Die Wiederkehr des Schmetterlings Eine österliche Überraschung: Laura Cazzaniga kehrt beim Hamburg Ballett auf die Bühne der „Matthäus-Passion“ von John Neumeier zurück

Die Matthäus-Passion von John Neumeier in Hamburg

Laura Cazzaniga im Profil – so zu sehen auf der DVD „Matthäus-Passion“ von John Neumeier, die 2006 bei Arthaus Musik erschien. Videostill: Gisela Sonnenburg

Sie kennt die Geheimisse der John-Neumeier-Ballette, und sie weiß, wie sie diese an die Tänzer weiter gibt: Laura Cazzaniga, gerade 47 Jahre alt geworden (was man nicht vermutet, wenn man sie sieht), ist seit 2008 Ballettmeisterin beim Hamburg Ballett. Das ist kein normaler Vollzeit-Job: Man lebt, ja man atmet das Werk des genialen Choreografen, um es für die Gegenwart und Zukunft zu bewahren und lebendig zu halten. Für Cazzaniga ist dabei stets wichtig: „Auch wenn da mal keine Geschichte ist, die Schritte und die Musik bringen eine Atmosphäre.“ Auf dieses bestimmte Gefühl einer Szene kommt es ihr an. Bevor sie Ballettmeisterin wurde, tanzte sie mit diesem Sensorium für dramatische Stimmungen im Hamburg Ballett, seit 1998 als Erste Solistin. Mehr als ein Dutzend Stücke kreierte sie als Ballerina, noch deutlich größer war ihr Repertoire als Tänzerin. In Stücken wie „Nijinsky“ steht sie in kleinen Rollen nach wie vor auf der Bühne. Jetzt aber kehrte sie überraschend in eine große Partie auf die Bühne zurück: in die „Matthäus-Passion“, dem großen österlichen Passionswerk von Johann Sebastian Bach, das Neumeier 1981 zu einem Vier-Stunden-Ballett transformierte, seither noch ständig am Werk feilend (www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-matthaeus-passion/).

Die Figuren darin sind nicht Eins zu Eins den biblischen Gestalten zuzuordnen. Aber die Zentralgestalt ist ein Gruppenanführer wie Jesus, dem auch ein ähnliches Schicksal widerfährt. Ebenso gleichen andere Personen etwa den Aposteln, den Jüngern, dem biblisch beschriebenen Personal.

Die aktuelle Besetzung der Hauptfigur mit Marc Jubete setzt da auf die Betonung der Geduld und Duldsamkeit, der Beharrlichkeit und der ewigen Bereitschaft zu geben (siehe auch hier: www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-matthaeus-passion-ballett-tage/).

Die Matthäus-Passion von John Neumeier in Hamburg

Marc Jubete auf dem roten Viereck, das im ersten Teil der „Matthäus-Passion“ der Ort einer bewegenden tänzerischen Meditation für ihn ist, im zweiten Teil aber zur Kreuzigungsstätte Golgotha wird. Foto: Kiran West

Allerdings verschoben sich manche Details seit der Uraufführung, verstärkt nach 2006. Damals wurde – mit Neumeier selbst in der Hauptrolle – die „Matthäus-Passion“ von Thomas Grimm noch weitgehend in ihrer Erstversion verfilmt und ist so als DVD (bei Arthaus Musik) erhältlich.

Seither sind etwa Tanzpassagen und Pas de deux der Figur des Johannes der Figur des Jesus überschrieben worden; letzterer hat seither zwei Frauen, die sich wie Maria und wie Maria Magdalena um ihn kümmern, zu jenem Zeitpunkt, als Jesus Christus bereits das Opfer ist.

Die Matthäus-Passion von John Neumeier in Hamburg

Die „Matthäus-Passion“ passt exakt in die Osterzeit. So beim Hamburg Ballett in der Choreografie von John Neumeier, hier mit Marc Jubete und Aleix Martínez. Foto: Kiran West

Eine dieser Frauen ist die erste im Stück, die vortritt und durch ihr Aushalten und Dulden beginnt, Verantwortung zu übernehmen. Sie, die Mutter von Jesus, Maria, wird jetzt wieder von Laura Cazzaniga getanzt.

So ganz freiwillig ist diese Rückkehr in das anstrengende Stück allerdings nicht. Doch Patricia Friza, die diese Rolle in den letzten Jahren so ausdrucksstark wie beseelt tanzte, ist erkrankt (gute Besserung!) – und Laura Cazzaniga ist nun mal diejenige, die diese Partie aus dem Effeff beherrscht.

Also sprang sie ein – nicht eben alltäglich für eine ansonsten reichlich hinter den Kulissen beschäftigte Ballettmeisterin.

Wenn sie jetzt mit klarem, durchaus auch etwas vergeistigten Gesichtsausdruck im weißen Kleid (das ihr noch wie angegossen passt) auf die Bühne kommt, kann man sich aber kaum vorstellen, dass sie schon seit fast zehn Jahren keine Ballerina mehr ist.

Cazzanigas Bühnenpräsenz und ihre Intensität in den Bewegungen haben eher noch zugenommen.

Die Matthäus-Passion von John Neumeier in Hamburg

Das Jungenensemble in der „Matthäus-Passion“ beim Hamburg Ballett, fotografiert von Kiran West

Man muss dazu sagen, dass sie nie ganz aufhörte zu trainieren und zu tanzen, denn, so sagte sie mal in einem Interview, ohne das Tanzen macht ihr der Körper mehr Probleme und Schmerzen als mit. Klassisches Training ist für Laura Cazzaniga eine organische Angelegenheit, die einfach zu ihr gehört, die den Körper befördert und nicht verknechtet – das ist eine optimale Situation in ihrem Beruf, die nicht alle, die ihn ausüben, so von sich behaupten können.

Als Ballettmeisterin ermuntert La Cazzaniga denn auch die jungen Damen, die sie trainiert, größer zu denken und zu tanzen: „Move big! Move bigger!“ Größer tanzen – dazu gehören Angstlosigkeit und die Bereitschaft, sich an die Musik und die avisierte Bewegung völlig hinzugeben.

Jetzt aber steht Laura Cazzaniga wieder vorne auf der Bühne, kurz nach Beginn der „Matthäus-Passion“, und sie scheint den großen Blick für sich bereits auch ganz verinnerlicht zu haben.

Die Matthäus-Passion von John Neumeier in Hamburg

Hehr, aber auch sehr klar: Laura Cazzaniga beherrscht den Stil von John Neumeier als Tänzerin wie als Ballettmeisterin. Videostill von der DVD „Matthäus-Passion“, erschienen bei Arthaus Musik: Gisela Sonnenburg

„Stille in Bewegung ist Leben“, definierte der chinesische Philosoph Konfuzius. Dieser Aphorismus ist für Cazzaniga wie maßgeschneidert. Sie steht nur da, am Anfang, aber:

Alles, was kommen wird in diesem Stück, all die Liebe, all der Verrat, all die Aufklärung, all die Lüge, all die Gewalt und all die Vergebung – es handelt sich um eine abstrahierte Umsetzung der biblischen Passionsgeschichte – scheint sich hier am Anfang bereits im fast ungeschminkten Gesicht dieser einen Tänzerin wie eine Vorahnung zu spiegeln.

Jesus, mit großer Ernsthaftigkeit getanzt von Marc Jubete, wird darin verehrt und abgeführt, bewundert und denunziert. Folter und Kreuzigung werden symbolisch-drastisch gezeigt – und die Person, die hier als Jesus zu erkennen ist, scheint von Beginn an mit großer Leidensbereitschaft auf alles zuzugehen.

Flankiert von Florian Pohl und Mathias Oberlin, trägt Jubete denn auch kurz nach Beginn bereits den Darsteller es Judas als sein Kreuz durchs Publikum.

Die Matthäus-Passion von John Neumeier in Hamburg

Diese Passage in der „Matthäus-Passion“ tanzt aktuell Laura Cazzaniga statt der erkrankten Patricia Friza, der hiermit gute Besserung gewünscht wird! Foto: Kiran West

Carsten Jung ist Judas – man kann sich keinen glaubwürdigeren gewieften Verräter vorstellen.

Er hat Soli und Pas de deux mit Laura Cazzaniga, es ist, als wolle sie seine Seele rein halten.

Einmal laufen sie vor der Masse Mensch hin und her, fallen immer wieder gemeinsam ins Cambré – aber Judas wird ein Abtrünniger, der Jesus, seinen besten Freund, für dreißig Silberlinge verrät und verhaften lässt.

Er richtet sich dafür später selbst, nach einem atemberaubenden Solo, bei dem er hinter seinem Rücken in die Luft greift, als könne ihn dort irgendein weltlicher Reichtum fühlbar retten, als könne er die Zeit so zurückdrehen. Doch die Seele will entfliehen…

So hängt sich Judas über eine hoch gestellte schwarze Sitzbank – der Umgang mit den wenigen Requisiten im Stück (mit Bänken und mit einem weißen Hemd) ist bemerkenswert. Er stirbt auf halber Zehenspitzenhöhe, verharrt reglos, eine mit dem Tod sühnende Seele.

Die Matthaeus-Passion von John Neumeier in Hamburg

Carsten Jung tanzt Judas und Pontius Pilatus – der eine denunziert, der andere richtet über Christus. Hier in leidenschaftlicher Emphase. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Judas alias Carsten Jung kehrt hier stante pede wieder, und zwar in der Gestalt des Richters Pontius Pilatus. Er wäscht seine Hände – auch gestisch – in der unschuldigen Luft, nachdem er die aufgebrachte Meute Mensch hat bestimmen lassen, ob der Verbrecher Barabas oder der vermeintliche Volksverführer Jesus hingerichtet werden soll.

Als Jesus gefoltert und nach Golgatha zur Kreuzigung geführt wird, sitzt Pilatus lange vorn an der Rampe, den Kopf mit der Stirn auf die Hand gestützt, und er denkt nach. Er grübelt. Macht er sich Vorwürfe?

Reglos sitzt Carsten Jung da, schön und in sich gekehrt wie eine Statue von Auguste Rodin.

Die Matthäus-Passion von John Neumeier in Hamburg

Man hält etwas gefangen in seinen Händen… hier Carsten Jung in der „Matthäus-Passion“, so zu sehen auf der DVD, die bei Arthaus Musik 2006 erschien. Videostill: Gisela Sonnenburg

Er, als Judas und Pilatus, hat hier eine atemberaubend vielschichtige choreografische Sprache. So findet sich auch ein Zitat aus der Orgie im Venusberg in der Oper „Tannhäuser“ in der Bayreuther Inszenierung von 1977, die John Neumeier choreografierte. Der Tänzer hält da die Hände zusammen, als hätte er einen seltenen Vogel gefangen – und er lässt die Schwalbe fliegen, indem er die Hände löst und die Arme öffnet. Vielleicht ist der imaginäre Vogel ein Symbol für einen Gedanken?

Das Zusehen, wie ein Vögelchen das Fliegen lernt bzw. in die Freiheit entflieht, gehört zu den Grunderfahrungen menschlichen Glücks. So frei fliegen vom Menschen nur seine glücksbringenden Ideen…

Es steht hier im krassen Gegensatz zu dem, was Judas, Pilatus und ihr Opfer Jesus erwartet.

Die Matthäus-Passion von John Neumeier in Hamburg

Und man lässt frei, was man in den Händen hielt: Carsten Jung beim Loslassen in der „Matthäus-Passion“, zu sehen auf der DVD, die 2006 bei Arthaus Musik erschien. Videostill: Gisela Sonnenburg

Noch vor der Kreuzigung weiht jedoch eine der beiden Marien  – die zweite ist Xue Lin als Maria Magdalena, die in Soli wie im Zusammenspiel mit Marc Jubete ein sehr sensibles Flair entwickelt – das rote viereckige flache Podest, auf dem, wiederum aus schwarzen Bänken, das Todesgerüst für Jesus aufgebaut ist.

Laura Cazzaniga tanzt hier als Mutter von Jesus das Solo auf dem roten Platz, vollführt ein Leit- und Leidmotiv des Stücks – das Zittern der Hände und Unterarme – so stark, dass man es als Kerngeste des ganzen Abends erkennen muss. Sie zuckt, sie bibbert, sie gestikuliert, sie geht ins Plié, sie beugt sich vor, sie richtet sich auf, sie stellt sich quer – womöglich betet sie, um Jesus und der Menschheit zu ersparen, was kommen wird.

Aber es gibt kein Entrinnen. Erst als Marc Jubete reglos am Gerüst hängt, scheint eine Art Kehrtwendung die Masse Mensch zu erfassen.

Hehre Konzentration, meditative Reglosigkeit, aber auch expressive Ausbrüche kennzeichnen die Choreografie der „Matthäus-Passion“.

Das zeigt sich gerade, wenn die Stimmung, die hier wie in jedem anderen Neumeier-Ballett so wichtig ist, kippt, sich umfärbt, in eine andere Richtung weist.

Die Matthäus-Passion von John Neumeier in Hamburg

Auch mit gesenktem Kopf mit Würde und Erhabenheit tanzend: Laura Cazzaniga, die mit ihren Füßen und Zehen wahre Wunder auf der Bühne vollbringt. Videostill aus der DVD „Matthäus-Passion“ (Arthaus Musik): Gisela Sonnenburg

Stimmung kann sich aber auch in wenigen Bewegungen erzeugen lassen. Wenn Laura Cazzaniga etwa, flankiert von der eleganten Priscilla Tselikova und der dynamischen Yaiza Coll, ein Frauen-Pas-de-trois anführt, dann ist das, als hätte die holde Weiblichkeit doch eigentlich immer eine Chance, die Dinge zum Besseren zu wenden.

Die Zehen von Laura Cazzaniga wären ohnehin einen Roman wert!

Die Art und Weise, wie diese schlanke Blondine mit den nackten Zehen beim Tanzen den Bühnenboden streichelt, ist einzigartig. Sie hat nämlich keine Scheu vor der Schwerkraft noch vor Bodenhaftung – und mit einer auf den Punkt gebrachten Rhythmik benetzen Ballen und Zehen in Tendu- und Ronds-de-jambe-par-terre-artigen Bewegungen den Tanzgrund.

Einmal dreht sie sich im Stehen barfuß auf dem Platz, nach jeder Sechsteldrehung den Ballen vom Spielbein pointiert absetzend und leicht am Boden drehend, solchermaßen den Fuß nachgerade in den Boden schmiegend.

Das ganze Credo ihrer Mutterrolle mag in diesen Füßen liegen!

Die Matthäus-Passion von John Neumeier in Hamburg

Laura Cazzaniga (links vorne) und Mitstreiterinnen (Anna Laudere neben ihr und im Anschnitt rechts: Niurka Moredo) in der „Matthäus-Passion“, auf der Aufzeichnung von 2006, die als DVD bei Arthaus Musik erschien. Videostill: Gisela Sonnenburg

Die kleinen, modernen, bodennahen Développés, die Cazzaniga ausführt, sind denn auch so kompakt und durchgestreckt, dass man darin zudem all den Glauben an das Gute erkennen kann, den ein Mensch haben sollte.

Als Jesus am Kreuz hängt, scheint dieser Glaube die Menschheit zu erfassen. Die Leute rotten sich zusammen, glotzen, dicht aufeinander gluckend, ins Publikum, sie scheinen etwas zu sehen, das am Horizont wandert – sie sehen dem nach, verwundert, und sie setzen sich zusammen, mit dem Rücken zu uns.

Das gemeinsame Bestaunen eint sie.

Und ausgerechnet Pontius Pilatus (Carsten Jung) erhebt sich als Erster, um zum Kreuz zu gehen und betend niederzuknien.

Es ist das Wunder der Auferstehung, das von der Bereitschaft der Menschen, an so etwas zu glauben, vorbereitet wurde, und das sich jetzt dadurch auch vollzieht.

Jesus steigt, gestützt von zwei Jüngern, vom Kreuz herab.

Und wieder versuchen die Menschen, sich zu finden. Neue Paare bilden sich, anmutige Hebefiguren, und neue Gruppierungen lassen die Menschen demütig die Köpfe neigen.

Bis sie gemeinsam den Mut finden, das rechte Bein anzuheben, den Fuß im Flex, zu einem einwärts nach vorn gedrehten Passé, wozu sie den rechten Arm gelassen-klassisch, aber handlungsbereit und offen seitlich halten. Der linke Arm verharrt neben dem Körper, scheins untätig, vielleicht Kraft schöpfend und bewahrend.

Die Matthäus-Passion von John Neumeier in Hamburg

Sie spenden für viele, die Hilfe nötig haben. Aber auch das Ballett-Journal kann ohne Ihre Spende nicht existieren. Mit freundlichem Dank für alle, die sich überwinden und freiwillig etwas abgeben, ob 5 Euro oder mehr!

Diese Schlusspose ist für mich das prägnanteste Gruppenbild aus der „Matthäus-Passion“, und die Gruppe, das Ensemble, die Gesamtheit der Tänzer spielt im Stück ohnehin die wichtigste Rolle.

Sie müssen agieren und reagieren, oftmals den anderen beistehen, einfach abwarten und zusehen, aber auch die Spannung dann halten, wenn in Soli oder kleinen Gruppen schwierige menschliche Prozesse ablaufen.

Das Hamburg Ballett macht das großartig.

Es strengt sich an, ist gerade erst von einem Gastspiel mit zwei anderen Stücken aus den USA zurückgekommen, es lässt sich in die Lethargie der Bach’schen Barockmusiken fallen, ohne vor den hier vom Tonband kommenden, auch mit sehr guten Musikern immer etwas steif klingenden Chorälen und Rezitaten zu bangen.

Von Laura Cazzaniga, Anna Laudere und Leslie Heylmann, Carsten Jung, Alexandr Trusch und Edvin Revazov – der übrigens ein absolut fabelhaftes Solo über innere Konflikte und Schuldfragen tanzt – über Madoka Sugai (die fantastisch aufdreht und viel Temperament zeigt), Aleix Martínez und Christopher Evans bis zu Hayley Page, Priscilla Tselikova und Xue Lin sowie Nicolas Gläsmann, Leeroy Boone und Pascal Schmidt zeigen sich hier Tänzerinnen und Tänzer ohne dick aufgetragene Fassade, sie zeigen Seele im Tanzen und Herz im Ausdruck.

Und manchmal entstehen mittendrin, ganz unerwartet, Momente von Liebe und Zuneigung, die wie ein stummes Raunen die dunklen Emotionen durchziehen. So, als Konstantin Tselikov und Priscilla Tselikova sich für einige Sekunden still berühren, nur ihre Köpfe sind hier aneinander gelegt, sie stehen dabei vorn mittig; es scheint dann, dass der Zusammenhalt zwischen sich liebenden Menschen doch immer alles noch zum Guten wenden wird.

Solche Sekunden, die wie en passant mitten in der großen, oft auch akrobatisch anspruchsvollen Architektur der Choreografie existieren, küren einen Abend wie diesen, machen ihn zu einem Mahnmal und Hoffnungsdenkmal zugleich.

Allerdings benötigt man auch die richtigen TänzerInnen, um so etwas stattfinden zu lassen.

Aber ohne Ballettmeisterinnenarbeit wäre auch die tollste Gruppe im Tanz nicht denkbar!

Das Aufstellen und Motivieren einer Gruppe gehört genauso zu Laura Cazzanigas täglicher Arbeit wie die Feinarbeit an Soli.

Angefangen hat sie mit Ballett übrigens in der italienischen Provinz, in Bergamo, um dann in Monte Carlo auf der dortigen elitären Tanzakademie zu reüssieren.

Die Matthäus-Passion von John Neumeier in Hamburg

Laura Cazzaniga auf ihrem aktuellen Portraitfoto vom Hamburg Ballett. Foto (ursprünglich in Farbe): Kiran West

Die erste Begegnung mit John Neumeier war für den Doyen des Hamburg Balletts gleich eine Initialzündung für eine mögliche Zusammenarbeit. Neumeier war damals beim Prix de Lausanne der Präsident der Jury. Die Klassik-Kostproben, die die blutjunge Laura dort vortanzte, inspirierten ihn ad hoc, und am liebsten hätte er die italienische Blondine gleich ins Ensemble nach Hamburg mitgenommen.

Strikt dagegen war allerdings die damalige Lehrerin von Cazzaniga. Also bot Neumeier an, die junge Tänzerin zunächst für ein Jahr in die Schule vom Hamburg Ballett aufzunehmen – und damit waren dann alle zufrieden.

Und Neumeier kreierte das Jugendballett „Eine Reise durch die Jahreszeiten“ (www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-erste-schritte-2016/ ), worin die Rolle der „badenden Schönheit“ für die so früh schon glamourös wirkende Laura ersonnen wurde.

Ihre Übernahme in die Compagnie war dann sozusagen selbstverständlich. Sie hatte ja damals in Lausanne übrigens auch den Prix Professionel erhalten. Und sie brannte darauf, das Profi-Engagement anzutreten.

Nach zehn Jahren avancierte sie dann von der Solistin zur Ersten Solisten der Compagnie.

„Das Wunder der Kreation und Choreografie bedeutet immer zwei – Tänzer und Choreograf – die korrespondieren, kommunizieren, aus Vertrauen schöpfen, ohne viel zu sagen.“

Das schrieb John Neumeier über La Cazzaniga zur Begründung, warum er sie – obwohl sie nie die einschlägigen Liebhaberinnen-Rollen tanzen sollte – zur Ersten Solistin machte.

Die Matthäus-Passion von John Neumeier in Hamburg

Edvin Revazov zeigt ein erschütterndes Solo in der „Matthäus-Passion“, wahrhaftig und brillant. Foto: Kiran West

Laura war die etwas andere Principal. Im „Tod von Venedig“ hatte sie zum Beispiel gleich drei Partien kreiert und auch pro Aufführung zu bewältigen: die Assistentin von Achenbach, die Mutter von Achenbach als Kind und die Mutter des Jungen Tadzio. Mütter kennt ihr Repertoire zuhauf, von der Gräfin Capulet („Romeo und Julia“) über Orgeluse („Parzival – Episoden und Echo“) bis zu Aase („Peer Gynt“). Aber sie tanzte auch eine zornig-virtuose Gamsatti (in „Natascha“ Makarovas „La Bayadère“) und eine sanft-brillierende Louise in Neumeiers „Nussknacker“.

Und natürlich war sie die Verführerin Lykainion in Neumeiers „Daphnis und Chloe“. Und die gute Fee, in seinem entzückenden „Dornröschen“ (das leider kommende Spielzeit immer noch nicht wieder auf dem Spielplan steht). Und sie war auch eine ergreifende Penelope in des Meisters „Odyssee“.

In „Illusionen – wie Schwanensee“ tanzte Laura – auch auf der entsprechenden DVD zu sehen (www.ballett-journal.de/dvd-bayerisches-staatsballett-illusionen/ ) – den Schmetterling auf dem Maskenball: mit großartigen Attitüden, Drehungen und Arabesken, und einer unglaublich fröhlichen, auch schelmisch-intelligenten Lebensart im Ausdruck.

Jetzt ist dieser Schmetterling mit seinem inneren Leuchten wieder ein Blickfang auf der Bühne!

Zwar nicht im festlich-pompösen Outfit, sondern in der tiefgründigen Rolle der Maria, die hier durchaus selbständig und ohne männlichen Anhang wirkt, fast wie eine Schwester von Maria Magdalena. Diese Sünderin ließ sich der Bibel nach von Jesus bekehren, um fortan der Keuschheit statt der Prostitution zu frönen. Maria als angeblich jungfräulich Geschwängerte mag durchaus in ähnlichen Ruch gekommen sein.

Die Matthäus-Passion von John Neumeier in Hamburg

John Neumeier in seiner „Matthäus-Passion“, so zu sehen auf der DVD, die bei Arthaus Musik erschien. Videostill: Gisela Sonnenburg

In Neumeiers „Matthäus-Passion“ sind die menschlichen Schicksale allerdings weniger konkret als in der Bibel oder weiter gehenden Auslegungen von ihr, und gerade die Frauenfiguren dürfen sich hier befreit von ihrer starren Form als Seelen entfalten.

Es geht Neumeier ja um die Bewegungen der Menschen im Herzen – und nicht um ihre Vergangenheit.

Für Laura Cazzaniga ist denn auch nicht nur eine Rolle, sondern vor allem auch die jeweilige Situation auf der Bühne wichtig.

Tapferkeit, Duldsamkeit, Hellsichtigkeit. Das sind die Tugenden in der „Matthäus-Passion“.

Scheelheit, Neid, Hass – das sind die Sünden.

Überall, wo Menschen sich versammeln, gilt es, die negativen Potenziale zu überwinden und die positiven Energien zu bündeln und zu kanalisieren.

Das gilt auch für die Arbeit in einem Ballettsaal!

Ihre Erfahrung allein ist es aber nicht, die Laura Cazzaniga zum begabten Coach macht. Sie hat auch die entsprechende Mentalität, viele Tänzer zugleich im Blick zu haben und zu dirigieren.

Die Matthäus-Passion von John Neumeier in Hamburg

Aleix Martínez im Werbetrailer vom Hamburg Ballett für die „Matthäus-Passion“, hingegeben schwörend. Aktuell hat der hervorragende Tänzer allerdings einen anderen Haarschnitt, der ihn weniger verträumt aussehen lässt…. Videostill vom Werbetrailer des Hamburg Ballett: Gisela Sonnenburg

Und:

„Künstlerische Aufrichtigkeit und Unbedingtheit“ hatte John Neumeier ihr bereits attestiert, als sie von der Bühne in den Ballettmeisterstab wechselte.

Die Matthäus-Passion von John Neumeier in Hamburg

Alexandr Trusch tanzt im ersten Teil der „Matthäus-Passion“ spannende Brudertänze mit Aleix Martínez. Foto: Kiran West

Auch „schöpferische Fantasie“ spricht ihr Chef ihr zu – als Choreografin würde Laura Cazzaniga sich allerdings nie sehen wollen. Vielmehr, so verriet sie mir, sei schon das eigenständige Choreografieren auf der Ballettschule für sie eher eine Qual gewesen.

Sie braucht eine tänzerische Partitur, die sie umsetzen kann, dann ist sie glücklich – und darum ist sie in den Berufen Tänzerin und Ballettmeisterin genau richtig, um auch das Publikum glücklich zu machen.

Ein stilles, aber sehr schönes Ostergeschenk sind ihre Auftritte!
Gisela Sonnenburg

Temine: siehe „Spielplan“

www.hamburgballett.de

ballett journal