Der geborene Verführer Eine Nacht mit Maurice Béjart: arte zeigt am 8. April ab 23 Uhr zwei Beiträge über den großen Choreografen. Vor allem das Portrait ist sehenswert – und später auch online

Maurice Béjart lockt zu arte

Maurice Béjart – ein Verführer zum Tanz sowohl für Ballettfans als auch für das große Publikum für Populäres. Die Doku „Maurice Béjart – Ein Leben für den Tanz“ erklärt seine Welt. Videostill aus der Filmdoku: Gisela Sonnenburg

Er steht allein im Raum – und tanzt. Sein Gesicht, sein Körper verbreiten dabei eine angenehme, aber intensive, auch dramatische Spannung. Um ihn herum wird der Ballettsaal zum Kosmos, er selbst zum Schöpfer per se. Mit dieser einprägsamen Sentenz in Schwarzweiß wird Maurice Béjart (1927 – 2007) im filmischen Portrait „Maurice Béjart – Ein Leben für den Tanz“ von Henri de Gerlache und Jean de Garrigues vorgestellt. Den beiden Filmemachern ist eine außerordentliche Arbeit gelungen, dem Werk des choreografischen Titan Béjart durchaus angemessen: klug, leidenschaftlich, aufhellend. Über eine Stunde hält uns der bedeutende Franzose als Person solchermaßen fernsehtechnisch in Atem. Béjarts Raubtiergang, seine Stimme, seine Intellektualität, seine Fantasien, sein Umgang mit Tänzern stellen sich plastisch dar. Man lernt, sein Werk zu verstehen – und ihn selbst. Dann folgt, ebenfalls eine gute Stunde lang, sein 1964 entstandenes, 2014 mit dem Béjart Ballet Lausanne und dem Tokyo Ballet aufwändig aufgezeichnetes Stück „La Neuvième“, also die vertanzte Neunte Sinfonie von Ludwig van Beethoven. Ein Schmankerl auch für Musikkenner: Zubin Mehta dirigiert dazu live das Israel Philharmonic Orchestra, und zwar mit bewährter, magisch-zarter Hand.

Klassik und Moderne, aber auch die Kulturen der Kontinente Asien, Europa und Afrika verschmelzen in diesem Werk. Kraft und Anmut des Tanzes folgen der Musik wie auch der Dichtung, sodass ein Gesamtkunstwerk entsteht. Der Prolog, von Gil Roman, seit 2007 Direktor vom Béjart Ballet Lausanne, auf französisch gelesen und deutsch untertitelt, besteht aus Friedrich Nietzsches Hoffnungen, die er in den Tanz setzte: „Der Mensch ist nicht mehr ein Künstler, er ist ein Kunstwerk geworden.“ Wie die Troubadoure solle man tanzen, sich dem Dionysischen, dem Rauschhaften stetig nähernd.

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Sie frönen mit Lust der Versöhnung der Menschen: Béjart-Tänzer in „La Neuvième“. Videostill von der Aufzeichnung: Gisela Sonnenburg

In rotorangenen, weißen, schließlich gelben Kostümen – die Jungs oben ohne, die Mädchen in schlichten Trikots – wird die Idee des Friedens, der Versöhnung, beschworen und betanzt. Soli vor allem von jungen Männern, aber auch fast klassisch anmutende Pas de deux sowie raffinierte Gruppentänze reißen mit. Sie alle praktizieren eine Vereinigung der Kulturen und Nationen.

Wenn ein Paar auftanzt, dann scheinen sie hier Adam und Eva im Multikulti-Paradies zu sein.

Schließlich heißt es, mit Friedrich Schillers „Ode an die Freude“: „Diesen Kuss der ganzen Welt!“ Und eine afrikanische Tänzerin dreht sich in der Bühnenmitte auf dem Platz, die Arme erhoben wie eine antike Tempeltänzerin, während um sie herum das Corps in vielen Kreisen – wie lebende Baumringe – herumläuft. Von oben (die Kamera steht dann in der Vogelperspektive) sieht es aus, als handle es sich um eine tanzende Sonne.

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Dass der Boden, hier das einzige Bühnenbild, das orangefarbene Spielfeld eines Basketball-Spiels nachahmt, hat Hintersinn: Das Leben, ein Spiel, als ein spielerischer Wettkampf, als antagonistischer Kampf stets zweier Parteien und – gegensätzlicher – Prinzipien ist gemeint. Das entspricht der Dichotomie, die Nietzsche in den Dingen sah: Dionysos contra Apoll lautete sein Kulturkampf-Credo, das stets hegelianisch-synthetisch wie bei Béjart mit der tanzenden Sonne enden sollte.

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Die schönen Jungs beim Schlussapplaus nach „La Neuvième“ von Maurice Béjart: euphorisierend. Videostill aus der Aufzeichnung: Gisela Sonnenburg

Doch so erregend dieser abgefilmte Tanz auch sein mag – noch viel ansprechender ist das Portrait von Maurice Béjart, das erst im letzten Jahr, also 2017, entstand. Wohl dosierte Aufnahmen vom Portraitierten selbst, dazu aufrichtige Zeitzeugen (vor allem seine Tänzerinnen und Tänzer) und ein kompetenter Off-Kommentar (von einer sanften Frauenstimme eingesprochen) bilden ein konzises Konglomerat, das den 2007 verstorbenen bedeutenden Franzosen mit Fakten und Bildern wieder auferstehen lässt.

Zwar hätte man sich einen originelleren Untertitel gewünscht, etwa den wörtlich übersetzten, den der Film im französischen Original hat: „Die Seele des Tanzes“. Aber „Maurice Béjart – Ein Leben für den Tanz“ erfüllt auch mit der Allerweltsfloskel im Titel in analytischer Hinsicht alle Anforderungen, die man an ein Filmportrait nur haben kann.

Maurice Béjart lockt zu arte

Die hübschen Damen nach „La Neuvième“ beim Verbeugen. Welch natürliche Grazie! Videostill aus der Aufzeichnung: Gisela Sonnenburg

Béjarts Körpersprache habe ein Jahrhundert geprägt, resümiert der Film gleich zu Beginn – und beweist das mit Aufnahmen, die unter die Haut gehen.

Der Meister im Studio, bei Proben – auch noch kurz vor seinem Tod, obwohl er in seinen letzten beiden Jahren schon viel vergaß und, schwer krank, stetig abbaute.

Aber dann sehen wir ihn als Kind. Maurice Berger wurde am ersten Tag des Jahres 1927 in Marseille geboren. Seine charmante Mutter, deren Nase er erbte, starb früh, er war erst sieben Jahre alt. Aber die Großfamilie fing ihn auf: mit einer liebevollen Großmutter und zahlreichen kindlichen Cousins und Cousinen. Sein Vater war der angesehene Philosoph Gaston Berger. Was zu einer kunstaffinen, weltoffenen Kindheit führte.

Und schon mit acht Jahren führt Maurice Regie, bei einer Inszenierung von Goethes „Faust“, in der seine kindlichen Verwandten die Hauptrollen spielen. Er konnte das sehr früh: Menschen zu motivieren, unter seiner Anleitung künstlerisch-spielerisch zu agieren.

Zum Tanz kam er – wie so viele in Frankreich – über den Rat eines Arztes. Der kleine Maurice schien Wachstumsstörungen zu haben, zumal es in jenen Zeiten zu wenig zum Essen gab. Das Ballett mit seinen geradlinigen und energetisch-runden Energieflüssen schuf hier Ausgleich.

Es stellte sich heraus, dass der Tanz viel stärker als Sport seinem starken Bewegungsdrang entsprach.

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Gaston Berger hatte schon auch Tänzerisches an sich, wie hier auf diesem familiären Foto. Nicht immer war er der Philosoph mit Krawatte. Videostill von der Filmdoku: Gisela Sonnenburg

Als er seiner Familie mitteilt, dass er Tänzer werden wolle, löst das dennoch fast einen familieninternen Skandal aus. Aber man lässt ihn gewähren, niemand behindert ihn – der einzige Sohn von Gaston Berger erhält natürlich Unterstützung. Allerdings nennt er sich, um sich von seinem Vater abzuheben, nach der Frau von Molière, die einer Theaterdynastie entstammte: Béjart.

Er trainiert an der Marseiller Oper, nimmt später in Paris bei bedeutenden Lehrern wie Léo Staats und Nora Kiss Privatunterricht. Diese Sentenzen fehlen leider im Film. Aber dann:

Mit nur 14 Jahren debütiert Béjart in Paris, neben Roland Petit. Aber er wird von den Ballettmeistern nur wenig geliebt. Vielmehr putzt man ihn, weil seine Beine alles andere als hoch reichen, gern als vermeintlich schlechtesten Tänzer der Truppe herunter, was ihn gegen Kritik von außen in gewisser Weise auch abhärtete.

Tatsächlich war Béjart ein vorzüglicher Tänzer, was die Intensität, die Körperspannung und Liniensicherheit angeht. Technisch hatte er indes nur wenig Brillanz zu bieten – das Angeberisch-Großartige, das schon damals in weiten Teilen das klassische Ballett prägte, lag ihm viel weniger als sein eigener, bald entwickelter klassisch-moderner Stil.

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Outdoor-Vorstellungen interessierten ihn: Maurice Béjart bei der Probe unter glühender Sonne. Videostill aus der Filmdoku: Gisela Sonnenburg

Er tanzt in wechselnden Compagnien, unter anderem bei Roland Petit, beginnt dann zu Beginn der 50er Jahre in Stockholm, beim Cullberg Balletten, zu choreografieren. Er choreografiert für einen schwedischen „Feuervogel“-Film (was in der Doku übrigens fehlt), aber er braucht auf lange Sicht eine eigene kleine Truppe. Seine Gage von der Filmarbeit investiert er darum in die Gründung eines kleinen Ensembles, er hat in Paris und Frankreich damit aber zunächst gen Null tendierenden Erfolg.

Bezeichnenderweise (was die Doku hier nicht weiß) nennt Béjart sein Mini-Ensemble „Ballets de l’ Étoile“, das „Sternenballett“, was an den für Béjart unerreichbaren Titel „Étoile“ („Stern“) für die herausragenden Ersten Solisten in Paris erinnert. Er litt nämlich sehr unter seinen Misserfolgen an der Pariser Oper.

Béjart zieht mit seinen Tänzern über Land, und in Spanien stellt sich endlich großer Applaus ein: für „Orphée“, ein Ballett nach der gleichnamigen antiken Sage im exaltiert-klassizistischen, expressiv-existenzialistischen Stil. Ausgerechnet die spanischen Bauern lassen sich völlig euphorisieren von dieser frühen, noch experimentellen Arbeit Béjarts, und seine Truppe tritt in provinziellen Stierkampfarenen auf einem Podest auf, zwischen zwei Stierkämpfen. Man jubelte ihm zu.

„Ich war den Impresarios zu intellektuell“, sagte Maurice, aber die ganz einfachen Leute verstanden seine symbolistische Körpersprache, paradoxerweise. Und trotz teils atonaler, ziemlich anstrengender Musik wurde „Orphée“ ein richtiger Kassenmagnet.

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„Roméo et Juliette“ wurde bei Maurice Béjart von einer historisierenden Tragödie zu einem zeitlos-modernen Drama. Videostill aus dem Filmportrait: Gisela Sonnenburg

1955 – mit 28 Jahren – kreiert Béjart die „Symphonie pour un homme seul“ („Symphonie für einen einsamen Mann“), wieder zur konkreten Musik eines befreundeten Komponisten. Ein leidender Mann, von Béjart selbst getanzt, wird hierin von Frauen in Spitzenschuhen bedrängt und umzingelt. Er kann nur durch ein Seil, das in der Bühnenmitte aus dem Schnürboden hängt, in den Tod durch Erhängen entfliehen.

Es handelt sich um eine Art Geschlechterkampf, auch um das Leiden an der Illegalität von Homosexualität. Da das Stück die Ängste vor starken Frauen auf den Punkt bringt (was auch dem Weltbild vieler heterosexueller Männer entspricht), findet das expressive Leiden des „homme seul“ viel Anklang.

Der „homme“ trägt übrigens schon das typische Béjart-Männer-Outfit: oben ohne, dazu Leggings.

Es wird Béjarts Durchbruch. Nach immerhin 50 frei entstandenen Choreografien folgen jetzt auch Auftragsarbeiten an kleineren Theatern wie Essen und Lüttich (was in der Doku fehlt). Und dann kommt ein ernst zu nehmendes Angebot mit Zukunft: Maurice soll in Brüssel den „Sacre du Printemps“ choreografieren. Innerhalb von drei Wochen entstand das noch heute legendäre Werk, in dem die Pferdeschwänze der Frauen („Die Frauen sind wie Algen!“) wild wippen und die Männer („Sie kämpfen wie Hirsche, Stirn an Stirn!“) mit entblößter Brust am Boden auf und ab springen wie die Makaken.

Der Frühling als Zeit des großen Sexus.

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Eine typische Pose der Mädchen in Béjarts „Sacre du Printemps“. Expressiv! Videostill aus der Filmdoku: Gisela Sonnenburg

„Für mich ist Erotik eine Form des Lebens“, sagt der unbändige Choreograf dazu massenwirksam: „Ohne Erotik würde die Welt still stehen.“ Er ist der geborene Verführer und im selben Moment auch ein Aufklärer – und endlich erhält er in Brüssel eine Chance, das langfristig künstlerisch auszuleben. Denn man bietet ihm an, eine dem Théatre de la Monnaie angegliederte, speziell für ihn gegründete Ballett-Compagnie zu leiten. Béjart und seine Tänzer können ihr Glück kaum fassen: Endlich zahlt sich die jahrelange Hungerkunst aus, und sogar die Spitzenschuhe der Damen werden bezahlt.

Er nennt seine Truppe „Ballet du XXe Siècle“, das „Ballett des Zwanzigsten Jahrhunderts“. Sein Talent entfaltet sich, er bewältigt klassische wie avantgardistische Stoffe, kreiert pro Saison je ein Halbjahr in Brüssel und den Rest des Jahres an anderen internationalen Theatern.

Der Rest ist Ballettgeschichte. Stücke wie „Roméo et Juliette“, „Bhakti“ und „Erotica“ entstehen. Kontinuierlich stößt Béjart Ballette aus, seine späte, aber faszinierende Zusammenarbeit mit Sylvie Guillem für ein „Sissi“-Projekt fehlt hier im Film aber leider. Dafür werden ältere Wegbegleiterinnen und noch junge Tänzer interviewt, die ihn gut kannten und mit ihm arbeiteten. Darunter Brigitte Lefèvre, einst Ballettdirektorin an der Pariser Opéra.

Was die Menschen über ihn sagen, könnte man glatt zu einer kommentarlosen Collage fügen:

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Brigitte Lefèvre – passenderweise in einer Tunika – erinnert sich an Maurice Béjart. Videostill aus der FIlmdoku: Gisela Sonnenburg

„Er konnte Gedanken lesen“; „Der Blick ist von ungeheurer Bedeutung bei Maurice, auch im zivilen Alltag, wie er es nannte“; „Er ist auch ein Folterknecht, er ist grausam, aber meistens ist für mich ein Held, wie James Bond“.

„Es war nicht möglich, ihm zu widersprechen, wenn er vor einem saß und einen so ansah.“

Und in Bezug auf den „Sacre“: „Der Mensch, ein sexuelles Tier.“

Dazu Béjart im O-Ton: „Ein Tänzer kann sehr viel engelhafter sein als ein normaler Mensch, aber vor dem Hintergrund einer gewissen Perversion, einer positiven Perversion.“ Die Tanzschöpfung war für ihn stets ein Kampf, ein Widerstand musste überwunden werden, dafür brachte die Zertrümmerung des Alten die Geburt von Neuem hervor. Aber: Béjart verriet oder verschwieg dieses Alte, die ballettösen Traditionen, niemals. Manche Momente in seinen Stücken lesen sich wie von George Balanchine.

Béjart wusste zudem um die Bedeutung des Zwischenmenschlichen im Ballettsaal. Für ihn war seine Arbeit wie eine Liebeserklärung, trotz aller Härte: „Die Choreografie ist wie die Liebe: dazu gehören zwei“, nämlich Tänzer und Choreograf.

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„Erotica“ – das Ballett von Maurice Béjart thematisiert sein liebstes Sujet. Videostill aus der Filmdoku: Gisela Sonnenburg

In seinen 27 Jahren in Brüssel schuf er mehr als 150 Ballette. Der Zeitgeist der 50er, 60er und 70er Jahre pulsiert darin. Manchmal muss er rücksichtslos sein, um sich durchzusetzen: „Sobald man eine Idee hat, wird man zum Monster.“

Der Lohn: die Begeisterung der Zuschauer. Einer seiner Bühnenbildner bringt es einfach auf den Punkt: „Er zog einen wie ein Zauberkünstler in seinen Bann.“

Und er forderte viel. Alles. Faulheit oder Ungenauigkeit konnte er nicht ertragen. Er war tyrannisch, streng, ein Ausbeuter in gewisser Weise. Dennoch liebten ihn seine Leute, beteten ihn an, machten gern, was er wollte. Ließen sich auch mal an die Grenzen des Erträglichen führen.

Eine Tänzerin beschreibt, wie er sie bei Proben zum Heulen und Schreien brachte, wie sie in Weinkrämpfe und Aufruhr verfiel. Aber nur so konnte sie die für sie neue Partie in „Bakhti“ bewältigen: mit den dunklen, aggressiven Seiten ihrer Persönlichkeit, von denen sie zuvor nicht mal wusste, dass sie existieren.

Extase, Hippiegeist und die Suche nach Spiritualität passen zu Béjart. „Ich kann nur an einen Gott glauben, der tanzt“, sagt er.

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„Der Nussknacker“ wurde bei Maurice Béjart zu einem ganz anderen Ballett als gewohnt: zu einer Hommage an die früh verstorbene Mutter des Choreografen. Videostill aus der Filmdoku: Gisela Sonnenburg

Die ersten Themenballette entstanden. „Ballette, die zum Nachdenken zwingen“, lobt eine seiner Ballerinen.

Carolyn Carlson, die Choreografin, beschreibt, wie er auch vom Publikum verehrt und mit Sprechchören („Bé-jart, Bé-jart“) angefeuert wurde.

Seine Spezialität wurden Auftritte vor einem Massenpublikum.

International füllten seine Truppen, erst die aus Brüssel, dann das „Béjart Ballet Lausanne“, die größten Säle. Nach Lausanne ging er, weil man ihn und sein kleines Imperium – denn zusätzlich zur Compagnie hatte er die experimentelle Tanzschule „Mudra“ in Brüssel gegründet – tatsächlich in Belgien nicht mehr mit stetem Wachstum fördern wollte. Gérard Mortier, später berühmt geworden als Festivalleiter etwa der Salzburger Festspiele, bevorzugte die Oper und wollte keine Konkurrenz in Form des Tanzes am Opernhaus in Brüssel.

Béjart musste abwandern, um sich weiter zu verwirklichen. In Belgien schützte ihn trotz oder gerade wegen seiner enormen Erfolge niemand vor dem gierigen Zugriff Mortiers. Mortier, der Einseitige – eine überraschende neue Perspektive auf einen dieser Opernmogule, die stets vor allem sich selbst feiern, entsteht.

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Jorge Donn – ein feuriger Argentinier – wurde Béjarts Lieblingstänzer. Er war der erste Mann, der den „Bolero“ tanzte. Videostill aus der Filmdoku: Gisela Sonnenburg

Aber schon 1961 hatte Maurice Béjart sich mit dem „Boléro“ selbst ein lebendiges Denkmal gesetzt. „Ein Crescendo des Begehrens“ nennt der Off-Kommentar es passenderweise. Es ist das letzte große Solo einer Frau, ursprünglich – später wird die Hauptrolle auch männlich besetzt. Je nachdem umtanzen Männer oder Frauen das auf einem großen hohen runden Tisch rotierende Zentrum. Bis heute gilt: Keine Primaballerina, kein Primoballerino von Welt würden es je ablehnen, hier die Hauptpartie zu tanzen. Von Maja Plisetzkaja über Polina Semionova bis zu Friedemann Vogel.

Béjarts Superstar aber hieß Jorge Donn, er war Argentinier, wild, schön, sehr gelehrig. Auf Reisen nach Indien suchten sie nicht die Erleuchtung im Ashram, sondern Inspiration durch traditionelle Tänze. Schnell stellten die Ballettleute fest, dass man im indischen Tempeltanz meistens inwärts dreht (en dedans), während es im Ballett meistens auswärts gedreht, also en dehors, zugeht. Begeistert nahmen Maurice und Jorge die Anregung, Pirouetten neu zu denken, auf.

Was den orgiastischen „Boléro“ angeht, so entstand auch noch ein viel beachteter Film dazu, in der Regie von Claude Lelouch. 24 Mal musste Donn bei den Dreharbeiten hintereinander das ganze Stück tanzen. Ohne zu murren – und immer rauschhafter.

Auch den „Feuervogel“ tanzte Donn, und man versteht, wenn man ihn tanzen sieht, was Gil Roman, heutiger Leiter des Béjart Ballet Lausanne, meint, wenn er sagt: „Maurice Béjart steht für die Befreiung des männlichen Tanzes“.

„Man ist nicht mehr Europäer, man ist Weltbürger“ heißt es weiter. Béjart war darin radikal und choreografierte nicht nur weltweit (unter anderem 1990 die fünfstündige Mammutarbeit „Ring um den Ring“ in Berlin), sondern trat sogar zum Islam über. Den er allerdings auf seine eigene Art interpretierte, als eine fast hinduistisch-buddhistische Konzentration und Erfüllung des Ichs mit Erleuchtung.

„Man muss zu den eigenen Wurzeln zurückkehren“ – auch solche Statements gehören zum Mythos Béjart.

Weil seine Urgroßmutter aus dem Senegal stammte, meinte er, „schwarzes Blut“ zu haben – und er wählte den zumeist wortlosen Tanz zwar nicht direkt als Rückkehr in den Senegal, aber, um sich gegen den verbal agierenden, französischen Vater zu behaupten. Psychoanalytisch gesehen, kann man gegen diese Deutung seiner Berufswahl keine Einwendung haben.

Die Hin- und Hergeworfenheit blieb in seinem Selbstgefühl dennoch erhalten. Das Heimatlose, das Internationale sah er als Fluchtort: „In vielen meiner Ballette kommt ein Mann mit Koffer vor. Vielleicht bin ich das“, kokettiert Béjart vor der Kamera.

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Noch einmal Jorge Donn in Aktion, beim Tanz. Das Bühnen-Make-up ist typisch für die Zeit. Videostill aus der Filmdoku: Gisela Sonnenburg

Als das Archiv seiner Arbeiten in Belgien in Flammen aufgeht, rettet er sich in die Ruhe der Schweizer Berge, wo er eine Berghütte besitzt (ähnlich wie Martin Schläpfer heute, übrigens). Dort, in der Stille und Schönheit der Natur, philosophiert es sich gut, und Béjart findet seine Mitte wieder, sein Gleichgewicht. Und seinen großen Mut, die Wahrheit zu sagen, wenn auch auf ungewöhnliche Weise: Das meiste, was geredet werde, sei Heuchelei, gesteht er.

Und nur einen gravierenden Fehler hat dieser Film: Er nennt nicht die auch künstlerisch fruchtbare Freundschaft Béjarts zu seinem noch bedeutenderen Kollegen John Neumeier. „Die Stühle“ nach Eugène Ionesco war 1985 eine heiß diskutierte Arbeit von Béjart beim Hamburg Ballett, in der Neumeier und die Cranko-Muse Marcia Haydée auftraten.

Aber gerade Neumeier weiß Béjart, dem er 1997 ein Ballett zum Geburtstag schenkte (nämlich den Männer-Paartanz „Old Friends – Opus 100“) zu würdigen wie sonst kaum jemand. Er sagt so einfach wie richtig: „Béjart war unendlich wichtig für die Neudefinition des klassischen Tanzes.“ In der hier nonchalant eingeflochtenen Unendlichkeit liegt ein Hinweis darauf, dass das Béjart’sche Werk sehr viel Potenzial hat, um weiter zu wirken und kommende Choreografen zu inspirieren.

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Schade ist hingegen, dass die choreografischen Nachfolger, die Béjart – wie etwa mit Lode Devos – durchaus schon hatte, vom Betriebssystem Ballett kaum eine reelle Chance bekamen. Immerhin haben Performerinnen wie Anne Teresa de Keersmaker ihr Rüstzeug auf der Mudra-Schule gelernt.

Die hochkarätigen Ballette Béjarts werden indes noch jeden Tournee-Rummel überleben, den das Béjart Ballet Lausanne mit ihnen anstellen muss, um zu überleben. Ein kontinuierlicher Austausch mit anderen Compagnien und häufigere Einstudierungen bei anderen Compagnien wären dennoch sehr wünschenswert.
Gisela Sonnenburg

Am 8. April ab 23 Uhr auf arte, bis 6. Juli 2018 dann auf arte.tv

www.arte.tv

 

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