Hoffen und Denken, Tanzen und Lenken Uraufführung beim Ballett Dortmund: „Abstand“ von Xin Peng Wang versteht sich als Zeitballett

"Abstand" von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund

Greta Thunberg als vorübergehende Bühnenbild-Ikone in einem Ballett mit „Friday-for-Future“-Demonstranten: so zu sehen in „Abstand“ von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund. Foto: Leszek Januszewski

Die Aktualität des Tanzstücks „Abstand“ ist unbestreitbar: Just am Vorabend der gestrigen Uraufführung von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund gab es in den „Tagesthemen“ in der ARD ein Interview mit Greta Thunberg. Das war der passende Auftakt fürs neue Ballett! Denn „Abstand“, so der Werktitel, widmet sich nicht nur dem neuen Lebensstil im Zeichen des Schutzes vor Corona-Viren. Sondern Ballettdirektor Wang, der sich schon immer gern auf aktuelle politische Themen bezog, greift auch die ausstehende Klimawende in seiner Collage auf. Im Premieren-Trailer waren seine Tänzerinnen und Tänzer bereits mit Masken und fantasievoll bemalten Demo-Schildern zu sehen: „Stop Global Warming“ und „Save the Earth“ steht darauf. Im Opernhaus in Dortmund taucht nun die heilige Greta sogar selbst im Bühnenbild mehrfach als Ikone auf. Allerdings wird sie durch eindeutige Konsum-Aktionen als mehr oder weniger wirkungslos entlarvt. Einseitigkeit kann man Wang also nicht vorwerfen, aber ihn bekümmert die Entwicklung unserer Zivilisation und Kultur sichtlich. Umso stärker beeindruckt der tänzerische Ausdruck, der sich gegen Aggression und Habgier, Lüge und Verworfenheit richtet. Unter den Hygieneregeln der neuen Zeit ist hier ein modernes Ballett entstanden, das sich selbst als „Zeitballett“ bezeichnet und bewusst auf nicht nur gesundheitliche Gefahren hinweist, die durch die Corona-Epidemie entstehen.

Allen voran tanzen sich Sae Tamura und Guillem Rojo I Gallego auf ein Weltniveau, dicht gefolgt von Daria Suzi und Filip Kvacak. Aber auch Francesco Nigro, Stephanine Ricciardi – die auch für die originellen, meist hoch ästhetischen Kostüme verantwortlich zeichnet – sowie Manuela Souza, Sayaka Wakita, Matheus Vaz und Javier Cacheiro Alemán berücken in der Premierenbesetzung mit hervorragend durchgeprobten Tänzen. Mehr als zehn Köpfe auf der Bühne braucht Wang hier übrigens nicht, um Gedanken und Provokationen zum Thema mitzuteilen. Dafür sind drei Besetzungen avisiert, und nur Stephanine Ricciardi wird in allen mit auf der Bühne stehen.

Das Konzept der Company-Aufteilung ist interessant: Die Truppe ist in zwei Gruppen à 10 bzw. 11 Tänzer aufgeteilt. Sollte eine Infektion im Ensemble auftreten, kann die andere Gruppen weiter arbeiten – und auch auftreten. Clever!

"Abstand" von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund

Sae Tamura und Guillem Rojo I Gallego beim Applaus nach „Abstand“ von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund. Foto vom Schlussapplaus: Franka Maria Selz

Es handelt sich um eine Reihung von Szenen und Zwischenszenen, die eng ineinander greifen, obwohl sie auf den ersten Blick räumlich nicht viel miteinander zu tun haben.

Der Zeitpunkt ist die Ära von Corona, und sowohl das Leiden am Lockdown als auch der Umgang mit den neuartigen Schutzmaßnahmen werden gezeigt. Während der Kreation wurden die jeweiligen Hygiene-Regeln beachtet.

Das Grundgefühl hier ist aber auch berufsspezifisch: Für Tänzerinnen und Tänzer war der vom Lockdown ertrotzte Verzicht auf das tägliche Training in der Gruppe, das sie seit Kindheitsbeinen gewöhnt sind, ein massiver Einschnitt in das alltägliche Erleben.

Dann fiel auch noch ein halbes Jahr die Erfahrung der Auftritte vor dem Publikum flach – und somit fehlte das Lebenselixier der Meisten, die sich dem Tanz verschrieben haben.

Diese Erschütterung spielt fast überall mit hinein, und mit ihr einher geht die wohl vor allem von Wang empfundene massive Furcht, eine kulturelle Unternehmung nach der anderen im Untergang begriffen zu sehen.

So ist auch das Theater, für das gearbeitet wird, ein Teil der Sorgen um die Zukunft. Eine der ergreifendsten Szenen spielt dort, wo man sich befindet: im Dortmunder Opernhaus.

Dafür wird ein Foto vom leeren Theatersaal riesenhaft groß auf die Bühne projiziert. Guillem Rojo I Gallego tanzt in einem androgynen weißen Outfit – bestehend aus einem Bikini-Top und einem langen, schlanken Rock – ein Solo, das wie ein Epilog auf die vergangene Kulturära wirkt.

Die Musik beschleunigt hier den Tränenfluss: Es ist das würdevolle Lamento der Arie „Vissi d’arte“ der „Tosca“ von Giacomo Puccini. Das Lied war ein Paradestück der Jahrtausendsängerin Maria Callas, die hierin als Tosca ihr Schicksal beklagte.

"Abstand" von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund

Die Künstler vom Ballett Dortmund spenden Applaus für den Choreografen Xin Peng Wang (vorne: Stephanine Ricciardi, Ballerina und zugleich hier Kostümbildnerin). Foto vom Schlussapplaus: Franka Maria Selz

Alle Liebe zur Kunst, die ein Mensch empfinden kann, ist in diese Partitur eingeflossen, wie auch aller Verlustschmerz – aber auch alle Hoffnungen, die Menschen mit Kultur verbinden.

„Vissi d’arte, vissi d’amore“ – „Ich lebte für die Kunst, lebte für die Liebe… “

Tanz und Hoffnung gehen so Hand in Hand, aber auch das Denken und Lenken werden bewusst gemacht. Umdenken – das ist das heimliche Stichwort, das hier unausgesprochen bleibt, aber eigentlich als drängend notwendig empfunden wird.

Die Outdoor-Szenen aus dem Trailer zu „Abstand“, die munter und hoffnungsfroh, aber auch lustig-absurd wirken, weisen schon darauf hin: Grüne Politik ist hier ein Thema, und die tänzerische Kraft des Ensembles vom Ballett Dortmund lässt sich so leicht nicht brechen.

Zu Beginn zeigt eine filmische Kamerafahrt aus der Drohnenperspektive die Schönheit und Kraft der Wälder… Natur pur ist das. „Nature“ heißt diese Szene denn auch, und das Tänzerpaar, das in den beschriebenen weißen Kostümen in Aktion tritt, besteht aus Sae Tamura und Guillem Rojo I Gallego. „Spirits of Nature“ sollen sie sein, also Naturgeister, und das nimmt man ihnen fraglos auch ab.

Zugleich erinnert man sich an Wangs „Faust II“, der in neoklassischer Manier die griechische Antike auftanzen lässt.

Hier ist es weniger statisch, weniger klassisch, aber ebenso passioniert: Das Geisterpaar ist auch privat eines und darf sich hier darum eng umschlungen dem technisch anspruchsvollen Tanz hingeben.

Dass dazu im Programmheft das Statement eines Wissenschaftlers steht, gehört zu der leicht provokanten Dramaturgie, die von Wangs langjährigem Mitarbeiter Christian Baier stammt.

"Abstand" von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund

Visiere und Masken sind groß in Mode: in „Abstand“ von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund. Foto: Leszek Januszewski

Der zitierte Wissenschaftler ist der TV- und Podcast-bekannte Christian Drosten, und sein barmender Spruch lautet: „Die Pandemie ist kein wissenschaftliches Phänomen, sondern eine Naturkatastrophe“. Über den Sinn und Unsinn solcher Worthülsen kann man nun streiten; faktisch ist jede Pandemie ein auch wissenschaftlich interessantes Phänomen, und der Begriff „Naturkatastrophe“ impliziert letztlich eher bestimmte Emotionen, als dass er hier wörtlich wirklich passt.

Die schlichte Feststellung, dass Covid-19 der Erreger einer ernstzunehmenden Seuche ist, wäre schon genug gewesen.

Schön wäre auch die Aufklärung, dass alle Grippen-Viren – wie auch viele andere Krankheiten (HIV, Ebola) – durch den menschlichen Verzehr von Tierfleisch entstehen. Das würde der Fleisch-Lobby allerdings ein bisschen wehtun. Und den Vegetarieren gesundheitlich nochmals Recht geben. Aber es wäre wichtig, solches Wissen zu verbreiten – und nicht immer nur darauf herumzureiten, dass derzeit Mund-Nasen-Bedeckungen zur Normalität gehören.

"Abstand" von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund

Fingierte Demo im Zeichen der Friday-for-Future-Bewegung: Tänzer vom Ballett Dortmund im Trailer für „Abstand“ von Xin Peng Wang. Videostill: Gisela Sonnenburg

„Fridays for Future“ heißt derweil der nächste Szenenblock, und tatsächlich ist die Konfrontation der einen Krise mit der anderen wohl kein Zufall.

„Wir können die Welt nicht retten, indem wir uns an die Spielregeln halten“, schlaumeiert dazu im Programmheft Greta Thunberg.

Es geht allerdings darum, die Spielregeln zu ändern, und dann sollten sich alle an die neuen, hoffentlich besseren Spielregeln halten. Regelverstöße an sich sind kein Bonus, im Gegenteil – da haben die Berater von Thunberg mal wieder nicht weit genug dacht.

Konkrete Probleme mag Wang allerdings auch nicht ansprechen.

Müllverklappungen auf hoher See oder bedrohten Urwäldern, unmäßige Abholzungen und eine industrialisierte Massentierhaltung, die nicht nur Tierleid, sondern auch Umweltschäden en gros zu verantworten hat, dazu völlig sinnlose Kreuzfahrten, die ebenso wie ein Übermaß an Autoverkehr sowie  80.000 Flugbewegungen pro Tag über Europa in der Natur viel Unheil mit Verschmutzung anrichten – all das müsste gesetzlich geregelt und eingedämmt, Vieles davon sogar ganz verboten werden. Und dann sollten sich alle daran halten. Aber das sieht man weder auf der Bühne noch steht es im Programmheft.

Witzig sind hingegen kleinere Szenen wie die, in der ein Frisör sich mit einem Rasierapparat mit Teleskop-Armen versucht. Irgendwie muss man ja versuchen, seinen Job zu machen!

Betroffen macht eine Szene, in der häusliche Gewalt angedeutet wird: Das Opfer ist, wie meistens in solchen Fällen, die Frau.

Und dann prägt Thunberg zeitweise das Bühnenbild, denn in poppigen Farben hängt ihr Konterfei da, als sei Andy Warhol von den Toten auferstanden und habe zum Siebdruck  gegriffen.

"Abstand" von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund

Witzig: ein Frisör übt die Corona-Abstandsregeln… so zu sehen in „Abstand“ von Xin Peng Wang. Videostill vom Trailer: Gisela Sonnenburg

Eine Sprechtheaterszene zeigt Francesco Nigro als besorgten Vater, der sich wundert, wo seine Tochter bleibt. Bis er einen Zettel findet: Sie ist demnach auf einer Friday-for-Future-Demo.

Die Demonstranten tragen alsbald tänzerisch ihre Plakate durchs Bühnenland. Doch die Greta-Bilder hinter ihnen verfärben sich, verschwinden – und es treten Gegenstände aus Plastik an ihre Stelle. Mit diesen Requisiten agieren die Tänzer alsbald, als habe es nie eine Anti-Konsum-Haltung gegeben: Haribo-Tüte und Pappbecher, Laptop und Headset, Flugzeug und weitere alltägliche Symbole spielen nun die Hauptrollen.

Tatsächlich wandelten sich ja schon viele Fridays-Demos in Straßen-Partys.

Aber auch eine andere folgenreiche Begebenheit spielt sich hier jetzt ab: Zwei Menschen, aus denen Liebende werden, treffen sich erstmals auf der Bühnen-Demo.

Daria Suzi und Filip Kvacak sind „The Lovers“ laut Besetzungszettel, und im öffentlichen Raum unter Gleichgesinnten entspinnt sich das, was die eigentliche Geschichte in „Abstand“ ist. Es ist, was sonst, eine Liebesgeschichte.

Man erinnert sich bei dieser Gelegenheit an „Anna Karenina“, die in der Version von John Neumeier ebenso wie in der von Christian Spuck und natürlich auch im beiden zu Grunde liegenden Roman von Leo Tolstoi bei einer zufälligen Rempelei im Bahnhof ihre große Liebe findet.

Heute hat die Werbewirtschaft solche eher seltenen Vorkommnisse für sich entdeckt – und Wang holt den Moment in die Kunst zurück.

"Abstand" von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund

Daria Suzi und Filip Kvacak vom Ballett Dortmund in „Abstand“ von Xin Peng Wang. Foto: Leszek Januszewski

Von ehelicher Untreue wie bei Anna Karenina sind wir bei „Abstand“ allerdings weit entfernt. Vielmehr ist das Problem das Zusammenkommen während des Lockdowns. Viele Menschen, die einen neuen Partner suchen, kommen mit den Corona-Schutzmaßnahmen in diesem Sinne sowieso nicht gut zurecht. Wie soll man flirten und daten, wenn Masken, Visiere und Distanzregelungen den Alltag und die persönliche Kommunikation belasten?

Und dann ruft die Kanzlerin auch noch zu weiter gehendem freiwilligen Verzicht auf „soziale Kontakte“ auf (sie meint damit persönliche Kontakte). Das ist nicht gerade das Klima, in dem Liebe und Liebelei, Verliebtheit und Partnerfindung gewohnheitsmäßig blühen und gedeihen können.

Oder doch? Bietet der zum Schutz vor Corona verordnete Purismus nicht sogar die Chance, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren? Betrifft das nicht auch die Menschen, die wir treffen wollen?

Man muss ein Stück weit Lebenserfahrung und auch Instinkt haben, um das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden.

Die meisten Menschen können das vermutlich nicht. Viele schaffen es nicht mal, damit aufzuhören, sich mit ungewaschenen Händen im Gesicht herumzufuhrwerken.

Sich vor einem Snack die Hände zu desinfizieren, ist offenbar auch für Viele nicht machbar – und wenn aufgrund von Alkohol die Hemmschwellen runtergehen, wird mit sprühender Spucke begeistert gesagt oder auch gesungen, was frei von der Leber weg will.

Dass die winterlichen Außentemperaturen dem Covid-19-Virus nützen, weil es sich bei Kälte viel besser vermehren kann als bei Wärme und dann im Speichel eine höhere Konzentration erreicht (was die Ansteckungsgefahr vervielfacht), wird weder von der Regierung noch im Theater gesagt. Aber es ist Fakt.

Die zweite Welle war also vorauszusehen.

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„Infection“ heißt denn auch die dritte Hauptszene in „Abstand“. Und sie hat ein zynisch wirkendes Motto von Donald Trump, dessen mangelhaftes Gesundheitssystem in den USA viele Menschen das Leben kostete: „Wir haben es völlig unter Kontrolle. Es wird alles gut.“

Die Atmosphäre hierbei ist bedrückend. Die Szenerie ist dunkelblau, von Nebel durchbrochen. Menschen in Schutzanzügen versprühen den Nebel, als sei er Desinfektionsmittel.

Nur ein Lichtstrahl leuchtet auf der Bühne, durchquert sie wie ein heller Pfad.

In ihm findet nun das Geschehen statt: ein Krankenhausbett beherbergt einen beatmeten Patienten; die Versorgung nimmt Engpässe, indem Paletten mit Lebensmitteln für Hamsterkäufe aufgebraucht werden; das Wort „systemrelevant“ geistert durch die Sphäre, ohne, dass es hier ausgesprochen wird.

Wenn man ein Thema wie eine Corona-Erkrankung allerdings mit so vielen Requisiten ohne emotionale Beziehung durch das Stück jagt, riskiert man eine Banalisierung.

Warum gibt es hier keine Figuren auf der Bühne, die mit Corona leibhaftige Erfahrung haben? Es gibt hier nur die beschriebenen Stereotypen: Naturgeister, einen Vater, ein Liebespaar.

Und sonst?

Was ist mit der Kunst? Mit der Hochkultur? Ist sie nicht systemrelevant im erweiterten Sinn?

Ein Tänzerpaar darf sich wenigstens der Lethargie eines Popsongs ergeben, und es tanzt die melancholische Hilflosigkeit, die viele Menschen während und nach des Lockdown erfasste.

Wie aus der Zeit gefallen, gibt ein Fluglotse seine Zeichen.

In welchem Zusammenhang er steht, erschließt sich nicht. Vielleicht soll er stellvertretend für alle Verantwortlichen in dieser Gesellschaft die Bemühung zeigen, Ordnung ins Chaos zu bringen.

"Abstand" von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund

Xin Peng Wang, Ballettdirektor vom Ballett Dortmund und Choreograf von „Abstand“, mit Maske beim Applaus. Foto vom Schlussapplaus: Franka Maria Selz

Ein Maskentanz des Ensembles zeigt zudem die Vielfalt der Möglichkeiten, mit der Krise äußerlich umzugehen. Manchen gefällt es ja, mit modischen Stoffen das Gesicht teilweise zu verdecken, Andere tragen Visiere, wieder Andere sprühen wie manisch Desinfektionsmittel um sich.

Es gibt eben nichts, was es nicht gibt – die Frage ist nur, was wann warum wirklich sinnvoll ist.

„Alone“, also alleine, könnte man darüber gut nachdenken. Hier aber sind es, in der so genannten Szenerie, Lichtquadrate, die Weiß auf Dunkel die Bühne zu italienischen Straßen machen. Von den Quadraten aus kann man, wie von Balkonen, singen.

Tanz und italienisches Sprachtemperament, dazu der Song „Nel blu, dipinto di blu“ mit seinen berühmten Zeilen vom Fliegen und Singen („volare – cantare“) erfüllen die Bühne.

Kurzzeitig kommt spritzige Freude auf. Aber schon beschwert sich ein Nachbar über den Lärm.

Eine Frau – schreit. Sie hält das alles nicht mehr aus. Die Nerven liegen blank: „Silencio!“ („Ruhe!“)

Alles verstummt – und die Tänzerin, die eben noch so gestresst war, macht Aufwärmübungen für ein Solo, das ihre Isolation in einem Lichtquadrat zeigt. Sehr berührend.

„Replication“, mit den Reproduktionszahlen des Virus geht es weiter. Merkel meint: „Die Pandemie ist eine demokratische Zumutung.“ Für manche sogar eine tödliche Zumutung. Und – leider zeigt Wang das nicht – eine, die in die Verarmung führt.

Allein in Nordrhein-Westfalen wurden bislang rund 50.000 zusätzliche Hartz-IV-Empfänger seit dem Lockdown registriert.

Viele müssen ihr Haus oder ihre Wohnung verkaufen, den von der Großmutter geerbten Schmuck oder das nagelneue Kinderfahrrad. Es geht auch ohne Auto, ohne Urlaub, ohne Essengehen, ohne Quäntchen Luxus. Aber ist ein menschenwürdiges Leben mit Hartz IV überhaupt möglich? Zumal: ohne Kultur?

Es gibt Künstlerinnen und Künstler, die ohne ihre Arbeit und ohne die Aussicht, wenigstens minimal in absehbarer Zeit weiterzuarbeiten, in den Freitod gehen.

Vielleicht sollte man ihnen mal mit einem Ballett ein Denkmal setzen.

Gegen solche existenziellen Probleme, die real vorhanden sind, wirkt Wangs neues Werk ein wenig platt. Zu sehr kapriziert er sich auf Zeichenhaftigkeit, auf das, was jede und jeder kennt und mit „Corona“ verbindet.

Nur die Liebe ist hier die Gegenwelt, und es ist eine erträumte und zum Träumen animierende Liebe, fraglos. In seinen Pas de deux war Xin Peng Wang schon immer ein großer Meister, so auch jetzt.

Dem stehen später auf der Bühne die Statistik-Blöcke als Hintergrundbebilderung entgegen. Eine Szene heißt sogar danach: „Statistics“. Menschen als Zahlenblöcke.

Die Bild gewordenen Zahlen stellen Infizierte, Krankenhauspatienten, Verstorbene und Genesene dar.

Wird all das jetzt normal?

Mit Distanzen zwischen sich tanzen die maskierten Tänzer, halten sich manchmal zusätzlich die Hand vor den Mund. Manche Fragen traut man sich schon nicht mehr zu stellen.

Bleibt die Liebe als utopisches Ziel der Gefühlswelt.

Kein Zufall ist, dass hier außer der erwähnten Puccini-Arie nur Popsongs zu hören sind. Für versierte Kulturgänger ist das ein bisschen anspruchslos. Aber die Liebe ist natürlich das große Thema generell im Pop – so auch hier.

„Romeo & Juliet“ heißt eine Szene.

Man liebt einander, ohne auf die Umstände einer Pandemie vorbereitet zu sein. Liebe hat keine Lust, Schutzmaßnahmen zu berücksichtigen. Das erfordert schon eine innere Reife. Aber es ist nicht gesagt, dass junge Menschen diese grundsätzlich nicht haben.

So geht es mit den „Lovers“ hier hin und her, und Daria Suzi und Filip Kvacak tanzen die Liebe mitunter, als habe es nie etwas Anderes in ihrem Leben gegeben.

Doch der Sehnsucht nacheinander steht die Realität stark entgegen.

Rücken an Rücken sitzen die beiden auf Stühlen, können sich nicht sehen, nicht berühren.

Dabei hatte er ihr schon Liebesbotschaften und eine Tasse Kaffee mit einem ferngesteuerten Spielzeugauto geschickt.

"Abstand" von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund

Daria Suzi vom Ballett Dortmund in der Blase, nicht in der von Peter Sloterdijk, sondern vorbereitend fürs Ballet „Abstand“ von Xin Peng Wang. Videostill vom Trailer: Gisela Sonnenburg

Aber dann gibt es auch noch einen Bubble, eine Plastikblase, die die Liebenden trennt. Die Verlobung findet solchermaßen mit Hindernissen und mehr im Kopf als mit Küssen statt: Der Liebende und sein Blumenstrauß können nicht vordringen zu dem Mädchen in der mannshohen Plastikkugel.

Isolation als Eingesperrtsein in einer Plastikkugel – das ist kein originelles Bild, aber immerhin ein verständliches.

Wang ergänzt die Tanzszenen in diesem Stück oft durch inszenierte Tableaus.

Manchmal müssen darin der Bühnenaufbau oder die Requisiten etwas leisten, das der Tanz allein vielleicht nicht schaffen würde. Die Botschaft ist allerdings einheitlich und eindeutig: Liebe ist Hoffnung. Sonst nichts.

Und so gibt es zum Schluss eine grotesk-grandiose Hochzeit, ein Happy End der zwei Liebenden, von dem man nicht genau weiß, ob es nicht die reine Illusion sein soll.

Ein Motto des Sängers der US-amerikanischen Folkband „Beirut“ steht hier für den simplen, aber bedeutenden Grund für die Ehe: „Ich habe dein Lächeln so lang nicht gesehen.“

Das spielt wieder so ein bisschen in Richtung Banalität.

Aber da fliegen auf der Filmleinwand die Masken tatsächlich durch die Luft, ganz so, als sei der ganze Corona-Spuk mit einem Schlag vorbei.

Endlich wieder das Lächeln des Gegenübers sehen!

Es ist wohl das Wunschdenken, das für dieses Ende gesorgt hat.

"Abstand" von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund

Daria Suzi und Filip Kvacak beim Schlussapplaus nach der Uraufführung von „Abstand“ von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund. Foto: Franka Maria Selz

Wie bei einer Feier in Corona-Vorzeit freuen sich nun alle und tanzen befreit, und auch die Naturgeister vom Anfang, dargestellt von Sae Tamura und Guillem Rojo I Gallego, sind mit der Menschheit plötzlich ganz einverstanden. Wie das gehen soll? – Keine Ahnung!

Der Regenwald wird jedenfalls weiterhin abgeholzt.

Und leider ist Corona nicht besiegt. Ob es jemals eine so bedenkenlose Nähe zwischen Menschen wieder geben wird, wie es sie einstmals gab, sei dahingestellt. Auch wann sich das Dasein weitgehend „normalisiert“, ist völlig unklar – erst recht, in welchem Umfang.

Nun sind Hochzeiten allerdings eine beim Virus beliebte Gelegenheit, viele Infektionen zu bekommen. Ob Wang daran gedacht hat? Will er uns mit dieser Schlussszene vermitteln: So wird das Virus immer weiter wandern… ?

Oder das Ballett zeigt, dass – wenn mit genügend Abstand gefeiert wird – man auch diesen erfreulichen Teil der Alltagswelt in den Griff bekommen kann. Schließlich tanzen unsere Künstler hier keinen Disco-Fox, sondern mit, ja, genau: Abstand!

Der Titel des Balletts hat Recht: Abstand ist das wichtigste, was wir uns derzeit gegenseitig gönnen können. Abstand heißt heute auch Respekt und Achtung, Gesundheit und Vorsicht. Und das wird uns noch eine ganze Weile so beschäftigen.

Fakt ist: Die Impfstoffe, die gerade entwickelt werden, können nur Erwachsenen verabreicht werden. Kitas und Schulen, Familien und Kindergeburtstage werden also in jedem Fall noch lange potenzielle Hotspots bleiben.

"Abstand" von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund

Javier Cacheiro Alemán beim Applaus nach „Abstand“ von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund. Foto vom Schlussapplaus: Franka Maria Selz

Mit welchem Erfolg gegen Corona geimpft werden wird und ob in absehbarer Zeit ein Medikament erfolgreich sein wird, steht zudem noch in den Sternen.

Insofern ist Wangs Stück mit diesem Ende als große Hoffnungseloge zu sehen, vielleicht sogar als ironisch übersteigerte Hoffnung.

Immerhin aber zeigt „Abstand“, dass das Warten auf bessere Zeiten dank der Ballettkunst  bereits einer Versüßung des Seins gleichkommen kann – und das sogar ganz ohne Karies.
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg

www.theaterdo.de

 

 

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