Fromme Wünsche und einige Flüche Ein kleiner Rückblick auf 2015 – und größere Hoffnungen für 2016

Auf in ein neues Ballettjahr!

Der Himmel über Berlin, manchmal rosenrot, gerade im Winter und zur Jahreswende… als wolle er uns zurufen: „Ein frohes neues Jahr!“ Foto: Gisela Sonnenburg

Hunderte von großartigen Vorstellungen liegen im Jahr hinter uns, und mindestens ebenso viele hoffentlich im Jahr vor uns! Was besonders im Gedächtnis blieb von den vergangenen Monaten? Das ist sicher individuell sehr unterschiedlich. Aber einige Namen müssen in einem Rückblick noch einmal genannt werden. Denn sie stehen nicht nur für Glanz, sondern auch für eine Kunst, die überleben wird, egal, wie korrupt und kaputt diese Welt auch immer weiter sein wird. Da ist als erste zu nennen: Iana Salenko. Gäbe es hier den Titel „Dancer of the Year 2015“ zu vergeben, er ginge an Salenko. Denn ihre Aurora in „Dornröschen“, die sie in der Choreografie von Nacho Duato beim Berliner Staatsballett tanzt, ist nicht nur irgendwie hinreißend. Sondern sie hat eine Süße, eine Neugier und eine Barmherzigkeit, die man in dieser Rolle sonst niemals so vereint findet. Die Extravaganzen der modern-klassischen Choreografie sind wie für Iana Salenko geschaffen: Es gibt keine harten Unterbrechungen in diesem superfeinen Bewegungsfluss, aber auch keine überroutinierten Technikabläufe.

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Ein Spagatsprung mitten ins Herz: Iana Salenko vom Staatsballettt Berlin in Nacho Duatos „Dornröschen“ bei einer dieser unerreicht schönen Tätigkeiten, die ihr scheinbar nichts als leicht fallen… Foto: Yan Revazov

Bei „Dornröschen“ gibt es ja immer die Gefahr, dass es „kitschig“ wird, also formal zu süßlich ohne inhaltliche Rückbindung. Das geschieht bei Salenko niemals. In jeder Vorstellung, in der ich sie als Duatos Aurora gesehen habe, punktete sie mit sauberer Technik, fantastischen Linien – und einer wirklich umwerfenden Herzlichkeit. Ihre Aurora ist nicht nur perfekt, weil sie es äußerlich zu sein hat, sondern weil es ihr Wesen ist. Eine Prinzessin nicht nur dem Stande, sondern auch dem Naturell nach. Nach der Balance wie nach dem Ausdruck. Wow!

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„Dornröschen“ Iana Salenko auf der Probe im Berliner Ballettzentrum… Ihr zarter Körper ergibt eine ganze Melodie aus Harmonie und doch Modernität. Foto: Gisela Sonnenburg

Als ich Iana zum ersten Mal interviewte – über sechs Jahre ist das jetzt her – nuschelte und piepste sie zwar noch unerträglich schüchtern, doch ich gehörte sowieso schon zu ihren großen Fans. Sie hat damals noch nicht mal den „Schwanensee“ getanzt, aber ihre intensive Eleganz, ihre kindhafte Anmut und ihre nicht sture, sondern ebenso liebliche wie willensstarke Ausstrahlung waren bereits unverkennbar auf der Bühne. Ihrem Ehemann Marian Walter ist zu verdanken, dass sie sich gegen Vladimir Malakhovs unsinnige Bedenken, sie sei mit unter 1,60 m Körpergrüße zu klein, durchsetzen konnte. Manchmal hat „Korruption“ im Sinne von persönlichem Engagement eben auch Vorteile für alle!

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Auch zwischen den Aufführungsterminen, nicht nur vor der Premiere, muss geprobt werden. Hier tut es Iana Salenko mit ihrem häufigen Gala-Partner Dinu Tamazlacaru. Das „Dornröschen“ von Nacho Duato beim Staatsballett Berlin wurde übrigens kontrovers diskutiert, ist aber mit gutem Grund beim fachkundigen Publikum ein Knüller, um Karten sollte man sich rechtzeitig kümmern und sie besser nicht absagen! Foto: Gisela Sonnenburg

Iana Salenko kam übrigens erst relativ spät zum Ballett, nachdem sie zuvor im Fernsehen Balletttänzer gesehen hatte. Das begeisterte sie so sehr, dass sie mit zwölf Jahren ihre Mutter drängte, sie bei der Ballettschule in Donezk in der Ukraine vortanzen zu lassen. Zuvor schulte man Iana in Gymnastik, diesem Leistungssport, dem auch Natalia Osipova entstammt, und für den Ianas kleiner, biegsamer Körper ebenfalls wie gemacht schien.

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Balancen halten – für Prinzessin Aurora alias Iana Salenko in „Dornröschen“ eine schöne Selbstverständlichkeit. Hier auf der Probe mit dem Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Zum Glück für die Ballettwelt wurde aber keine zweite Nadia Comaneci aus ihr. Sondern eine der weltbesten Primaballerinen!

Iana Salenkos Fouetté-Serien könnten übrigens sogar dem Bolschoi-Star Svetlana Zakharova noch zum Vorbild dienen. Davon abgesehen aber tanzt La Salenko auch modern-abstrakte Choreografien mit einem Schmelz und einem persönlichen Ausdruck, die sie schon nach wenigen Schritten auf der Bühne als Superballerina kennzeichnen. Außer in Berlin und auf internationalen Galas ist sie derzeit auch beim Royal Ballet in London zu sehen: Dort ist sie regelmäßiger Gaststar, tanzt meistens mit dem ebenfalls rothaarigen, sehr agilen Primoballerino Steven McRae, der zudem auch choreografisch großes Potenzial hat.

Gala-Auftritte absolviert Iana oft mit dem im Springen wie im Partnern außerordentlich starken, aber auch sehr feinfühlig-charmanten Dinu Tamazlacaru, manchmal auch mit Marian Walter, mit dem sie in der kommenden Spielzeit die Hauptpartien in John Crankos „Onegin“ tanzen wird. Derzeit ist sie noch die lyrische Olga in „Onegin“, aber als dramatische Tatjana wird sie sicherlich auch eine Erbauung sein! Und zuvor ist sie unbedingt nochmal als „Dornröschen“ anzuschauen.

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So sieht Nacho Duatos „Dornröschen“ topfit, fix und fertig und frisch verliebt, obwohl in Trance aus: Iana Salenko und Stargast Leonid Sarafanov beim Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov

Wenn man ihren Mann, den gebürtigen Thüringer Marian Walter, der in der Staatlichen Ballettschule Berlin ausgebildet wurde, nicht eben schon erwähnt hätte, müsste man spätestens beim Stichwort „Onegin in Berlin“ auf ihn hinweisen: Einen solchen Lenski, wie er ihn darin interpretiert, gab es wohl noch nie. Während Dinu Tamazlacaru den Berliner Lenski musterhaft und auch bildschön tanzt, riskiert Marian Walter das Gegenteil. Nicht melancholisch und todessüchtig, sondern temperamentvoll und tatenstark zeigt er den heißblütigen Unglücklichen. Damit profiliert er sich für die Hauptrolle Onegin: Man freut sich sehr darauf.

Apropos „Onegin“: Von Wieslaw Dudek bis zu Mikhail Kaniskin erlebten die Berliner Ballettbesucher Titelhelden wie von der Choreografie maßgenommen. In München hingegen zeigte 2015 Marlon Dino einen fast kühlen Onegin, der mit seiner verhaltenen Emotionalität dennoch vollauf auch schauspielerisch brillierte. Noch stärker aber wirkte seine Gattin Lucia Lacarra, diese Megaballerina, als Tatjana an seiner Seite.

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Lucia Lacarra als Tatjana mit Marlon Dino als „Onegin“ im gleichnamigen Ballett von John Cranko beim Bayerischen Staatsballett – im „Spiegel-Pas-de-deux“, der großen schicksalhaften Traumszene… Foto: Charles Tandy

Ach! Lacarra, die auch bei der jüngsten Münchner Premiere sowie als „Kameliendame“ und in „Ein Sommernachtstraum“ unübersehbare Weltklasse zeigte, hat einen allzu hohen Suchtfaktor, als dass man sie hier nicht betont erwähnen müsste.

Was für Füße! Was für ein biegsamer, dennoch starker Körper! Welche Zierlichkeit, welche Grazie, welch tragisches Gefühl – und auch, mitunter, was für eine Komik in der Gestik wie in der Mimik! München hat ein fantastisches Ensemble und von Mai Kono über Ekaterina Petina wirklich sehr flotte Tänzerinnen, die zugleich große Künstlerinnen sind. Aber La Lacarra ist absolut einmalig, fast nicht mehr in Worte zu fassen. Es gibt vermutlich keine Rolle und keinen Part im Ballett, die oder den Lucia Lacarra nicht exzellent auszufüllen wüsste. Sie ist ein Wunder.

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La Lacarra, also Lucia Lacarra vom Bayerischen Staatsballett, in einer ihrer LIeblingsrollen: als „Kameliendame“ von John Neumeier, hier im berühmten viellagigen White-Pas-deux-Outfit. Und wie es ihr steht! Foto: Charles Tandy

Kein Wunder, aber wundersam ist immer wieder Polina Semionova. Sie arbeitet von allen am härtesten, und das Ergebnis ist eine superbe Rollengestaltung bei hoher technischer Begabung.

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Sogar im Knien hat sie eine besondere Aura: Polina Semionova nach einer „Onegin“-Vorstellung mit dem Staatsballett Berlin. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Ihre Tatjana in „Onegin“, ihre Odette / Odile im „Schwanensee“, ihre Julia („Romeo und Julia“) und vor allem ihre „Giselle“ gehören zum Allerbesten, das es weltweit zu sehen gibt. Wer nicht nach New York fliegen möchte, um sie zu sehen, ist beim Staatsballett Berlin, wo sie diese Saison noch etliche Male gastiert, gut aufgehoben.

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Polina Semionova und Wieslaw Dudek – ein unvergessenes Dreamteam in „Onegin“ beim Staatsballett Berlin, bis Dudek im April 2015 seinen Bühnenabschied nahm. Foto: Enrico Nawrath

Eine andere Starballerina ist neu in Deutschland: Melissa Hamilton, eine sehr ätherische, dennoch auch sehr sexy Primaballerina mit einer enormen Bühnenpräsenz, bereichert seit November 2015 das Semperoper Ballett in Dresden. Wenn sie ins Scheinwerferlicht tritt, gewinnt dieses scheinbar an zehnfacher Helligkeit!

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In der Titelrolle der „Manon“ ist sie weltweit vielleicht die beste: die ätherisch-erotische irische Primaballerina Melissa Hamilton, die seit kurzem das Semperoper Ballett in Dresden bereichert. Foto: Ian Whalen

Ab 2016 ist sie vom Royal Ballet in London frei gestellt, um in der sächsischen Metropole mit den vielen Ballett-Talenten als Erste Solistin beschäftigt zu sein. Melissa ist gebürtige Irin und eine richtige Außenseiterin insofern, als sie keiner der üblichen Kaderschmieden entstammt, sondern im Privatunterricht eines früheren Bolschoi-Stars (Masha Mukhamedov) in Athen zum Profi reifte. Ihr Stil ist dennoch auch englisch – beim Royal Ballet im Covent Garden in London hat sie das immer wieder gezeigt, und als „Manon“ ertanzte sie sich internationale Ballettlorbeeren erster Güte.

"Der Nussknacker" vereint Fantasien und Realitäten.

„Nussknacker“ Václav Lamparter nach einer Vorstellung beim Schlussapplaus mit dem Dresdner Semperoper Ballett im Dezember 2015 – es war sein Debüt! Foto: Gisela Sonnenburg

In Dresden, das neben den Ersten Solisten auch blutjunge Supertalente wie Václav Lamparter und Julian Amir Lacey als potenzielle Partner für sie zu bieten hat, tanzt Melissa Hamilton in dieser restlichen Spielzeit an zwei Terminen die Nikija in „La Bayadère“ und zwei Mal die Aurora in „Dornröschen“, beides in der Inszenierung von Aaron S. Watkin. Man darf sich darauf freuen!

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Brachten zum Weinen vor Rührung: Melissa Hamilton als „Manon“ und Jiri Bubenicek in Kenneth MacMillans Stück beim Semperoper Ballett in Dresden. Ach! Foto: Gisela Sonnenburg

Der Mann, der Melissa nach Dresden holte, wird allerdings an ihrer Seite fehlen: Jiří Bubeníček. Der tschechische Primoballerino, der schon beim normalen täglichen Training das Flair einer ganz großen Ballettpersönlichkeit verbreitet und der zudem ein unverwechselbares Temperament als Tänzer hat, verabschiedete sich am 11. November 2015 von seinem Dasein als Erster Solist: in einer supertollen Vorstellung mit Melissa Hamilton in „Manon“ von Kenneth MacMillan.

Immerhin können alle, die über einen Fernseher verfügen, am 3. Januar 2016 Jiří Bubeníček als Choreograf kennen lernen beziehungsweise genießen: mit dem Wiener Staatsballett, im Rahmen des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker auf 3sat. Das wird wohl ein schönes Wiedersehen mit einer künstlerischen Handschrift, deren Energiefluss sich nicht nur durch Tanzdarstellungen, sondern auch durch Tanzschöpfungen zu vermitteln weiß! Zugleich ist das ein feiner Auftakt ins Schöpfungsjahr 2016.

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Jiri Bubenicek beim Semperoper Ballett als Des Grieux in „Manon“: ein belesener junger Mann verliebt sich ohne Vorwarnung über alle Maße… ach! Ach! Ach, ach! Foto: Ian Whalen

Choreografische Neuschöpfungen, die für mich 2015 besonders hervorstachen, sind zum Einen das existenzialistisch-puristische „Static Time“ von Nacho Duato beim Berliner Staatsballett (zu sehen in „Duato / Kylián“) und zum Anderen das hintergründig die Gender-Thematik kommentierende „Adam is“ von Aszure Barton beim Bayerischen Staatsballett (im Abend „Sinfonie in C / In the Night / Adam is“).

Wer diese so verschiedenen, dennoch wirklich fesselnden und auch wegweisenden Ballette noch nicht gesehen hat, der sollte flugs die entsprechenden Termine einplanen.

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Ein Teddy ist ein Teddy ist ein Teddy und kann etwas mit Kritik am Patriarchat zu tun haben – in Aszure Bartons „Adam is“, das sie fürs Bayerische Staatsballett kreierte, ist er zudem durchaus bedeutsam. Foto: Wilfried Hösl

Zum Ballett am Rhein zu pilgern, lohnt sich aber ebenfalls, zumal die Stadt Düsseldorf dem Ballettchef Martin Schläpfer ein schickes, modernen Balletthaus – mit fünf Ballettsälen und so ziemlich allen Schikanen! – spendierte. Wenn die Probenarbeit in derart angemessenen Räumen platziert wird, dann muss sich das ja positiv auf die Aufführungen auswirken, sagt einem die Logik. Oder etwa nicht?

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Martin Schläpfer vor dem neuen Domizil des Balletts am Rhein: ein Ballettthaus mit fünf sachgerechten Ballettsälen – zwei davon haben Bühnenausmaß. Beneidenswert! Foto: Gert Weigelt

Nicht ganz so rosig sieht es aus meiner Sicht allerdings in Stuttgart aus. Ein stark renovierungsbedürftiges Opernhaus, ein zu kleines Repertoire für eine so große Compagnie mit entsprechend relativ wenigen Vorstellungen, zudem ein eher musealer Tanzstil, dabei eine wenig transparente Öffentlichkeitsarbeit und null im Handel erhältliche DVDs und nicht mal ein einziger Internet-Live-Stream: all dies lässt die Compagnie etwas vermufft und abgeschottet wirken.

Man lebt denn auch beim Stuttgarter Ballett vom sehr guten Ruf vergangener Tage. Die Ballettgemeinde hält diesen hartnäckig aufrecht, aus Gewohnheit und wohl auch dem Wunsch heraus, ein Heiligtum zu haben. Ich weiß, ich verstoße jetzt gegen die schwäbische Harmoniesucht insbesondere der Stuttgarter Fans, aber: Man hat den Eindruck, dass sich der Ballettintendant Reid Anderson und sein designierter Nachfolger Tamas Detrich halt a bisserl auf dem Erbe des Choreografie-Titanen John Cranko (verstorben 1973) zwar nicht ausruhen, aber doch festgesessen haben.

Nichts gegen den Stuttgarter Übervater Cranko, im Gegenteil! Es ist wichtig, dass seine Stücke in Stuttgart und auch sonst in der Welt getanzt werden! Aber wenn man in Berlin und auch in München die meiner Meinung nach besseren „Onegin“-Vorstellungen als in Stuttgart sieht, obwohl es in Stuttgart wirklich sehr gute Erste Solistinnen und Erste Solisten gibt, dann gibt das doch zu denken. Kunst hat mit Lebendigkeit, nicht nur mit Formalismen zu tun, und das hat man in Stuttgart für mein Empfinden völlig vergessen. Demis Volpi als ein Hauschoreograf mit typischen Mittelmäßigkeitsstrategien ist da nur das traurige Tüpfelchen auf dem „i“. Das „Dornröschen“ von Marcia Haydée sorgte hingegen für flächendeckende große Zustimmung. Symptomatisch aus meiner Sicht für Stuttgart: Nur das Altbewährte funktioniert als Weltkunst noch.

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„Dornröschen“ in der Inszenierung von Marcia Haydée, die auch mal Ballettdirektorin in Stuttgart war, sorgte im letzten Jahr für große Zustimmung in Stuttgart. Foto: Stuttgarter Ballett

Dass der betagte Stuttgarter Ballettchef Reid Anderson mit Kritik aber gar nicht umgehen kann, und das bewies er mir bereits schwarz auf weiß, passt leider gut ins Bild. Er gab mir mal ein bereits zugesagtes Interview nicht, weil ich seinen Hamburger Amtskollegen John Neumeier in einem Beitrag ausnahmsweise kritisiert hatte. Das wurde knallhart so gemailt. Dabei fiel Anderson gar nicht auf, dass man solch ein Verhalten als peinliche Cliquenwirtschaft, als überkommene Gutsherrenart, als undemokratisch und öffentlichkeitsfeindlich, ja sogar als feige und hinterhältig bezeichnen kann und muss.

Schließlich haben Journalisten nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, nicht immer nur zu loben, sondern auch zu tadeln, wenn sie das für angemessen halten. Das müssen Künstler aushalten, dafür sind sie Personen des öffentlichen Lebens! Mehr noch: Sogar gelegentlicher Spott gehört zum Journalismus dazu. Auch das muss man abkönnen, wenn man sich ins Rampenlicht stellt. Journalisten sind außerdem auch manchmal unbequem. Sogar das und etwaige Konflikte, die daraus erwachsen, müssen ausgehalten werden! Soviel muss allen in diesem Land die Freiheit schon wert sein.

Da nun einfach zu sagen, wir laden nur die- und denjenigen zu dem und dem Event ein, die uns am nächsten stehen, geht weder rechtlich noch vom Standpunkt der Menschlichkeit. Man hat in Stuttgart zum Beispiel einen zweiten Presseverteiler, in den nur Lokaljournalisten hinein kommen. So etwas kann gerichtlich abgemahnt werden. Es haben nämlich sogar Journalisten aus Hawaii das Recht, zum feierlichen Umtrunk zu kommen, wenn ein Tänzer dabei einen Lorbeerkranz bekommt und die Stuttgarter Journaille dazu zur Berichterstattung gebeten wird. Zum Beispiel.

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Ein toller Tänzer kann nicht alles ausbügeln, was die Intendanz verbockt: Jason Reilly – hier als böse Fee in Marcia Haydées „Dornröschen“ – sorgt immer wieder für Highlights. Foto: Stuttgarter Ballett

Man sollte allerdings die Hoffnung niemals aufgeben, vielleicht ändert sich die Betonhaltung der Stuttgarter in manchen Dingen ja noch und man versteht dann auch dort, dass Deutschland kein kleines Fürstentum in sich duldet. Notfalls muss man dafür eben vor Gericht gehen, wenn es einem viel wert ist. Interessant ist hingegen, dass viele Journalisten nur für sich und niemals für die Freiheit der anderen kämpfen. Auch nicht so toll.

Ein neues Jahr ist aber immer ein prima Anlass für Hoffnung! Und auch wenn es für einzelne Künstler (übrigens nicht nur in Stuttgart) oft recht schwer zu akzeptieren ist: Die Meinungs- und Pressefreiheit ist ein sehr hohes Gut dieser Demokratie – und keineswegs irgendwelchen Eitelkeiten unterzuordnen. Es gibt, wo wir gerade dabei sind, auch einen Unterschied zwischen Beleidigung und freier Meinungsäußerung. Und es gibt einen Unterschied zwischen freier Meinungsäußerung und Diskriminierung bzw. Wettewerbsverstoß. Das Aussperren oder Abmahnen von kritischen Journalisten ist etwa rechtlich und auch moralisch gesehen so richtig pfui. Darum ist es auch sinn- und zwecklos, wenn beleidigte Leberwürste (was auch schon vorkam, wenn auch nicht von Stuttgarter Seite aus) von Journalisten mal eben Geld verlangen – und es dafür dann mit der Wahrheit nicht mehr so genau nehmen. In der Geldgier treffen sich aber natürlich stets alle niederen Triebe, das ist bei Künstlern nicht anders als bei so genannten normalen Menschen.

Die Kehrseite dieser Medaille ist eine übertriebene Ehrfurcht vor dem Reichtum an sich – und hier wünscht man sich doch oftmals eine bessere Schulbildung, gerade auch bei Tänzerinnen und Tänzern im In- und Ausland. Wer das Geld hat, hat nämlich keineswegs immer Recht und ist es auch keineswegs wert, dass man nur deshalb vor ihm buckelt. Das müssten sogar schwäbische Lokalpolitiker unterschreiben wollen.

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Marijn Rademaker (li.), hier mit Alicia Amatriain in Christian Spucks „Leonce und Lena“, fehlte eindeutig im letzten Jahr in Stuttgart… Und nun? Vielleicht sollte das Stuttgarter Ballett mal den Fehler bei sich selbst suchen, wenn gute Leute das Weite suchen? Foto: Stuttgarter Ballett

Wenn einen allerdings Tamas Detrich im Anschluss an ein Interview zu einer Probe einlädt und seine Pressedame einen offenkundig ohne Rücksprache mit ihren Chefs und auch ohne Entschuldigung kurzerhand wieder auslädt, dann fühlt man sich so, als werde man vom Pförtner trotz Einladung aus diskriminierenden Gründen abgewiesen. Sehr unfein, sowas!

Ich darf erwähnen, dass der Theater- und Filmregisseur Christoph Schlingensief eine Person des öffentlichen Lebens war, die Maßstäbe setzte. Er fand es ganz normal, sich für einen gut geschriebenen Verriss zu bedanken, mit dem ganz ernst gemeinten Hinweis, dass er aus konstruktiver Kritik immer etwas lernen könne und außerdem ein gut gemachter Text ja auch immer für Aufmerksamkeit sorge, sofern die Namen der Künstler halbwegs richtig geschrieben seien. Vielleicht könnte man sich in der etwas angestaubten Hierarchie der elitären Ballettwelt, in der Personen, die nicht Tänzer sind oder waren oder sein werden, so etwas wie Untermenschen zu sein scheinen, doch angewöhnen, mit solchen Augen des 21. Jahrhunderts zu sehen? Stuttgart, gehe Du voran – beweise nicht nur Deine Macht, sondern auch Deine Modernität und Deinen Mut.

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„Poème de l’Extase“: Sue Jin Kang, mittlerweile Ballettdirektorin in Seoul, Korea, im Hauptberuf, tanzt diese Partie beim Stuttgarter Ballett. Foto: Stuttgarter Ballett

Ein Highlight für wohl alle, die sie sahen, war nämlich außerdem die legendäre Sue Jin Kang in „Poème de l’Extase“ von John Cranko (im Ballettabend „Kylián / van Manen / Cranko“). Nur eingeschworene Anhänger von Alicia Amatriain waren da vielleicht nicht ganz zu überzeugen und gaben Alicia den Vorrang. Nun muss man sich über tolle Ballerinen nicht streiten – aber man darf, wenn man will, Punkte nach Gutdünken und Wohlwollen verteilen. Mit Applaus, Bravo-Rufen, Johlen und Blumen. Das lässt die Meinungsfreiheit durchaus zu, wenn sie sich auch nicht darin erschöpft.

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Hyo-Jung Kang ist ein aufgehender Stern am Stuttgarter Balletthimmel – eine junge Ballerina neuen Typs. Foto vom Schlussapplaus nach „Onegin“ in Berlin, mit Hyo-Jung Kang als Gaststar: Gisela Sonnenburg

Mit Hyo-Jung Kang und Elisa Badenes haben die Stuttgarter zudem hochkarätigen Ballerinennachwuchs, wie etwa in „Onegin“ und „Dornröschen“ zu sehen war – und nur in der ersten Reihe der männlichen Stars fehlen eindeutig der nach Amsterdam abgewanderte Marijn Rademaker, der nach Zürich gewechselte Alexander Jones und der schon seit längerem im kanadischen Toronto brillierende superelegante Evan McKie. Stuttgart, quo vadis ohne diese Männlichkeit? Alles können Jason Reilly, Daniel Camargo und Friedemann Vogel auch zu dritt nicht erledigen.

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So sieht ein Star nach der Vorstellung aus, wenn es Elisa Badenes vom Stuttgarter Ballett ist: auch abgeschminkt noch supersüß. Foto: Gisela Sonnenburg

Alle positiven Attribute eines rein lyrischen, aber auch sehr modernen Balletttänzers verkörpert hingegen Alexandr Trusch. Der Erste Solist des Hamburg Balletts zeigte etwa als Prinz in „A Cinderella Story“, als Cassio in „Othello“, als Albrecht in „Giselle“ und als Lenski in „Tatjana“ kontinuierlich ein starkes Schauspiel, einen anmutigen Tanz und ein unverwechselbares Auftreten als Person. Da ist hoffentlich noch viel zu erwarten!

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Alexandr Trusch vom Hamburg Ballett, hier als Albert in Neumeiers „Giselle“, ist immer einen Aufführungsbesuch wert. Foto: Holger Badekow

Männlicher Nachwuchs ist zudem auch da, allen voran Aleix Martínez, der, ganz ohne irgendwelche Ballettklischees zu bedienen, immer weiter ein eigenes Profil gewinnt.

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Aleix Martínez vom Hamburg Ballett in John Neumeiers Ballett „Winterreise“ – eine poetische, dennoch auch politisch aussagekräftige Choreografie in einer leidenschaftlichen Interpretation. Foto: Holger Badekow

Bei den Damen in Hamburg wächst mit Hayley Page ­– zum Beispiel in der „Winterreise“ – unübersehbar ein ganz großes Talent heran, und auch Emilie Mazoń hat weiterhin gezeigt, dass sie eine ganz außergewöhnliche junge Ballerina ist. Emilie hat allerdings ein Problem, für das sie nichts kann: Ein Teil des Hamburger Publikums neidet ihr das bisherige sehr rasche Vorankommen in der Compagnie – und schiebt es vor allem auf die Tatsache, dass ihre Mutter Gigi Hyatt die Leiterin der angeschlossenen Ballettschule ist und ihr Vater Janusz Mazoń ebenfalls in Hamburg bei John Neumeier als Lehrer und Ballettmeister wirkt. Setzen wir mal darauf, dass sich Talent und Fleiß durchsetzen werden!

Anna Laudere vom Hamburg Ballett hingegen muss schon deshalb hier erwähnt werden, weil sie immer die etwas andere Primaballerina ist – nie tanzt sie etwas so, wie man es erwarten würde, sondern sie bietet stets einen Extrakick. Und das, obwohl oder weil sie mit ihren breiten Schultern und den langen, sichtlich kräftigen Beinen vom Körperbau her keine typische klassische Tänzerin ist.

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Denis Cherevychko als Titelfigur der „Josephs Legende“ von John Neumeier an ihrem Uraufführungsort, nämlich der Wiener Staatsoper. Wow! Foto: Michael Pöhn / Wiener Staatsballett

Neumeier wird aber auch woanders toll getanzt! Das Wiener Staatsballett hat sich unter anderem mit dem John-Neumeier-Abend „Verklungene Feste / Josephs Legende“ einige Meriten errungen. Aber auch die Pflege des Nurejew-Werks ist den Wienern hoch anzurechnen!

Primoballerini wie Davide Dato, Vladimir Shishov und Denis Cherevychko beleben das internationale Ballettgeschehen – und Damen wie Olga Esina und Liudmila Konovalova, aber auch die „Außenseiterin“ Rebecca Horner begeistern. Mit Choreografen wie Jiří Bubeníček und Christopher Wheeldon bevölkern auch Werke junger begabter Choreografen das Repertoire: Manuel Legris hat als Ballettdirektor ganze Arbeit geleistet – seit er 2010 die Truppe übernahm, zog das Niveau in jeder Hinsicht kräftig an, und das scheinbar mühelos, ganz ohne Verkrampfung.

Also: Auf ein Neues, auf ein neues frohes, auch frivoles Jahr, und möge es angefüllt sein mit guten Gefühlen – und hervorragendem Ballett!
Gisela Sonnenburg

Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker mit der choreografischen Arbeit von Jiří Bubeníček am 1. Januar 2016 um 11.15 Uhr im ORF (Fernsehen) – und auf 3sat: am 3. Januar 2016, 20.15 Uhr

Iana Salenko tanzt im „Nussknacker“: noch einmal am 1.1. um 18 Uhr mit dem Staatsballett Berlin

„Duato / Kylián“ beim Staatsballett Berlin ab 2. Januar

„Kylián / van Manen / Cranko“ wieder ab 4. Januar beim Stuttgarter Ballett

„Verklungene Feste / Josephs Legende“ ab 4. Januar beim Wiener Staatsballett

„Sinfonie in C / In the Night / Adam is“ beim Bayerischen Staatsballett in München wieder ab 29. Januar

„Winterreise“ ab 2. Februar beim Hamburg Ballett

„La Bayadère“ ab 27. Februar in der Semperoper Dresden

„Dornröschen“ beim Staatsballett Berlin: ab 2. Juni 2016 in der Deutschen Oper Berlin

 

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