Ballett im Kino ist wieder da! „Giselle“ tanzt mit dem Royal Ballet aus London am 20. Oktober 20 in vielen Kinos: mit Marianela Nunez und Vadim Muntagirov in der Version von Peter Wright

"Giselle" tanzt im Kino 2020

Albrecht hebt „Giselle“ – so zu sehen mit Vadim Muntagirov und Marianela Nunez vom Royal Ballet, demnächst im Kino! Foto: Tristram Kenton

Aber hallo, die Ballett-Kino-Saison startet! Nach quälend langen Monaten ohne den Genuss, Ballett aus dem Kinosessel und auf einer ganzen Leinwand vor sich tanzen zu sehen, läuft in vielen Städten in Deutschland am 20. Oktober 2020 die „Giselle“ vom Royal Ballet aus London, mit den Superstars Marianela Nunez und Vadim Muntagirov in den Hauptrollen. Die Version ist just jene Inszenierung, die auch beim Bayerischen Staatsballett auf dem Plan für diese Saison stand, dort jedoch – Corona-Schutzmaßnahmen-bedingt – einer noch klassischeren Version von Ballettmeister Thomas Mayr weichen musste. Wright, Jahrgang 1926 und für seine Verdienste um die Ballettkultur von der englischen Queen zum „Sir“ geadelt, lässt die Titelheldin Suizid begehen, was einer strikten Radikalisierung des Endes vom ersten Akt gleichkommt. Der zweite Akt dann, in dem Giselle zum rettenden Geist wird,  entspricht ganz den klassisch-romantischen Vorgaben der Version von Marius Petipa von 1884, welche sich wiederum auf die Uraufführung von 1841 durch Jean Coralli und Jules Perrot stützt. Die Geschichte von der verlassenen Dorfschönheit Giselle, deren Liebhaber sich als standesgemäß verlobter Adliger entpuppte, ist zeitlos und dennoch sozialkritisch; sie geht unter die Haut und hat doch eine Menge Aufklärungspotenzial. Kein geringerer Dichter als Heinrich Heine, der als Henri Heiné in Paris im Exil lebte und schrieb – nachdem er in deutschen Landen geächtet und sogar steckbrieflich gesucht wurde – hat die Geschichte angeregt. Théophile Gautier, auch er ein gewitzter Kopf jener romantischen Theaterepoche in Frankreich, schuf dann das bis heute eindringlich wirksame Libretto. Die Musik von Adolphe Adam wird zwar von Manchen als ein zu einfaches Humtata-Strickmuster geschmäht, überzeugt aber die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer, weil sie das Handlungsballett in seinen szenischen und atmosphärischen Abläufen grandios unterstützt. In London dirigiert Barry Wordsworth mit bewährter Taktfestigkeit. Die Aufzeichnung, die mit Wordsworth jetzt in die Kinos kommt, stammt von 2016 – von einer anderen Pandemie als dem euphorischen Ballettenthusiasmus gab es in den Theatern damals noch keine Spur.

Erinnern wir uns also an die guten alten Zeiten!

"Giselle" tanzt im Kino 2020

Akkurat und doch spontan, verliebt bis zum Anschlag und verloren in Seligkeit: So lieben die Fans die grandiose Marianela Nunez, die in London die „Giselle“ von Peter Wright interpretiert. Foto: Tristram Kenton

Marianela Nunez ist eine legendäre Giselle, verströmt gerade in dieser Partie eine unerhörte Dramatik. Mit dem lyrisch-eleganten Vadim Muntagirov bildet sie ein berühmtes Dreamteam auf der Bühne, und im ersten wie im zweiten Akt dieses Balletts ergänzen die beiden Tanztemperamente einander aufs Schönste.

Peter Wright, der bei John Cranko in Stuttgart als Ballettmeister und Choreograf wirkte, beschäftigte sich viele Jahre mit dem Stoff von „Giselle“. 1961 inszenierte er das theatrale Kunstmärchen erstmals, und zwar in Stuttgart, um es später mehrmals in London einzustudieren.

In dieser Aufzeichnung stammen Ausstattung und Bühnenbild stilecht „werktreu“ von John Macfarlane. Das Original-Bühnenlicht der Inszenierung designte die berühmte Jennifer Tipton, die auch für Jerome Robbins das Licht der bunten Scheinwerfer mischte. Es wurde erneuert von David Finn.

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Wie das ganze Stück, fällt auch das Licht in „Giselle“ in zwei Teile: Im ersten Akt ist es warm und spätsommerlich gelb-grün-orange, auch herbstlich braun-grau-sandfarben. Organische Farben herrschen vor. Das Dorf ist die Realität in „Giselle“.

Und: Es liegt in einer besetzen Region. Wright verlegt das Winzerdorf, in dem Giselle lebt und stirbt, ins deutsche Franken, das gegen seinen Willen Bayern zugeschlagen wurde.

Im Original aber handelt es sich um eine deutsche Obrigkeit, die über französische Untertanen herrscht. Das verraten die Namen, und vermutlich ist damit das Elsass gemeint.

Die französische Giselle, ihre französische Mutter Berthe, der französische Wildhüter Hilarion und die französische Myrtha stehen dem deutschen Albrecht, seinem deutschen Diener Wilfried und seiner deutschen Verlobten Bathilde gegenüber.

Diese Ständehierarchie ist im zweiten Akt aufgehoben.

Hier regieren die Geister, und zwar genau die jener Mädchen, die wie Giselle im realen Leben die Verliererinnen waren.

Es ist eine künstliche Welt, eine märchenhafte Zauberwelt, eine geheimnisvolle Welt der schwarzen Magie.

Entsprechend das Licht: Im zweiten Akt dominiert ein tiefes Nachtblau, gebrochen vom weißen Nebel.

Die Gegensätzlichkeit der beiden Akte bezeichnet den Kontrast der Realität zur märchenhaften Lynchjustiz der geopferten jungen Frauen.

Das Mädchen, das stirbt, weil der geliebte Mann es aus Gründen der sozialen Hierarchie hintergangen hat, verkörpert einen Typus als Liebesopfer, das vor allem in Zeiten starker sozialer Ungerechtigkeit als Bühnenheldin zugkräftig wirkt.

"Giselle" tanzt im Kino 2020

Fantastische figürliche Linien in jeder Action: Vadim Muntagirov als Albrecht beim Royal Ballet. Demnächst im Kino! Foto: Tristram Kenton

Die Winzer und Bauern, die mit Giselle und Albrecht – so der Name des geliebten Verräters – im ersten Akt tanzen, ahnen derweil nicht, welche Brisanz das Liebespaar, das zunächst noch offen miteinander flirtet, verbindet. Sie zeigen das intakte Leben der Dörfler, die sich mit der politischen und sozialen Situation abgefunden haben und für sich mit viel guter Laune das Beste daraus machen.

Nicht umsonst ist gerade Erntezeit, und Giselle wird kurzerhand zur Weinkönigin gekürt.

Marianela Nunez, die gebürtige Argentinierin, die ihren letzten Schliff in der Ausbildung bereits in London in der renommierten Royal Ballet School erhielt, ist ein Ausnahmetalent, das dieser Partie zusätzlich zur vorgegebenen Naivität und Radikalität auch eine gute Portion schauspielerische Wahrhaftigkeit verleiht. Ihre Giselle leidet wirklich: im ersten Akt an der Unwahrheit und an der reichen Dame, mit der Albrecht sie betrogen hat; im zweiten Akt mit Albrecht, für den es in der Nacht um Leben und Tod gehen wird.

Vadim Muntagirov als Albrecht knüpft an die großen lyrischen Ballerinos der Welt an, die vor ihm diese Rolle verkörperten. Vladimir Malakhov und Erik Bruhn fallen einem als mögliche Vorbilder und Vorläufer ein. Muntagirov ist gebürtiger Russe, neun Jahre jünger als Marianela und wurde wie sie in London zum für eine große Karriere nachgerade prädestinierten Tänzer ausgebildet. Sein Stipendium für die Royal Ballet School in London hatte er als Teenager beim Prix de Lausanne gewonnen.

Als Herzog Albrecht hat sich Vadim in die Provinzidylle von Giselles Dorf eingeschlichen, unter falschem Namen und mit erfundener Identität. Er gaukelt vor, er sei ein Bursche aus dem Nachbardorf. Alle glauben ihm – auch Giselle.

Er ist im Grunde seines Herzens ein naiver Junge, auch wenn er hier wie ein abgefeimter Verführer vorgeht. Er folgt einfach den Schwingungen seiner Gefühle, lässt sich treiben, denkt nicht darüber nach, was er anrichtet.

"Giselle" tanzt im Kino 2020

Marianela Nunez als „Giselle“ beim ersten Auftritt im zweiten Akt: Der Geist des jungen Mädchens wird wundersame Kräfte walten lassen… demnächst im Kino! Foto aus London: Tristram Kenton

Aber Albrecht hat einen Nebenbuhler, und dieser – die Partie des Hilarion wird hier getanzt von Bennet Gartside – entdeckt voll Eifersucht Schwert und Mantel von Albrecht. Es sind Insignien der Macht, des Adels, und der junge Herzog weiß auf die Anwürfe des Wildhüters nichts zu erwidern.

Weil die Verlobte von Albrecht nebst adligem Hofstaat im Rahmen einer Jagdgesellschaft ebenfalls anwesend ist, wird offenbar, dass der gut aussehende Mann ein doppeltes Spiel trieb.

Die etwas altjüngferlich wirkende Mutter von Giselle (Elizabeth McGorian) hatte es ja schon geahnt: Es wird schlimm mit ihrer schönen Tochter enden.

In der romantischen Version stirbt Giselle nach einer Aufsehen erregenden Wahnsinnsszene an gebrochenem Herzen – sie bricht in Albrechts Armen mitten im erregten Sprung tot zusammen.

Bei Peter Wright hat die Heldin mehr Handlungsfreiheit – und entscheidet sich bewusst für den Freitod. Aber auch hier leitet der Liebeswahn dorthin.

Vorhang. Der zweite Akt dann spielt nicht mehr im Dorf, sondern im Wald. Hier wurde Giselle, die wahrscheinlich unehelich schwanger war, wegen ihrer unkatholischen Lebens- und Todesweise unter einem einfachen Kreuz beerdigt. Prostituierte und Selbstmörder wurden viele Jahrhunderte lang außerhalb der Friedhofsmauern beigesetzt.

Aber im Wald spukt es: Die Wilis, Geister von jungen Frauen, die vor ihrer Hochzeit starben – die meisten wohl ähnlich wie Giselle – durchziehen die Natur mit ihrer nebelschwadenartigen Präsenz. Und sie treiben alle Männer, die in ihren Sog geraten, in den Tod, erbarmungslos und mit kühler Lust an der Rache.

An der Spitze der weißen Schar steht Myrtha, die Königin der Wilis. Itziar Mendizabal tanzt diese Partie, mit glasklarer Technik und angemessen emotionslosem Gesicht.

Die Szenerie bei Vollmond ist gespenstisch, aber auch romantisch-erwartungsfroh.

Und so tauchen der bereuende Albrecht und der traurige Hilarion auf, mit jeweils unterschiedlichem Schicksal.

"Giselle" tanzt im Kino 2020

Liebe, die stärker ist als der Tod: Giselle und Albrecht alias Marianela Nunez und Vadim Muntagirov in der Aufzeichnung von „Giselle“ mit dem Londoner Royal Ballet, die jetzt in die deutschen Kinos kommt. Foto: Tristram Kenton

Während Hilarion von den Wilis in aufregenden Strudeltänzen umzingelt und umgebracht wird, findet Albrecht dank der starken Liebe von Giselle Gnade – und wird nach Soli und Paartänzen bis zur totalen Erschöpfung die verzauberte Nacht überleben.

Giselle hat bei Wright nicht nur im Interesse von Albrecht gehandelt. Sie will so ihre eigene Seele retten und sich von den Wilis separat halten.

Eine Choreografie gibt es für diese Absicht allerdings nicht, auch keine Musik. Vielmehr tanzt Giselle für und mit Albrecht, um ihn zu retten – und schon ihr erstes Erscheinen im Wald ist von ihrer Zuneigung zu Albrecht geprägt und nicht davon, für sich selbst einen moralischen Vorteil auszuhandeln.

Und so verlässt sie am Ende nach getaner Heldinnentat trippelnderweise die Bühne, so zart und leichtfüßig, wie sie zu Beginn des zweiten Aktes erschienen war.

Ihm bleibt nur, mit entrückt-traurigem Blick weiße Blumen zu verstreuen, in Erinnerung an seine Giselle, deren Leben er für seinen Reichtum gab.

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Für Ballettfans ist es in Corona-Zeiten eine besondere Wohltat, eine komplette „Giselle“-Aufführung zu erleben.

Nicht nur die fröhlichen, spritzigen Tänze aus dem ersten Akt, sondern vor allem auch die vergeistigt-romantischen Sphären aus dem zweiten Akt dürfen hierin vor Personal auf der Bühne nur so strotzen.

Sind es im ersten Akt die Paartänze, die mit dem Corps de ballet berücken, ist der zweite Akt vor allem von den Gruppen aus weißen Frauen illustriert.

Giselle und Albrecht alias Marianela Nunez und Vadim Muntagirov tanzen allerdings sowohl im ersten wie auch im zweiten Akt mit jener superben Weltklasse, die jeden Gang ins Kino wert ist.
Gisela Sonnenburg

Am Dienstag, 20. Oktober 2020, tanzt die Londoner „Giselle“ in vielen deutschen Kinos – in manchen aber auch erst ab dem 22. Oktober 20 zu unterschiedlichen Terminen

Tickets und Termine über:

 www.roh.org.uk/cinemas 

"Giselle" tanzt im Kino 2020

Wenn die Seele fliegen lernt… dann mit Marianela Nunez als „Giselle“ in der Londoner Version von Peter Wright. Demnächst im deutschen Kino! Foto: Tristram Kenton

 

 

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