Der Sommer hat Abschied von uns genommen, und die dunkle Jahreszeit hat uns längst eingeholt. Das Licht wird weniger, schummriger, diffuser – und die Stimmung driftet langsam, aber stetig in gefasste Melancholie hinüber. Ist es nicht so? Wir alle sind auch von den Jahreszeiten abhängig, und die Spannen ihrer Wechsel werden manchmal als besonders schwermütig erlebt. Da hilft es, wenn eine sensible Künstlerseele sich rückhaltlos und dennoch stilvollendet zu äußern weiß! John Neumeier, der deutsch-amerikanische Tanztitan, hat mit seinem Hamburg Ballett als Starterset in unseren ersten Herbst mit der Corona-Pandemie ein delikates Programm zusammengestellt: Die „Ballette für Klavier und Stimme“, die 2014 in anderer Zusammenstellung aufgeführt wurden, vereinen in dieser Saison vier Stücke von Neumeier, die zwischen 1979 und 2013 entstanden. Zwei Pianisten, Michal Bialk und Gary Matthewman, werden dazu live spielen. Die Stimme aus dem Programmtitel gehört dem beliebten Benjamin Appl: Der junge Bariton wird die Tänzer im letzten Stück begleiten. Vom Bach-Ballett „Vaslaw“, das thematisch den Ballettgott Nijinsky umkreist, über das Gershwin-Stück „Ein Portrait von Marilyn Miller“ und über die Chopin’schen „Nocturnes“ bis hin zur Mahler-Elegie „Um Mitternacht“ finden sich somit vier lebendige Teile eines Puzzles, die zusammen ein ganzes Kaleidoskop aus aufregenden Stimmungen und Beziehungen ergeben. Eine fast somnambule Anmutung ist diesen Werken zueigen; hypnotisch und suggestiv ziehen sie uns in ihren Bann, verwickeln uns in Vorgänge, die niemandem ganz fremd sind, auch wenn sie hier abstrahiert sowie pointiert erscheinen.
Zunächst freut sich nicht nur das Stammpublikum, dass der junge Primoballerino Alexandr Trusch von einer Verletzung genesen ist und alternierend mit dem zuverlässigen Neumeier-Zögling Aleix Martínez die Titelpartie in „Vaslaw“ tanzen wird.
Es handelt sich um ein Ballett, das bereits zu den modernen Klassikern gehört.
Bei der Uraufführung im Sommer 1979 tanzte ein Gaststar aus Paris die Partie: Patrick Dupond.
Weitere Gäste – Lucia Montagnon, Donna Wood und Egon Madsen – ergänzten das Tanzensemble der Hamburger. Insgesamt stehen hier vier Frauen und sechs Männer auf der Tanzbühne, auf welcher im Hintergrund auch der Pianist am Flügel zu sehen ist.
Diesen Herbst interpretieren – zusammen mit dem Titelhelden – Yaiza Coll und Anna Laudere, Yun-Su Park und Madoka Sugai, Nicolas Gläsmann und Marc Jubete, Félix Paquet und Edvin Revazov sowie Lizhong Wang das Stück.
Es ist ein erstes getanztes Psychogramm, das John Neumeier von Vaslaw Nijinsky ersonnen hat. Seit seiner Jugendzeit ist Neumeier von der Ikone Nijinsky fasziniert. Als Teenager fand Neumeier eine Biografie des Ballettstars der legendären Ballets Russes in einer Bibliothek seiner Heimatstadt Milwaukee. Maßgeblich weckte dieses Buch in dem Heranwachsenden den Wunsch, Tänzer und Tanzschöpfer zu werden.
Und Nijinsky wurde nicht nur eine Zentralgestalt in Neumeiers späterer Sammlung – die mehr als 25.000 Objekte umfasst und letztlich zur Gründung eines Ballettmuseums in Hamburg führen soll – sondern auch in Neumeiers choreografischem Schaffen.
Außer „Vaslaw“ entstanden mit dem Mammutwerk „Nijinsky“ (im Jahr 2000) und mit „Le Pavillon d’Armide“ (von 2009) weitere prägnante Tanzstücke über die Kunst und das traurige Schicksal von Nijinsky, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere seinen Liebhaber und Chef Serge Diaghilev durch die plötzliche Heirat mit einer Frau verprellte, beruflich abstürzte und unheilbar in Schizophrenie verfiel.
„Vaslaw“ ist ein starkes Ballett über den Wendepunkt in Nijinskys Leben: aus dem jungen, hoch begabten Startänzer wird ein von Dämonen gequälter Mann, der um jedes Quäntchen Glück mit sich selbst ringen muss.
Tobsuchtsanfälle waren in seinen frühen Jahren noch nicht das Problem, aber dass Schatten in sein Innenleben fielen, war wohl auch für seine Umwelt nicht zu übersehen.
Das Ballett zeigt diese Prozesse der seelischen Befindlichkeit: von hypervitaler Virtuosität über ein ungewiss-tragisches Empfinden hin zu Schrägheiten und abgehackten Bewegungen, die das Stocken des Lebensflusses versinnbildlichen.
Die Pianomusik von Johann Sebastian Bach (unter anderem aus dem „Wohltemperierten Klavier“) unterstreicht mit ihrem taktvollen Gleichmut das dazu kontrastreiche Auseinanderdriften der Seele Nijinskys.
Der „Tänzer aller Tänzer“ zerfällt vor unseren Augen – und wird doch in der Kunst immer wieder ein Stück weit gerettet.
Nicht zufällig ist ein Ballett, das Nijinsky für die Ballets Russes plante, hier der grundlegende erste Gedanke gewesen. Und es sollte ein üppiges Werk nach Bach-Musiken werden, blieb aber Utopie – jetzt ist es ein genial puristisches Tanzstück, ebenfalls mit Bach, geworden.
Das lyrisch swingende Damensextett in „Ein Porträt von Marilyn Miller“ bildet zu dem gedankenvoll-brillanten „Vaslaw“ einen scharfen Gegensatz. Es hat jene Leichtigkeit, verbunden mit starker Leidenschaft, die man vor allem im Showdance findet. Und tatsächlich entstammt es dem Revuebogen, der Ballettrevue Neumeiers namens „Shall we dance?“ („Sollen wir tanzen?“) – Was für eine Frage!
1986 war ein Jahr voller technischer Katastrophen für die Weltgeschichte. Im Januar brach die US-Raumfähre „Challenger“ kurz nach dem Start auseinander. Im April barst in der Sowjetunion der Atomreaktor von Tschernobyl. Im August stieß im Kamerun ein See soviel CO2aus, dass fast 2000 Menschen sowie alle Tiere im Umkreis von 25 km starben. Und im November verursachte ein Großbrand beim Chemiekonzern Sandoz in der Schweiz ein großes Fischsterben im Rhein.
Es gab aber auch Gutes: Der sowjetische Regimekritiker Andrei Sacharow durfte im Dezember 86 aus der Verbannung nach Moskau zurückkehren.
Von Deutschland aus recherchierte John Neumeier in diesem Jahr etwas ganz Anderes, nämlich die ersten Erfolge der Broadway-Kultur in New York. Und stieß auf eine historisch verbürgte Künstlerin namens Marilyn Miller. Ein imaginäres Porträt von ihr entstand, das – aufgeteilt auf sechs Tänzerinnen – die verschiedenen Facetten dieser frühen, am Broadway tanzenden Ballerina auslotet. „Broadways’s Pawlowa – Ein imaginäres Porträt von Marilyn Miller“ heißt dieses Tanzstück im Ganzen.
Olivia Betteridge, die sich immer stärker solistisch profiliert, tanzt hierin, ebenso die so versierte wie vielseitige Hélène Bouchet, des weiteren Patricia Friza, Greta Jörgens, Charlotte Larzelere, Xue Lin und Emilie Mazon, die bereits auf der Nijinsky-Gala 2019 dieses köstlich-grazile Stück tanzte.
Die Musik besteht aus Songs von George Gershwin, wobei das letzte in dieser Reihe „The Man I love“ ist – und in einer Aufnahme mit Ella Fitzgerald gespielt wird.
Pastellfarbene Kostüme, die weibliches Streben und feminine Träumerei auf einen Nenner bringen, runden dieses energiegeladene Damenbild ab.
John Neumeier stellt zu „Shall we dance?“ zudem ein Gedicht ab, das so endet:
„You’d better dance, little lady,
Dance, little man,
Dance when ever you can.“
Wörtlich übersetzt heißt das: „Es ist besser, du tanzt, kleine Dame, / Tanz, kleiner Mann, / Tanz, wann immer du kannst.“
Im Kontext ist gemeint: Das Leben ist ja so kurz, und warum soll man es vergeuden? Also: Tanzen!
Das ist die Botschaft im Kern dieses Stücks, und wer würde da widersprechen wollen?!
Aber Tanz bedeutet auch Ausdruck der dunklen Welten, der herbstlichen Gefühle, der schwierigen seelischen Zustände.
Die „Nocturnes“, 2005 für fünf Damen und fünf Herren choreografiert, bezeichnen einen leicht überspannten nächtlichen Wachzustand. „Furcht und Ängste scheinen größer, Problem unlösbar“, notierte John Neumeier dazu. Und: „Nacht. Ein Raum der Extreme…“ Wörtlich übersetzt heißt „Nocturnes“ übrigens: die „Nächtlichen“ oder auch die „Nachtaktiven“.
Die Musik dazu ist romantisch und durchzogen von jener vornehmen Wehmut, die in allen Jahreszeiten angemessen ist. Sie stammt vom Klaviergenie Frédéric Chopin. Zwischen 1827 und 1846 komponierte er Stücke in der Form der Nocturne, einer für die Hochromantik typischen und dafür auch erfundenen Spielart am Klavier.
Während die hellen Melodien hier oft zart und fast gesanglich wirken, holen die unteren Lagen der Musik tiefe Seelenklänge empor. John Neumeier kombiniert diesen Chopin-Sound mit einem Song von Simon & Garfunkel, die in den 70er-Jahren in der Schwulenszene einen besonderen Stellenwert hatten.
Tänzerisch treffen Soli, Pas de deux und Kleingruppentänze aufeinander. Jeder Protagonist ist hier ein elegantes Individuum – mit unglaublicher Verve.
Beim Prix de Lausanne im Februar 2017 wurde ein Damensolo aus „Nocturnes“ zum Fallbeispiel für ernstzunehmende juvenile Kraft nicht nur der Nachwuchstänzerinnen, sondern auch des Stücks.
Man darf sich jetzt auf die Neubesetzung mit Silvia Azzoni und Yaiza Coll, Anna Laudere und Xue Lin, Emilie Mazon und Jacopo Bellussi, Christopher Evans und Marc Jubete sowie mit Edvin Revazov und Alexandre Riabko ganz besonders freuen!
Und dann kommt ein absoluter Leckerbissen aus dem Neumeier’schen Universum: Das im ersten Halbjahr 2013 entstandene Rückert-Lieder-Stück „Um Mitternacht“.
Thematisch schließt es an die „Nocturnes“ vordergründig an, umfasst aber auf symbolischer Ebene einen ganzen Lebensabschnitt.
Im Zentrum steht die Dreiecksbeziehung zweier Frauen (Silvia Azzoni und Anna Laudere) zu einem Mann (Edvin Revazov).
Die Musik stammt von Gustav Mahler, und die „Fünf Lieder nach Friedrich Rückert“ sind berühmt mit ihren schwelgenden Texten des Romantikers Rückert.
Grundlegend ist wieder die Stimmung. Komponiert in den Sommern 1901 und 1902 beschwören die Songs deen spätromantischen Liebestaumel.
Unstillbar erscheint die Sehnsucht hier.
Vorab, mittendrin und am Ende des Stücks ereignet sich der Tanz darum sogar ohne Musik – als könnten keine Töne der Welt die wortlose Tiefe zwiespältiger Gefühle vermitteln.
Und statt die schwirrenden Melodien der Rückert-Lieder vor allem zu illustrieren, sträubt sich Neumeier demonstrativ gegen die geschmeidigen Rhythmen: Es handelt sich um ein puristisches Spätwerk mit hypnotischer Sogkraft.
Das Licht könne dem Winter entstammen; Violettblau schimmert es, bevor gen Ende mit ergrünendem Hintergrund die warmen Jahreszeiten in die Szenerie einziehen.
In das Beziehungsgeschehen hinein mischen sich, wie dunkle Schatten, zudem immer wieder Momente des Unheimlichen.
Im ersten Lied singt der Bariton: „Um Mitternacht / Nahm ich in acht … Ein einz’ger Puls des Schmerzes / War angefacht“.
Die Uhrzeit, die Geisterstunde, die Stunde Null der Tage und der Nächte, der Endpunkt eines Tages und Neubeginn eines weiteren, ist somit gleich zu Anfang dingfest gemacht. Aber die Romantik hier ist keine fröhlich-unbeschwerte, sondern eine spätromantische, fast depressive Stimmung.
Da ist ein Herz in Not, und schwermütig klingt auch das Piano.
Dazu tanzt die hochgewachsene, souveräne Anna Laudere mit dem markant breitschuldrigen Protagonisten Edvin Revazov einen dubiosen Paartanz: Zweisamkeit mit subtil schrillen Untertönen führen sie vor, in einer entrückten, wie eingedampften Atmosphäre.
Inhaltlich ist die klassische Einsamkeit in einer Beziehung gemeint – die unausgeprochene innere Isolation der Liebenden führt zum Bruch. Der Tänzer fühlt sich von einer zweiten weiblichen Kraft angezogen: Die zierlich-zarte Silvia Azzoni lockt ihn mit schlängelnden Posen. Sie trägt ein absinthgrünes Chiffonkleid aus transparentem Schleier – und wirkt darin bezaubernd wie eine Fee.
Die grüne Fee, „la fée verte“, ist allerdings die werbetechnische Symbolfigur des Absinth. In der Belle Époque, als Gustav Mahler die Rückert-Lieder vertonte, war dieser Wermutschnaps als Inbegriff von Suff und Scheinwelt weit verbreitet.
Angeblich erschien den Betrunkenen eine grün gekleidete Frau. Die grüne Fee wurde mit diesem Werbemärchen zur Allegorie für den Absinthgenuss, für Weltflucht mittels Drogen überhaupt. Auf Plakaten und Ölgemälden jener Zeit ist die Geisterfrau verewigt, sitzt dem Trinkenden auf der Schulter, flüstert ihm Liebesworte ins Ohr.
Silvia Azzoni kann das tanzen, als sei sie von einem anderen Planeten, aus einer rauschgesteuerten Feenwelt, herangeschwebt. Wenn Revazov sie in die Höhe hebt, bleiben ihre Arme und Beine so puppenhaft graziös, als habe ihr Körper überhaupt kein Gewicht.
„Ich atmet’ einen linden Duft!“ heißt das bekannte Rückert-Lied, zu dem Azzoni auftritt.
Die Verführung des Mannes findet aber nicht in freier Natur statt, sondern im vertraut-alltäglichen Umfeld: „Im Zimmer stand/ Ein Zweig der Linde“. Die Blüten sind so betörend, dass sich der „Liebe linder Duft“ entfaltet. Bekanntlich riechen Lindenblüten eigentümlich stark, aber nicht nur süß, sondern auch herb. Insofern liegt es nahe, eine Anspielung auch auf den Duft von Körpersäften zu vermuten.
Vier weitere Menschen – Xue Lin, Emilie Mazon, Jacopo Bellussi und Christopher Evans – stehen für die Außenwelt, die im Vergleich zur Feenwelt bodenständig und „normal“ erscheint. Außerdem tauchen in diesem Stück Stühle aus transparentem Plexiglas auf, die für Neumeier-Arbeiten bis hin zu seinem Ballettepos „Anna Karenina“ typisch geworden sind.
Doch das Abenteuer mit der Fee hält nicht. Revazov löst sich im Verlauf des Stücks von ihr. Und findet wie zufällig zur ersten Liebe zurück. Anna Laudere springt an ihm vorbei, als er ihr Handgelenk zu fassen bekommt und sie sich schnappt.
Sie lässt das willig zu; traumverloren bilden die beiden wieder ein Paar. Sie verkörpert das Mütterliche, als er seinen Kopf in ihren Schoß legt. Sie verzeiht. Eine Aura feinsinniger Melancholie umweht sie. Ob das Band zwischen beiden von Dauer sein wird, ist nicht entschieden. Aber: Es ist Liebe!
Damit löst sich auch ein Versprechen ein, das John Neumeier schon anlässlich seiner „Nocturnes“ gab: Es wird immer wieder Nacht, worin „die Sehnsucht nach dem Licht am stärksten ist.“ Und irgendwann wird auch der Sommer zurückkehren…
Gisela Sonnenburg
Ab Sonntag, 18. Oktober 2020, in der Hamburgischen Staatsoper