Geisterstunde für alle Gleich mehrere Pioniertaten gibt es vom Hamburg Ballett unter John Neumeier: mit dem Live-Stream „Ghost Light“ auf arte concert

"Ghost Light" von John Neumeier in überarbeiteter Version im Live-Stream auf arte concert

Geister bewahren Geheimnisse: Madoka Sugai in „Ghost Light“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett, zu sehen auf arte concert. Videostill: Gisela Sonnenburg

Kennerinnen und Kennern fiel fast die Kinnlade runter: Noch nie hat ein Starchoreograf wie John Neumeier eine Uraufführung nach nur wenigen Wochen so stark überarbeitet wie er „Ghost Light“, sein erstes „Ballett in Corona-Zeiten“. Und noch nie gönnte das Hamburg Ballett sich und seinen Fans einen wörtlich zu nehmenden Live-Stream, also eine ungeschnittene Live-Übertragung einer Aufführung ins Internet, wie sie seit gestern abend (und noch bis Montag) online zu sehen ist. Der swr und arte machen das möglich: Noch bis zum 12.10.20 gibt es auf arte concert die aktuelle Version von Neumeiers jüngstem Werk „Ghost Light“ zu sehen. Aufgezeichnet wurde eine Aufführung aus dem Festspielhaus Baden-Baden, wo das Hamburg Ballett wie seit vielen Jahren im Frühherbst gastiert. Es ist die erste Tournee der weltberühmten Truppe von der Alster seit Ausbruch der Corona-Pandemie. Die Aufzeichnung in der Fernsehregie von Myriam Hoyer zeigt dank sechs vorzüglich gelenkten Kameras und dank Hoyers bewährtem Sensorium für Neumeier-Werke interessante Perspektiven und Ausschnitte bezüglich des Bühnengeschehens – und der Starpianist David Fray verleiht dem Ballett über die Geister verstorbener Künstler mit stark intonierter Musik von Franz Schubert unüberhörbar den schönen Schauer von Gruselfilmen. Egal, ob man das Stück vorher schon in Hamburg gesehen hat oder nicht und egal, ob es als work in progress noch weiter verändert wird: Diese Online-Präsentation lohnt in jedem Fall, sogar mehrfach.

Zum Ablauf: Zunächst kommt Neumeier selbst auf die Bühne, bejubelt, umtost, fast ist es nicht notwendig, dass er sich vorstellt: „Ich bin John Neumeier.“ Aber dann hat es doch sehr viel Charme, dass er sein Stück erklärt, indem er zunächst den Titel und das Thema umreißt.

Die Lampe mit der nackigen Glühbirne, die auf der Bühne steht, ist das „Ghost Light“, das in amerikanischen Theatern brennt, solange es nachts ist und kein lebender Künstler die Bühne betreten soll, damit die Geister des Theaters ungestört spielen können. Denn das Theater ist eine Passion, die das irdische Leben möglicherweise überdauern könnte…

"Ghost Light" von John Neumeier in überarbeiteter Version im Live-Stream auf arte concert

John Neumeier spricht zum Publikum: Vor „Ghost Light“ im Festspielhaus Baden-Baden am 10.10.20. Videostill von arte concert: Gisela Sonnenburg

Für Neumeier, der ein sehr schönes Make-up trägt und dem dunkel tätowierte Augenbrauen vorzüglich stehen, erinnern sie doch an sein Bildnis als junger Mann, bekennt aber auch, dass es ihm ein starkes Bedürfnis war, nach dem Corona-bedingten Lockdown im Frühjahr 20 zu diesem Thema zu arbeiten: „Dieses Ballett musste gemacht werden“.

Das Bild von dauerhaft brennenden Ghost Lights in den Theatern in New York City ging ihm wohl nicht mehr aus dem Kopf. Und die Frustration der Ballettkünstler, zunächst nicht mehr gemeinsam trainieren zu dürfen, sich daheim weggesperrt und arrestiert zu fühlen, war auch für den Hamburger Ballettintendant Neumeier belastend.

Schließlich durfte das Hamburg Ballett ab Ende April wieder in kleinen Gruppen trainieren und proben – aber für den Pas de deux galt die Regel: Nur solche, die privat Lebensgefährten oder Ehepaare sind, dürfen so eng miteinander tanzen.

Das ist auch die oberste Regel im Ballett „Ghost Light“. Wenn man das nicht weiß, merkt man es allerdings nicht – denn die Paare, die hier auftreten, sind vielfältig und zahlreich.

Alle 55 Mitglieder vom Hamburg Ballett haben einen Auftritt hier, im Solo, in der Gruppe – mit Abständen zwischen den einzelnen Künstlern – oder eben als Verpartnerung.

John Neumeier aber lässt sich von solchen Regularien nicht verunsichern. Der Meisterchoreograf schöpft unverdrossen weiter, unterstützt von seinem ergebenen Ensemble – auch unter widrigen Bedingungen. Denn „the show must go on“, das sagt er zwar nicht, aber das ist natürlich ein gewichtiges Dauerargument nicht nur am Theater.

"Ghost Light" von John Neumeier in überarbeiteter Version im Live-Stream auf arte concert

Liebe in Corona-Zeiten: In der Isolation brechen alte Wunden auf, die Partnerschaft hilft bei der Aufarbeitung. Madoka Sugai und Nicolas Gläsmann als extrem starkes Paar in „Ghost Light“ von John Neumeier, online zu sehen auf arte concert. Videostill: Gisela Sonnenburg

Als Neumeier seine kurze Rede in tadellosem Französisch wiederholt, hat man den Verdacht, dass er dem Publikum an diesem Abend ganz besonders dienen möchte.

Und tatsächlich ist nach der Performance online der Satz zu lesen: „Danke für’s Zuschauen!“ – Das Apostroph ist hier allerdings nach den Rechtschreibregeln falsch, richtig muss es heißen: „Danke fürs Zuschauen!“ Aber man versteht und freut sich, dass die Aufmerksamkeit, die man dem Werk gespendet hat, bedankt wird.

Der letzte französische Satz, den Neumeier hier jetzt sagt, mutet stark symbolhaft an: „La vie est maintenant revenue.“ Das Leben ist jetzt zurückgekehrt.

So viel und nicht weniger bedeutet ihm sein „Ghost Light“: Es ist jetzt auch das lebendige Zeichen, dass Corona die Kunst nicht in die Knie zwingen kann.

"Ghost Light" von John Neumeier in überarbeiteter Version im Live-Stream auf arte concert

Geisterhafte Schönheit: Anna Laudere in „Ghost Light“ von John Neumeier im Festspielhaus Baden-Baden. Videostill von arte concert: Gisela Sonnenburg

In die Stille auf der Bühne tritt alsbald Anna Laudere hinein auf. Wie ein Geist aus einer anderen Zeit, aus einem anderen Stück, im Kostüm der „Kameliendame“, das Jürgen Rose für John Neumeier designt hat. Die Haar offen, das Gesicht gefasst, entrückt – man weiß nicht, zu wievielen Anteilen Laudere ein Geist ist oder eine Art Materialisierung des kollektiven Ballettgedächtnisses.

Schließlich kennen und lieben wir alle die Szene, die die „Kameliendame“ in diesem Kleid mit ihrem Armand vor dem großen Standspiegel tanzt. Zugleich aber ist es Anna, die Primaballerina – und sie spricht in somnambulen Ton ein paar Sätze auf lettisch, ihrer Muttersprache. Trotzdem erinnert sie an Alina Cojocaru, die auch schon die „Kameliendame“ beim Hamburg Ballett tanzte. Sie sieht ganz anders aus als Anna Laudere, dennoch erinnert der pointierte Bewegungsfluss auch an Cojocaru. Eine moderate Geistererscheinung?

Im Theater auf nächtlicher Bühne gibt es allerdings keinen Standspiegel. Und kein Kameliendamen-Double. Hier gibt es nur die Leere, die Schatten, die Lampe. Und wieder die Leere. Vorhin, als Neumeier sprach, fiel noch ein Paar Spitzenschuhe auf, malerisch unter dem Ghost Light drapiert.

Jetzt trägt die Ballerina Anna Laudere Spitzenschuhe, um darin mit ihrem Armand-Geist (Edvin Revazov) zu tanzen. Wie er sie anfasst, ihr von schräg hinten ins Gesicht fasst, um sie langsam zu sich zu drehen und anzuschauen, verrät eine große Vertrautheit. So vertraut war Armand mit Marguerite im Stück „Die Kameliendame“ eigentlich nie. Als Geister trauen sie sich etwas, was im Leben keinen Raum hatte.

Er nimmt ihre Hand, geht auf die Knie. Sie erbarmt sich seiner, lässt ihrer Zuneigung freien Lauf. Die Paartänze, die sie hier zeigen, sind voll exzentrischer Finesse, sie enthalten Hebungen und Drehungen, die die Ballerina und ihre fantastisch langen Beine sehr gut zur Geltung bringen. Aber immer wieder scheint die Frau dem Mann zu entwischen, ihn zu verlassen – und auch umgekehrt wird es im Verlauf des Abends Momente zu geben, in denen sie sich von ihm verlassen glaubt.

Ängste und ihre Bewältigung gehören zu Träumen dazu, auch bei den Geistern, wenn man John Neumeier glaubt.

"Ghost Light" von John Neumeier in überarbeiteter Version im Live-Stream auf arte concert

Anna Laudere und Edvin Revazov bei der Reprise ihres Pas de deux in „Ghost Light“ von John Neumeier. Zu sehen auf arte concert. Videostill: Gisela Sonnenburg

Letztlich bleiben die Paare hier aber Paare, auch wenn die Trennungen vollzogen werden: Die Partner, die gegangen sind, kehren zuverlässig stets zurück.

Es gibt aber auch die Singles. Christopher Evans ist so einer. Er steht hier stellvertretend für John Neumeier und jenen lebenden Menschen, der die Geister im Unterschied zu sich selbst wahrnimmt.

Er breitet die Arme aus, zum Zeichen seiner spirituellen Öffnung – und erst jetzt beginnt die Musik.

David Fray, jung, hochbegabt, selbstbewusst, erfolgreich, spielt hier in Baden-Baden die Musiken von Franz Schubert mit einem perlenden Klang, der ihnen die Wirkung göttlicher Worte verleiht.

Leise, ganz ruhig, beginnt diese Schubertiade.

Tief und innerlich empfunden.

Aleix Martínez, der überbegabte Ballerino, tritt auf – eine komplizierte Balance im Passé plié macht einen hypermodernen Menschen aus ihm.

"Ghost Light" von John Neumeier in überarbeiteter Version im Live-Stream auf arte concert

Atte Kilpinen (in blauem Shirt) und Aleix Martínez in „Ghost Light“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Videostill von arte concert: Gisela Sonnenburg

Atte Kilpinen verrenkt sich ebenfalls in sehr modernen Linien. Er hatte bei der Uraufführung des Stücks die sagenhafte Glanzleistung vollbracht, den stark beschäftigten Part des verletzten Alexandr Trusch innerhalb kurzer Zeit zu übernehmen und bravourös zu interpretieren. Jetzt ist seine Rolle stark reduziert, und man fragt sich, warum – aber so ist das im Leben, als Anfänger zahlt man oft drauf. Kopf hoch!

Ein seltsames Schicksal hat auch das Solo von Marcelino Libao. Bei der Uraufführung tanzte er es zu Beginn und in der zweiten Hälfte des Stücks, es war dynamisch, spritzig, voller Witz. Jetzt ist es beim ersten Mal deutlich verlängert und stark überarbeitet worden, viele Details fehlen, andere kamen hinzu – aber die spontan wirkende Spritzigkeit ist verschwunden. Auch er wurde Geist, sozusagen. Und obwohl er prägnante Posen für seine Figur hat, hält er keine auch nur eine Sekunde, sondern befindet sich ständig im Fluss. Dadurch verliert er an Spannung, wird nur schwer fasslich, trotz präziser Sprünge und Armbewegungen.

Ricardo Urbina hat jetzt hingegen einen kurzen, aber fulminanten Auftritt, damit begeistert er in nur wenigen Sekunden mit rasantem Schwung nahe der Rampe. Unvergesslich gut! Wow! Und schon ist er weg – geisterhaft entschwunden. Man trauert ihm nach…

Zart und akkurat meldet sich jetzt jedoch Emilie Mazon. Sie tanzt, dass sie tanzen will – und hegt dabei keinerlei Argwohn mehr gegen die Situation auf der Bühne.

"Ghost Light" von John Neumeier in überarbeiteter Version im Live-Stream auf arte concert

Die Geisterstunde ermöglicht auch Konfrontationen: Félix Paquet im Holzfällerhemd aus der „Glasmenagerie“ und Christopher Evans in „Ghost Light“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Zu sehen auf arte concert in einer Aufzeichnung aus dem Festspielhaus Baden-Baden. Videostill: Gisela Sonnenburg

Dabei ist diese absurd genug: Mehrer Ensemblemitglieder tummeln sich autistisch – im Sinne von nur-mit-sich-selbst beschäftigt – im Bühnenraum, verfolgen ihren eigenen Weg, mit ihrem eigenen individuellen Tanzcode, ihrer eigenen Körpersprache. Sie kommen und gehen, aber blieben sie länger, wäre eine Kommunikation wohl unausweichlich.

Zeitweise mutet das an wie ein Gebet oder auch wie eine Vielzahl simultan getätigter Gebete.

Patricia Friza, die nach einer guten halben Stunde auftaucht, ist die Einzige, die hier munter drauflos hüpft. Ist sie wirklich ein Geist? Oder jemand, der gegen das Gesetz des Nichtbetretens der Bühne, solange das Ghost Light brennt, verstößt? Sie hat deutlich weniger jetzt ums Ghost Light herum zu tanzen als noch bei der Premiere. Was der Sache keineswegs schadet.

Xue Lin und Ana Torrequebrada zelebrieren hingegen fraglos geisterhaft zarte Frauensoli, Xue eher klassizistisch, Ana betont modern mit 70er-Jahre-Anmutung.

Man denkt an Neumeier-Programme wie die „Matthäus-Passion“ oder „Wendungen“. Und manchmal an „Um Mitternacht“ von 2013, das ab dem 18. Oktober 20 in Hamburg als Tüpfelchen auf dem „i“ im Programm „Ballette für Klavier und Stimme“ gezeigt werden wird. Eine exquisite Partie darin wurde von Silvia Azzoni kreiert.

Auftritt Silvia Azzoni!

"Ghost Light" von John Neumeier in überarbeiteter Version im Live-Stream auf arte concert

„Ghost Light“ von John Neumeier mit dem Hamburg Ballett: Silvia Azzoni in Silbergraublau und Alexandre Riabko im „Nijinsky“-Anzug. Die Chemie zwischen ihnen stimmt, und die Tiefe ihrer Beziehung wird jetzt im Pas de deux deutlich. Ergreifend. Videostill von arte concert: Gisela Sonnenburg

Da ist sie, auch in der Geisterstunde präsent, und endlich ist sie künstlerisch wieder ganz bei sich selbst. Sie hat das rosafarbene Trikot der Premiere gegen einen silbergraublauen Leotard getauscht – der ihr vorzüglich steht – und verströmt jene souveräne, aber verhaltene Frauenpower, für die man sie so sehr liebt.

Das Kostüm der Sylphide als Marie Taglioni braucht sie jetzt nicht mehr, und es ist kein Verlust, dass nur Olivia Betteridge zu Beginn mit diesem altehrwürdigen Fummel einen Auftritt hat. Zur Partie der Silvia Azzoni hier passt soviel Nostalgie eher nicht.

Bei der Premiere war sie für mein Empfinden zu starr, jetzt aber tauscht sie mit Alexandre Riabko, ihrem Partner in jeder Hinsicht, sichtlich Gedanken, Gefühle, Energien.

Er steht im Kostüm seiner Glanzpartie „Nijinsky“ da – und hat, im Gegenteil zu Silvia, einen Gang zurückgeschaltet, was zur Geisterstunde vorzüglich passt. Das energetische Gleichgewicht zwischen den beiden ist zu bewundern!

Sie schaffen es, dass man nach einer Dreiviertelstunde beim „Ghost Light“ auch als Zuschauer zu schweben scheint, innerlich, in Gedanken – man entfernt sich von schnöden Problemen und banalen Situationen und erkennt, wie wichtig innere Stärke und Zusammenhalt im Leben sind.

"Ghost Light" von John Neumeier in überarbeiteter Version im Live-Stream auf arte concert

Jetzt überzeugen sie mit ihrer Liebe: Mathias Oberlin und David Rodriguez beim Flachlegen, der logischen Folge einer erotischen Partnerschaft. Wunderschön zu sehen im Online-Stream von „Ghost Light“ von John Neumeier mit dem Hamburg Ballett auf arte concert (arte.tv). Videostill: Gisela Sonnenburg

Auch das kommende Paar hat seit der Premiere nur gewonnen: Mathias Oberlin und David Rodriguez haben ihren Beziehungstanz entwickelt, und wo einst nur Klammern war, ist jetzt eine seriöse Sache daraus geworden, denn sie geben einander Halt. Statt sich nur am anderen festzuhalten.

Auch die Posen im Stehen sind glaubwürdig geworden, und wenn Oberlin seinen Schatz dann flach legt, um mit ihm den Liebesdienst vorzubereiten, kann man mitfühlen: Liebe ist ein Trost in schwierigen Zeiten, fraglos.

Und für Tänzerinnen und Tänzer, die im festen Engagement stehen und ihren beruflichen Sinn darin sehen, möglichst oft auf die große Bühne eines Opernhauses zu kommen, war und ist das Corona-Zeitalter eine herbe Herausforderung. Sie dürfen dieses nicht und das nicht, sie müssen sich nach ballettfremden Regeln richten statt nach denen, die sie seit ihrer Kindheit beherzigt und verinnerlicht haben. Und sie wissen nicht, wie es weitergehen wird: Trotz aller selbst gelebten Disziplin kann es sein, dass Menschen, die bedenkenlos ohne Abstände und alkoholisiert Feiern veranstalten für einen drohenden Lockdown sorgen.

"Ghost Light" von John Neumeier in überarbeiteter Version im Live-Stream auf arte concert

Halt suchen statt Klammern: Die feinen Unterschiede machen Mathias Oberlin und David Rodriguez zu einem tollen Tänzerteam. So sieht Liebe aus! Zu sehen online auf arte concert in „Ghost Light“ von John Neumeier mit dem Hamburg Ballett. Videostill: Gisela Sonnenburg

Tänzer sind sonst nie abhängig von dem, was irgendwelche unbedachten Menschen privat oder auch auf der Straße so veranstalten!

Jetzt gibt es diese Diktatur der Ahnungslosen, die glauben, wenn sie sich über die Schutzmaßnahmen, die der Gesellschaft nützen, hinwegsetzen, seien sie die Größten.

Da kann man schon grießgrämig werden.

Später tanzt Aleix Martínez zwei Mal eine Passage, in der er von rechts nach links die Bühne überquert, mit vornübergebeugten Oberkörper, zaghaft und tattrig, und er wirkt wie ein alter spanischer Bauer auf einem Gemälde von Goya.

Das Schicksal zwingt ihn zu Boden, aber er rappelt sich auf, auf höchst bemerkenswerte Weise, nämlich im Rückwärtsgang und mit einem Abrollen über die Zehenspitzen.

Schade nur, dass Martínez in eine Haltung verfällt, die ihm vor rund zehn Jahren den Beginn seiner Tänzerkarriere erschwerte: Er neigt dazu, nur für sich zu tanzen und den Blickkontakt mit den anderen völlig zu vermeiden. Das passt hier zwar in gewisser Hinsicht, geht es doch um die gelebte Erfahrung der Isolation.

Aber wenn ständig andere Menschen mit auf der Bühne sind, so ist ein Mindestmaß an gegenseitiger Wahrnehmung einfach nur plausibel. Irgendwann sollte der Blick auch mal hoch gehen, vielleicht wäre ein Erstaunen, ein Entsetzen oder sogar Freude die Folge davon.

Zumal die Verliebten ihre gegenseitige „Rettung“ sichtlich rückhaltlos zelebrieren. Azzoni und Riabko, Oberlin und Rodriguez tanzen gleichzeitig solange miteinander, bis es dunkler und dunkler wird – auch ein Geisterlicht hat hier verschiedene optische Temperaturen.

"Ghost Light" von John Neumeier in überarbeiteter Version im Live-Stream auf arte concert

Jacopo Bellussi und Hélène Bouchet: Spannende Anziehung und Abstoßung zwischen zwei Menschen in „Ghost Light“ von John. Neumeier, zu sehen online auf arte concert. Videostill: Gisela Sonnenburg

Das nächste Paar tritt auf, und es ist eine viel kompliziertere Beziehung, die zu sehen ist:

Jacopo Bellussi und Hélène Bouchet finden sich mal und mal nicht, haben sich ganz fest im Blick und verlieren sich dann wieder. Martínez kommt dazu und ist gleich die Attraktion – und auch Christopher Evans (der Einzige hier, der womöglich kein Geist ist) stört die Zweierbande, löst sie auf, hält dafür ein solides Gleichgewicht mit den anderen Personen.

Hinzu kommt, dass sie sich als Schattensilhouetten vervielfältigen. Die laterna magica scheint hier am Werk zu sein – als gäbe es Geister von Geistern. Wer weiß, in wie viele Einzelteile sich die Seele auflösen und neu zusammensetzen kann…

Mit einem Sprung rückwärts zeigt Jacopo Bellussi den Charakter seiner Figur: höflich, besonnen, brillant. Wackelfrei landet er auf einem Bein im Plié, das andere im Passé gehalten. Ein wahrer Kavalier, eigentlich zu gut für diese Welt aus Rabauken und Schelmen!

Zwei dieser Raufbolde, die wie aus dem Leben backstage gegriffen sind, tauchen später noch auf: Karen Azatyan als kleiner Stinkstiebel und Atte Kilpinen als williger Duellant. Sie kommen tändelnd zu zweit auf die Bühne, bis Azatyan dem anderen mal eben mit voller Absicht zu nah kommt und einen kleinen Fußtritt in Bodennähe verpasst. Huch!

Alsbald kämpfen die beiden miteinander, wie Jungs, die ihre überschüssigen Kräfte loswerden wollen. Eine seltene Szene im Ballett!

"Ghost Light" von John Neumeier in überarbeiteter Version im Live-Stream auf arte concert

Madoka Sugai und Nicolas Gläsmann vom Hamburg Ballett beim Liebestanz – die Beziehung bekommt auch auf der Bühne eine aufregende Kontur. Bravo! Videostill von „Ghost Light“ von John Neumeier via arte concert: Gisela Sonnenburg

Zuvor aber lösen noch Madoka Sugai und Nicolas Gläsmann ihre Probleme, indem sie sich in schier endlos hohen Hebungen und auch in synchron getanzten Bodenposen an ihre Liebe erinnern.

Bei der Premiere schien mir ihr Pas de deux noch unausgeglichen, jetzt aber sind die Stärken ihrer Positionen deutlich. Den Ton und die Richtung gibt oft die Dame an, aber der Mann ist derjenige, der sie hält und ausführt. Wunderschön.

Mit purzelnden, akrobatischen Bodenbewegungen zeigt Gläsmann, dass er mehr als nur geerdet ist. Tänzerisch qualifiziert er sich hier vielleicht sogar als neuer Puck für „Ein Sommernachtstraum“.

Sein Fall am Endpunkt des Pas de deux bedeutet vielleicht, dass er zuerst aus dem Leben ging. Es sind ja Geister.

Aber dass sie den Zeigefinger vor den Mund hebt und Stillschweigen wahrt – und es auch von ihm verlangte – macht nachdenklich. Ein eher finsteres Geheimnis ist hier offenbar zu wahren. Und nur die Liebe, die mit Freundschaft durchtränkt ist, kann hier helfen!

Die Musik verliert nach diesem Paar den Schmelz der utopischen Liebe. Sie wird massiv dunkel und melodramatisch, David Fray katapultiert einen akustisch in eine Geisterbahn.

"Ghost Light" von John Neumeier in überarbeiteter Version im Live-Stream auf arte concert

David Fray und das Hamburg Ballett beim Schlussapplaus im Festspielhaus Baden-Baden am 10.10.20, nach dem Gastspiel mit „Ghost Light“ von John Neumeier. Videostill von arte concert: Gisela Sonnenburg

Zeit für das dauerhaft schönste Team im Hamburg Ballett, für Anna Laudere und Edvin Revazov. Ihre Reminiszenz an die „Kameliendame“ ist jetzt obsolet, dafür begegnen sie sich auf höchst modernem Niveau. Er vollführt wie nebenbei zwei Mal einen Herrenspagat aus dem Stand, sie lässt sich von ihm führen und verführen, doch dann geht sie unmerklich weg – bis er sie mit Elan zu sich zurückholt.

Ähnlich wie in „Um Mitternacht“ ist es eine Beziehung zwischen ihnen, die aus ständigem Kommen und Gehen besteht. Langweilig ist es mit den beiden eben nie!

Die offenen Arme von Christopher Evans verkünden eine Zäsur. Die Musik schweigt. Das Schattenspiel, das jetzt folgt, ist neu, meiner Erinnerung an die Premiere nach – aber das violett gefärbte, tiefblaue Licht, in das die Bühne nun getaucht ist, kann man getrost als „Spätwerkblau“ in Neumeiers Arbeiten bezeichnen, im Gegensatz zum früheren, knalligen „Wendungen“-Blau, das eher dem der blauen Stunde im Herbst entspricht.

"Ghost Light" von John Neumeier in überarbeiteter Version im Live-Stream auf arte concert

Christopher Evans und das „Ghost Light“ – im gleichnamigen Ballett von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Zu sehen auf arte concert! Videostill: Gisela Sonnenburg

Félix Paquet, der rätselhafterweise in diesem Stück relativ wenig zu tanzen hat, trifft jetzt auf Christopher Evans. Man hört es beinahe brodeln, wenn die Musik wieder beginnt!

Sie ringen miteinander und umeinander, ohne sich zu berühren – sie tanzen sogar synchron!

Auch das ist möglich: Synchrontanz eben nicht als Harmonie von vornherein zu zeigen, sondern als Betonung der Unterschiede von zwei Personen, bei denen die gleichen Bewegungen ganz anders wirken.

Die beiden unterschiedlichen Temperamente stoßen hier also aneinander, verschmelzen aber auch miteinander zu einer durchaus formidablen Beziehung. Schön, wenn zwei Menschen sich wirklich was zu sagen haben und individuelle Unterschiede dabei nicht mal stören!

Tanz kann das ohne Worte zeigen, und auch die Corps-de-ballet-Paare, die hier ab und an fulminante Kombinationen tanzen, belegen das.

Yaiza Coll und Marc Jubete, Georgina Hills und Eliot Worrell, Hayley Page und Borja Bermudez sowie Yun-Su Park und Lizhong Wang bilden typische Neumeier-Paare mit exquisiten Paartanzlinien und schwungvollen, an Gesellschaftstanz erinnernden Posen.

Der Wechsel wird von Gegensätzen bestimmt.

Aleix Martínez tanzt sein „Bauern-Solo“, am Ende steht er zappelnd an der Wand. Einsamkeit ist kein schönes Gefühl.

"Ghost Light" von John Neumeier in überarbeiteter Version im Live-Stream auf arte concert

Emilie Mazon, hier mit Nussknacker im Arm, tanzt in verschiedenen Kostümen in „Ghost Light“ von John Neumeier – und schließlich hat sie soviel Jazz in den Beinen, dass man sie sich gut als lebendigsten Geist von allen vorstellen kann. Wow. Zu sehen auf arte concert! Videostill: Gisela Sonnenburg

Aber dann taucht Emilie Mazon auf, tanzt für sich vorn rechts in der Rampenecke. Sie steht nah beim Publikum und doch ist sie ganz fern, ganz für sich, ganz erwartungsfroh, hoffend, dass sie Dinge in Bewegung bringt.

Und sie hat Beine wie eine ganze Jazz-Sinfonie! So lässig und doch gestreckt, so weiblich und doch kontrolliert! Hier kommt die Zukunft, mit diesen Beinen lässt sie sich beschreiten. Fabelhaft!

Kürzlich stand sie noch fast hilflos mit dem Nussknacker im Arm auf der Bühne, als Geist der kleinen „Marie“, die vom Tanzen träumt. Jetzt aber ist eine ganze Femme fatale aus ihr geworden, und nichts an ihr wirkt künstlich oder aufgesetzt.

Das motiviert auch Andere.

Jacopo Bellussi und Aleix Martínez nähern sich einander an. Endlich nimmt auch Martínez etwas an. Ein schöner kurzer Moment, zu kurz nur – wie es auch im realen Leben oft so ist.

Alexandre Riabko schiebt derweil „seine“ Silvia Azzoni, die ihm quer mit gestrecktem Leib in den Armen liegt, über die Bühne. Erotisch und galant sieht das aus. Ihre Füße bleiben derweil hellwach, probieren aus, wie es von dieser Pose aus gehen ließe.

Noch einmal taucht Anna Laudere im „Kameliendamen“-Kostüm auf.

Noch einmal dürfen einige Tänzer ihre Soli repetieren.

Noch einmal tanzt Christopher Evans, im Stehen fast, die Arme und der Oberkörper erinnern sich und sehnen sich nach noch mehr Leben.

"Ghost Light" von John Neumeier in überarbeiteter Version im Live-Stream auf arte concert

Christopher Evans ist die zentrale Gestalt in „Ghost Light“ von John Neumeier, vielleicht sogar ein Alter Ego des Meisterchoreografen. So zu sehen online, auf arte concert. Videostill: Gisela Sonnenburg

Aber er bleibt ein Gefangener der Geisterwelt, das „Ghost Light“ zieht ihn immer näher zu sich, magisch, wie ein Zauberlicht.

Ihm bleibt nur, den Stuhl, der unter der Lampe steht, zu nutzen.

Und dann kommen sie zu ihm, die Geister, die er vielleicht niemals selbst gerufen hat, die ihm jetzt aber die besten Freunde geworden sind.

Ein Künstler und seine Geschöpfe, möchte man meinen, werden hier die Nacht verbringen: allein und doch niemals ganz allein.

"Ghost Light" von John Neumeier in überarbeiteter Version im Live-Stream auf arte concert

John Neumeier und das Hamburg Ballett beim Applaus nach „Ghost Light“ am 10.10.20 im Festspielhaus Baden-Baden. Vom Publikum geliebt und bewundert! Videostill von arte concert: Gisela Sonnenburg

Die Ovationen beim Applaus sollte man sich nicht entgehen lassen! Denn auch und gerade in Corona-Zeiten vermag Ballett alles mitzuteilen, was wesentlich ist.

Großer Dank an alle Beteiligten – und an den swr und arte, die dieses fast zweistündige Erlebnis online ermöglichen.
Gisela Sonnenburg

 P.S. Auf arte concert läuft im Anschluss automatisch „Die Neunte von Maurice Béjart“, ein ebenfalls sehenswertes, überraschend modernes Ballett, zumal Béjart und Neumeier bis zu Béjarts Tod befreundet waren. Zu einem Portrait von Béjart geht es bitte hier.

 www.arte.tv/de/arte-concert/

 www.hamburgballett.de

Auch Journalismus ist harte Arbeit: Unterstützen Sie bitte das Ballett-Journal! Spenden Sie! Oder inserieren Sie! Im Impressum finden Sie die Kontakt- und Mediadaten. Und: Kein Medium in Deutschland widmet sich so stark dem Ballett und bestimmten Werten wie das Ballett-Journal! Sagen Sie dazu nicht Nein. Honorieren Sie das! Und freuen Sie sich über all die Beiträge, die Sie hier im Ballett-Journal finden. Es sind schon rund 700 Beiträge und sie entstanden ohne Subventionen oder Fördergeld. Wir danken Ihnen darum von Herzen für eine Spende – im Gegenzug finden Sie hier reichlich Informationen und Hilfen bei der Meinungsbildung. Überlegen Sie mal: Für Bücher und Zeitschriften zahlen Sie auch, und für so Vieles, das es vielleicht nicht immer wert ist. Hier wissen Sie, was Sie für Ihr Geld bekommen: eine nachhaltige, beispiellos ausführliche Ballett-Berichterstattung.

 

 

ballett journal