre Debüts in diesen Partien, und sie sind damit deren neueste Besetzung.

Im Anschluss an das geschilderte Alleinsein der Kameliendame folgt der erste große Pas de deux (der erste von dreien). Nach der Farbe des Gewandes von Marguerite heißt er der violetteoder blaue Pas de deux; manche nennen die Szene auch den „Spiegel-Pas de deux“, weil die Kameliendame sich kurz zuvor noch sorgenvoll selbst im Standspiegel besieht.

Dann stürmt Armand zu ihr, verliebt bis über beide Ohren. Er legt sich ihr zu Füßen. Er will ihr helfen, sie beschützen, ihr dienen – und obwohl sie ihn zunächst naiv und unerfahren findet, will sie diesem jungen Mann und seinen Gefühlen für sie eine Chance geben.

Die beiden kommen sich intensiv näher…

"Die Kameliendame" in der "Ballett-Werkstatt" von John Neumeier

Madoka Sugai als Marguerite Gautier und Alessandro Frola als Armand Duval in der „Ballett-Werkstatt“: Sie sind das neue Kameliendame-Paar beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Für John Neumeier ist es jedes Mal ein Moment der Freude, wenn er sieht, dass eine Neubesetzung nicht schlechter, sondern ebenso gut und vielleicht sogar noch besser ist als einige vorangegangenen. Denn in seinen Augen lebt seine Kunst nur dadurch fort, dass die Tänzerinnen und Tänzer sie am Leben erhalten.

In dieser Saison stehen gleich vier Besetzungen der Hauptrollen an, und zwei davon waren schon zu sehen: Alina Cojocaru mit Alexandr Trusch und Anna Laudere mit Edvin Revazov. Am Sonntagabend tanzten noch einmal Cojocaru und Trusch. Es war übrigens die 250. Vorstellung der „Kameliendame“ beim Hamburg Ballett.

Alina ist die Veteranin in der Partie der Marguerite, sie war schon vor fast fünfzehn Jahren damit in Hamburg zu sehen. Sie darf als Marguerite laut einatmen, röcheln, was die Lungenkrankheit der Figur ausdrückt. Keine andere Ballerina hat das je so gemacht wie Alina. Oft tanzte sie die begehrte Rolle mit Alexandre Riabko, der heuer zusammen mit Gattin Silvia Azzoni die Literargeister Des Grieux und Manon tanzt. Silvia ist übrigens absolut sehenswert in dieser Partie.

Anna Laudere und Edvin Revazov verkörpern seit 2012 die Hauptrollen in der „Kameliendame“: Sie waren stets ein sehr modern wirkendes, hoch emotionales Paar damit, und er sammelte später in Moskau mit der Bolschoi-Superballerina Svetlana Zakharova noch mehr Erfahrung als Armand.

"Die Kameliendame" in der "Ballett-Werkstatt" von John Neumeier

Ida Praetorius und Jacopo Bellussi als Marguerite und Armand in der gestrigen „Ballett-Werkstatt“: wild und toll. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Ida Praetorius und Jacopo Bellussi sind weitere Stars vom Hamburg Ballett in diesen Rollen. Ida tanzte die Partie bereits in Kopenhagen. Aber jetzt, mit Jacopo, findet sie zu einer weniger mädchenhaften, dafür sehr eleganten, schillernden Interpretation.

Auch dieses Paar darf manchmal etwas anders machen als ihre Vorgängerpaare.

Jacopo Bellussi ist besonders leidenschaftlich als Armand, stürmisch, wild, fast tollwütig. Alessandro Frola hingegen ist ein melancholisch-lyrischer Typ, jemand, dem man glaubt, dass er der „Kameliendame“ jenes Buch schenkt, mit dessen Titelheldin sie sich identiziert: „Manon“ von dem im Barock gelebt habenden Abbé Prévost.

Wie begann es überhaupt mit Neumeier und der „Kameliendame“? Marcia Haydée, einst seineKollegin als Tänzerin bei John Cranko in Stuttgart, war nach Crankos Tod und dem vorübergehenden Direktorat von Glen Tetley selbst Ballettdirektorin vom Stuttgarter Ballett. Und sie brauchte dringend einen Knüller… John Neumeier, damals bereits unbestreitbar supererfolgreich in Hamburg, fühlte sich ihr verbunden und empfand die Aufgabe, ein Werk für sie zu schaffen, als höchst reizvoll.

Er dachte zunächst an den Stoff von Kleopatra und Antonius, mit einer Szenerie aus dem alten Ägypten. Aber irgendwie zündete die Sache nicht. Bei einem Abendessen mit Marcia kam ihm die Idee: „Die Kameliendame“, die schon von Giuseppe Verdi als Oper „La Traviata“ neu erschaffen worden war, musste doch auch als groß angelegtes Ballett hervorragend funktionieren.

"Die Kameliendame" in der "Ballett-Werkstatt" von John Neumeier

John Neumeier probt in der „Ballett-Werkstatt“, hier mit Ida Praetorius, einer weiteren Kameliendame beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Ich darf einen persönlichen Einschub wagen: Ostern 1978 war der Urlaub im Bayerischen Wald schwer verregnet. Im örtlichen Buchladen gab es ein neues Taschenbuch von Knaur: „Die Kame­liendame“ protzte mit Greta Garbo und ihren blondierten Zuckerwasserlocken auf dem Titelbild – dieses kitschige Filmplakatmotiv war allerdings etwas abschreckend. Ich griff dennoch zu, verspeiste ich doch in den Ferien pfundweise Literatur. Und ich verschlang das Buch im Nu, dem Regen dankbar, weil er mich vor dem Wandern bewahrt und zum Lesen verdammt hatte.

Außerhalb der Schulferien versuchte ich, auf dem Klavier die kniffligen Walzer, Mazurken und Nocturnes von Frédéric Chopin in die oktavübergreifenden Griffe zu bekommen. Fleißig dudelten seine Melodien durchs Kinderzimmer. Meine Klavierlehrerin musste, um mich für die Stunde zu motivieren, mir sowieso stets zuerst einen Chopin vorspielen. Am liebsten hätte ich dann noch einige Ballerinen dazu gehabt. Dass „Die Kameliendame“, Ballett und Chopin zusammengehören, war für mich schon damals klar. Der Faktor der Rührung und die melodische Klarsicht verbindet sie.

Ein halbes Jahr später brachte John Neumeier die Dinge zusammen: „Die Kameliendame“ als Ballett mit Musik von Chopin. Im November 1978 war in Stuttgart die Uraufführung. Marcia Haydée als Titelheldin hatte Egon Madsen als Armand an ihrer Seite.

Das literarische Paar, es ist ungleich wie Sommer und Winter, aber harmonisch wie Vanilleeis mit Sahne: Sie, Edelkurtisane, liebt ihn, den unbedarften Bürgersohn. Sein Vater und ihr Hauptkunde vereiteln das Liebesglück. Ihr Mäzen, der Herzog, entzieht ihr die Mittel, und sein Vater überredet sie, Armand in dessen Interesse zu verlassen.

Ein Foto aus einer Aufführung vom Hamburg Ballett: Alexandre Riabko, Alina Cojocaru und Silvia Azzoni tanzen hier einen rührenden Pas de trois. „Die Kameliendame“ mit den literarischen Figuren in ihrer Fantasie. Foto: Kiran West

Sie stirbt schließlich an Tuberkulose, einsam, unglücklich, verarmt, nur noch in den Erinnerungen lebend. Er verpasst ihren Tod, kommt zu spät, findet nur noch zu ihrem Tagebuch – und erfährt daraus die ganze Wahrheit.

Zuvor fügen sie diese Liebenden getanzte Zärtlichkeiten und Schmerzen zu, bis zum drohenden Identitätsverlust auf beiden Seiten.

Roberto Bolle, der schöne italienische Superstar des Balletts, tanzte übrigens 2011 als Gast inHamburg den Armand. Er durfte, was sonst keiner darf: richtig übertreiben, als es um die Darstellung der Trauer geht. Mir gefiel es sehr gut, wie er zitterte und schluchzte, wenn er im Tagebuch Marguerites von ihren letzten Stunden las.

Bolle war auch in den drei großen Paartänzen ein umwerfend mitreißender, hingebungsvoller Partner. Hélène Bouchet, seine Marguerite, schmolz denn auch in seinen Händen dahin, also rein tänzerisch.

Gestern auf der Werkstatt gab es sowohl den faszinierenden „Weißen Pas de deux“ zu sehen, in dem Marguerite und Armand das einfache, beglückende Leben auf dem Lande zusammen mit ihrer Liebe feiern und der doch von feiner Melancholie durchwirkt ist, als auch den „Schwarzen Pas de deux“. Und der stellt ein Kapitel für sich dar.

"Die Kameliendame" in der "Ballett-Werkstatt" von John Neumeier

Sinnliche Versöhnung für eine Nacht: Madoka Sugai und Alessandro Frola in „Die Kameliendame“ von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Denn nach der Trennung von Armand beginnt er, sie mit eifersüchtigem Hass zu verfolgen und bei jeder Gelegenheit öffentlich in Paris bloßzustellen. Ganz in Schwarz, als ob sie um ihre verlorene Liebe trauern würde, kommt sie zu ihm. Und bittet ihn um Schonung.

Aus der Entschuldigung wird eine Verführung – und die beiden zelebrieren ihre körperliche Liebe mit allen Finessen, die das moderne Ballett dafür zu bieten hat.

Wenn der Pas de deux beginnt, trägt Marguerite eine schwere schwarze Robe und ist sogar verschleiert. Dann tanzt sie mit Armand. Sie sind harmonisch und synchron, als hätten sie sich nie getrennt. Er beginnt bald, sie hastig auszuziehen – ein sehr erotischer Vorgang hier – und zum Vorschein kommt ihr zartes, helles Unterkleid.

Der Liebesakt ist akrobatisch, scheinbar wild, dennoch von Zärtlichkeit und Rücksichtnahme getragen.

Sie verlässt ihn mitten in der Nacht, als er schläft – und Manon winkt Marguerite  zu, wie einEngel, ein Schutzengel und Todesengel zugleich.

Lesen Sie hier, was nicht in BILD und SPIEGEL steht! Und spenden Sie bitte! Journalismus ist harte Arbeit, und das Ballett-Journal ist ein kleines, tapferes Projekt ohne regelmäßige Einnahmen. Wir danken es Ihnen von Herzen, wenn Sie spenden, und versprechen, weiterhin tüchtig zu sein.

John Neumeier gelangen mit Szenen wie dieser einmalige Vorgänge in der Ballettwelt. Die innere und die äußere Handlung verschmelzen, und die psychologischen Details sind sichtbar, indem sie als metaphorische Geisterbilder erscheinen. Trotzdem wirkt das Ganze real, sinnlich, gut verständlich.

Die Liebende muss den Liebenden verlassen. Sie tut es für ihn, um sich allein einem Schicksal auszuliefern, das unausweichlich sozialer Abstieg und tödlicher Untergang heißt.

Die tragische Größe dieser Kurtisane, die sich für das Wohl des Geliebten selbst ins Unglück stürzt, wird in Neumeiers Ballett noch deutlicher als in der Romanvolage.

Dabei ist Neumeiers „Die Kameliendame“ nicht das erste Ballett nach dem Roman. „Marguerite and Armand“ heißt das – kürzere – Stück von Frederick Ashton von 1963. Ashton hatte es in London für die alternde Margot Fonteyn und den jungen Rudolf Nurejew nach Musik von Franz Liszt kreiert. Einige Hebungen darin und auch Anklänge der Kostüme Marguerites kehren in der „Kameliendame“ wieder.

Das Kostüm von Armand allerdings, der schwarze Frack zu schwarzen Strumpfhosen, wurde aus einem anderen Stuttgarter Welterfolg implantiert: aus „Onegin“ von John Cranko, zehn Jahre vor der „Kameliendame“ fertig gestellt. Doch während Eugen Onegin ein egozentrischer Lebemann und Dandy ist, den erst die Eifersucht erkennen lässt, was Liebe ist, steht Armand in Schwarz von Beginn an als vornehmer Außenseiter da.

Madoka Sugai tanzte zunächst als Prudence und Jacopo Bellussi als Gaston in der „Kameliendame“ – brillante Partner auch hier. In der Besetzung mit Alina Cojocaru in der Titelrolle sind sie sogar weiterhin in diesen prägnanten Nebenrollen zu sehen, in zwei anderen Besetzungen hingegen in den Hauptrollen.  Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Seine Gefährten, sein Freund Gaston und die Kupplerin Prudence, sind da viel oberflächlicher. Sie genießen das Leben, ohne nach seinem Sinn zu fragen, und sie entstammen einer Spaßgesellschaft, die auch die unsrige sein könnte. Neumeier betont, dass diese beiden keinerlei Entwicklung durchlaufen.

Marguerite hingegen reift im Verlauf des Stücks. Sie findet durch die Liebe zu Armand zu sich selbst, entdeckt das ethische Handeln für sich, legt das Artifizielle, Aufgesetzte, Affektierte, eben das Kurtisanenhafte, ab. Klarheit, Offenheit, Geradheit, Liebe – diese Werte bestimmen letztlich ihr Leben, als es langsam, aber sicher zu Ende geht.

Vorher darf das Publikum aber noch drei große Ballszenen erleben, in denen auch die kleineren Rollen zu Hauptrollen werden.

Louis Haslach als Graf N. brilliert geradezu in dieser Partie: als erfolgloser Verehrer der Kameliendame, der clownesk und traurig zugleich wirken kann. Haslach beweist hier große darstellerische Kraft.

Hauptmagnet aber bleibt die Liebe von Marguerite und Armand. „Ihre Bewegungen gehen vom Rücken aus, von der Mitte des Rückens“, erläutert John Neumeier: „Von hier aus bilden sich ihre Umarmungen.“

Umarmungen gibt es viele in der „Kameliendame“, und das ist auch genau richtig so.

Wenn ihr Schöpfer sie einzeln erklärt, ist das allerdings ein besonderer Genuss. Ob John Neumeier sein Meisterwerk irgendwann nochmal so ausführlich erläutern wird? Wird es eine Wiederholung dieser Werkstatt geben, etwa bei einem der herbstlichen Gastspiele des Hamburg Balletts in Baden-Baden? Es bleibt zu hoffen.

"Die Kameliendame" in der "Ballett-Werkstatt" von John Neumeier

Applaus für alle, sogar vom Chef persönlich (vorn: John Neumeier) nach der 239. „Ballett-Werkstatt“ vom Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Die gestrige Ballett-Werkstatt, eine Benefiz-Werkstatt, war zudem in jeder Hinsicht höchst erfolgreich, nicht nur künstlerisch, sondern auch finanziell: 35.000 Euro aus dem Kartenerlös gehen jetzt an die Stiftung Tanz, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Tänzerinnen und Tänzern zu helfen, die aus dem Beruf ausscheiden und eine so genannte Transition in ein neues Leben durchmachen. Das meist mit einer so profanen Sache wie Umschulung beginnt – und keineswegs damit, verlorenen Liebessehnsüchten nachzuweinen.

Das Ballett-Journal wartet noch auf eine größere Spende. Aber kleinere sind uns auch sehr willkommen.
Gisela Sonnenburg / Anonymous

www.hamburgballett.de

 

 

ballett journal