Grenzgänger der Winterwelten Text mit Verlosung: Aurora Dickie debütierte als Clara in „Der Nussknacker“ beim Staatsballett Berlin – und ballet-journal-Lesern locken Gewinne!

"Der Nussknacker" verändert sich mit jeder Besetzung.

Ein vor Freude strahlendes Tanzpaar: Die besonders natürlich wirkende Aurora Dickie nach ihrem Rollendebüt in „Der Nussknacker“ mit ihrem hervorragenden Prinzen Mikhail Kaniskin am 25.12.15 in der Deutschen Oper Berlin. Bravo! Foto: Gisela Sonnenburg

Überraschung! Die junge Aurora Dickie vom Staatsballett Berlin gab ihr Debüt als Hauptdarstellerin im „Nussknacker“! Wie sie ist? Zuerst mal, was sie nicht ist: Sie ist keine niedlich-neckische „Zuckerpuppe“ Clara, wie Berlins zierlicher Superstar Iana Salenko, die diese Partie Neujahr 2016 tanzt und die damit sinnbildlich die große Achterbahn des Lebens zeigt. Aurora Dickie ist aber auch nicht so ladylike-elegant wie Krasina Pavlova, die den Teenagerschmelz der Clara mit Vampflair peppt. Und sie fährt auch nicht vorrangig das Geschmeidig-Hoheitsvolle auf, das Elisa Carrillo Cabrera in diese Rolle einzubringen weiß. Dafür aber ist Aurora Dickie ein Ausbund an unschuldiger Lebenslust, ein Funken sprühendes kleines Wunder an adretter Freundlichkeit. Sie wirkt besonders natürlich, und ihre Clara ist von daher wie das nette Mädchen von nebenan. Nur eben im Ballerinenformat! Für die möglichen Interpretationen des Stücks hat das Folgen…

Es ist schon erstaunlich, dass ein Ballett mit derart viel „Fassadenkunst“, also mit scheinbarer Oberflächlichkeit, wie „Der Nussknacker“ in jeder neuen Besetzung tatsächlich eine eigene Tiefeninterpretation erfahren kann. Die Inszenierung von Vasily Medvedev und Yuri Burlaka lehnt sich dabei eng an die Uraufführung von 1892 in Sankt Petersburg an. Das Staatsballett Berlin geht mit dieser Fassung zurück zum Original des Stücks, nachdem „Der Nussknacker“ in zahllosen Varianten immer wieder neu gedeutet wurde. Sogar Bühnenbild und Kostüme ließen Medvedev und Burlaka von Originalfotos und nostalgischen Figurinen inspirieren.

"Der Nussknacker" verändert sich mit jeder Besetzung.

Großer Applaus mit Standing Ovations am Schluss für die Tänzerinnen und Tänzer vom Staatsballett Berlin am Ersten Weihnachtsfeiertag 2015 nach „Der Nussknacker“ in der Deutschen Oper. Foto: Gisela Sonnenburg

Dennoch haben die beiden nicht alles haargenau rekonstruiert, sondern der Sache durchaus den eigenen Stempel aufgedrückt. Der Hauptfigur, dem träumenden Mädchen Clara, lassen sie dabei erfreulich viel Spielraum, was wiederum die individuelle Interpretation durch die jeweilige Protagonistin begünstigt. In der Deutschen Oper Berlin ändern sich die Nuancen der Inszenierung mit der Besetzung der weiblichen Hauptfigur, der Clara: Mit ihr erschließt sich der Mädchenpart mal hauchzart-feinfühlig (wie mit Iana Salenko und Krasina Pavlova), mal mehr zielstrebig-reifend (wie mit Elisa Carrillo Cabrera und Aurora Dickie). Da ist es allerdings dann kein Spaß mehr, dass der Ausflug ins Fantasieland von Konfitürenburg für sie zur Reise ohne Wiederkehr gerät…

Unter der Oberfläche des heiter glitzernden Tanzlibrettos aus Weihnachtsfest und Wunderland lauern denn auch dunkle Zwischentöne.

Doch der Reihe nach. Zunächst stimmt die Ouvertüre, wie das ganze Stück von Peter I. Tschaikowsky komponiert, fabelhaft und vor allem sehr melodiös vom Orchester der Deutschen Oper Berlin unter der Leitung von Anton Grishan gespielt, auf die Märchenwelt rund um den Nussknacker-Zauber ein.

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Anton Grishanin, der Dirigent, freute sich an Weihnachten auch über den starken Schlussapplaus für seine melodiöse Interpreration von „Der Nussknacker“ in der Deutschen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Da fliegen Schneebälle, da wird gescherzt und gelacht. Ein gewisser Drosselmayer verteilt Geschenke an die Armen. Dann wird in der präsidialen Villa des Präsidenten Silberhaus (nomen est omen! Es handelt sich um einen sehr begüterten Haushalt) Weihnachten gefeiert. Mit Christbaum und guter Laune, mit höfischem Tanz, Kindervorführungen  und prächtigen Kostümierungen (die Tatiana Noginova nach historischen Vorbildern entwarf).

Clara wird im ersten Akt als Kind gezeigt und wurde in der Weihnachtsbesetzung von der sehr begabten, aber etwas zu eitel auftretenden Schülerin Elena Iseki von der Staatlichen Ballettschule Berlin getanzt.

Ihr Weihnachtsgeschenk, das sie von Drosselmayer erhält (er ist hier überhaupt für die Geschenke zuständig), ist ein Nussknacker, den sie vom ersten Moment an „personifiziert“: Sie macht ihn umgehend zu ihrem ganz persönlichen  kleinen Traummann. Das bleibt er auch, bis zum Ende des Stücks. Clara und ihr  Nussknacker – sie werden nämlich wirklich ein Paar.

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Michael Banzhaf als Drosselmayer: ein großzügiger Mann, der trotz Sehbehinderung nicht verbittert wirkt. Hier schenkt er dem Mädchen Clara in der Premierenbesetzung von 2013 den „Nussknacker“, im gleichnamigen Ballett beim Staatsballett Berlin. Foto Gisela Sonnenburg

Es ist denn wohl auch kein Wunder, dass dieses Kind nur darauf gewartet hat, sich eine Bezugsperson zu erfinden. Ihr Verhältnis zu den Eltern, die feudalistisch-repräsentativ leben, ist nämlich recht kühl. Und auch das fröhliche Gehampel mit den anderen Kindern kann nicht darüber hinweg täuschen, dass Clara wohl doch im Grunde ein ziemlich einsames Kind ist. Mit Bruder Fritz (ausdrucksvoll: Luke Ruben Talirz) versteht sich Clara auch nicht wirklich gut. Ruppig reißt er ihrem neuen Darling, dem Nussknacker, den Kopf ab. Zum Glück kann Pate Drosselmayer das reparieren.

Allerdings ist der Pate Drosselmayer (einfach unersetzlich toll: Michael Banzhaf) mehr so etwas wie ein schräger Vogel, ein Spaßmacher und Magier wie aus einer anderen Welt, als dass er den Alltag des Kindes Clara im Hause Silberhaus wirklich gestalten könnte. Irgendwie liegen da die Fluchtpläne schon in der Luft.

Aber dann! Kaum wird es Nacht, erwachen all die bösen Gedanken, die Clara verfolgen, zu einem märchenhaften Geschehen.

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Arshak Ghalumyan tanzte furios den bösen Mausekönig am Ersten Weihnachtstag 2015. Hier ist Leonard Jakovina, der heute künstlerischer Ballettdirektor in Zagreb ist, in der Rolle zu sehen, als Premierenbesetzung von 2013. Foto: Bettina Stöß

Sie werden ausgelebt und wie in einer Freud’schen Traumarbeit bewältigt. Der böse Mausekönig (mit drollig-virtuosen Sprüngen brilliert hier mal wieder Arshak Ghalumyan) taucht auf, und seine Mäuse im Gefolge wollen die Macht übernehmen.

Aber Claras Traummann, der Nussknacker, geht mit seinen Zinnsoldaten tapfer dagegen an. Die Schlacht wird gewonnen, jedoch: Der Traummann ist verwundet.

Da liegt er nun, hilflos und scheintot, der schöne Jüngling in Uniform. Es ist schon fast Kriegsromantik, was man sieht.

Und erst jetzt erfolgt Claras erster Auftritt als erwachsene junge Frau: Während Drosselmayer in seinem wehenden Zaubermantel noch einmal die Bühnenrampe entlang geht und dabei unauffällig die Gesichtsmaske des Nussknacker-Prinzen einsammelt, mutiert, sozusagen beim Trauern, während des Verlustschmerzes, das dort kauernde kleine Mädchen zur erwachsenen Clara. Das Kind geht, die junge Frau ersetzt sie.

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Michael Banzhaf, Aurora Dickie und Mikhail Kaniskin beim tosenden Schlussapplaus nach „Der Nussknacker“ am 25.12.15 in der Deutschen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Ob es sich nun um einen Traum oder um ein märchenhaftes Geschehnis handelt, bleibt offen. In vielen „Nussknacker“-Inszenierungen, so in denen von Rudolf Nurejev, John Neumeier und Aaron S. Watkin, ist es wichtig, dass es eine Rahmenhandlung gibt und dass das fantasievolle Mittelstück „nur“ ein Traum der Hauptfigur ist bzw. als nächtliches Geheimnis (bei Neumeier) wie ein Traum gehandhabt wird. Dieser Traum hilft, die Realität zu verarbeiten – und sogar zu verändern. Und es ist von Bedeutung, dass am Ende wieder die bürgerliche Welt, die Realität steht.

Im Original von Petipa / Iwanow und auch bei Medvedev / Burlaka gibt es hingegen für Clara keine Rückkehr mehr aus der Welt der überdrehten Fantasie.

Sie reist mit ihrem Prinzen, dem Nussknacker-Prinzen, in ein weit entferntes Paradies. Sie sind dann geflohen, abgetaucht für immer – der Prinz und Clara werden dort sogar inthronisiert, sie werden also die Regentschaft für ein ganzes, wunderbares Land übernehmen.

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Froh sein in Konfitürenburg: beim Staatsballett Berlin ist dieses Süßigkeiten-Paradies im „Nussknacker“ auch ein Augenschmaus! Foto: Bettina Stöß

Dieses Märchen ist nun auch inhaltlich weit entfernt von der Realität der Clara im ersten Akt. Die kleine Außenseiterin, die sich von niemandem beschützt und verstanden fühlt, sie vertraut sich nur darum ganz dem Paten Drosselmayer an, weil sie sonst niemanden hat. Darum ist sie auch sein Liebling. Er schenkt ihr den Nussknacker, kein gewöhnliches Geschenk, und prompt erhebt Clara die hier auch noch mechanisch laufende Puppe zu ihrem Lebenssinn. Man kann sagen: Clara verliebt sich auf den ersten Blick in den Puppenmann.

Drosselmayer, der zunächst nur über Zaubertricks wie dem verfügt, aus einem Stock erblühende Blumensträuße vorzuzeigen, erlangt erst in Claras Traumwelt wahre Magierkräfte. Da verhilft er ihr dann dazu, aus der Puppe einen Mann aus Fleisch und Blut – sogar einen regierungsbefähigten Prinzen – zu machen.

Keine schlechte Karriere für ein Spielzeug, und auch für Clara ein nachgerade märchenhafter sozialer Aufstieg.

Aber ihr erster Auftritt als erwachsene, heiratsfähige junge Dame ist noch gar nicht so glorios, sondern vielmehr beinahe tragisch: Clara sitzt beim Prinzen und weint, weil sie den bewusstlosen Nussknacker-Mann für tot hält.

Wir befinden uns mit dieser Szene am Ende des ersten Akts, in einem Zauberwald, der noch längst nicht von glücklich tänzelnden Schneeflocken beseelt ist, sondern der düster und wie ausgestorben wirkt.

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Einfach hinreißend, werktreu im historischen Sinn und von allen mir bekannten „Nussknackern“ unübertroffen: Das Schneeflocken-Ballett von Medvedev / Burlaka beim Staatsballett Berlin. Foto: Bettina Stöß

Es ist eine ausgesprochene Winterwelt, in die Clara hier mit ihrer Trauer hineingestolpert ist, und diese kalte, tote Welt begegnet dem weinenden Mädchen mit der entsprechenden Düsternis.

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Noch einmal das wunderschöne „Schneeflocken“-Ballett vom Staatsballett Berlin. Sicher eines der schönsten Ballets blancs der Ballettgeschichte! Foto: Bettina Stöß

Clara ist damit aus der weihnachtlichen Winterwelt ihres Elternhauses – das für sie ja auch gefühlskalt war – in einen status intermedius, einen Übergang, verfallen. Betrachtet man den Zauberwald als Spiegel von Claras Befindlichkeit, so hat ihre innere Trostlosigkeit hierin ihren traurigen, negativen Höhepunkt erreicht.

Drosselmayer hilft da wie ein deus ex machina, wie ein Gott, der von außen dazu kommt und in größter Not den Ausweg weist. Nicht nur, dass der von Drosselmayer demaskierte Nussknacker-Prinz ein Mann und als solcher höchst  lebendig wird. Drosselmayer schickt seinen Liebling Clara mit ihrem Wunschprinzen auch noch auf den tollsten Trip ins Paradies.

Berlins Erster Solist Mikhail Kaniskin als Prinz Coqueluche (diesen Namenszusatz trägt er hier) bewährt sich ein weiteres Mal als wunderschöner Held, der zudem kompatibel mit jeder Dame an seiner Seite  zu tanzen vermag – und der auch seine Rollengestaltung exquisit anzupassen weiß. Das ist ein großes und zudem seltenes, wiewohl doch so wichtiges Talent in der Ballettwelt!

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Ein Blick in das sehr schön gearbeitete und besonders stilvoll gestaltete Programmheft vom Staatsballett Berlin zu „Der Nussknacker“ zeigt historische Figurinen… Faksimile: Gisela Sonnenburg

Der Name „Coqueluche“ heißt hingegen übersetzt: „Keuchhusten“. Mir ist keine andere „Nussknacker“-Version bekannt, in der der Nussknacker-Prinz diesen Namenszusatz hat. Weder bei Yuri Grigorovich, der den Klassiker beim Bolschoi Theater kreierte, noch bei George Balanchine, der in den USA eine hochkarätige neoklassizistische Version schuf noch sonstwo ist mir dieser „Keuchhusten“-Aspekt untergekommen.

Also hakte ich nach. Choreograf Vasily Medvedev, den die Dramaturgin des Staatsballetts Berlin, Annegret Gertz, auf mein Bitten danach dankenswerterweise befragte, ließ mitteilen, dass der „Coqueluche“-Vorname tatsächlich auf Marius Petipa zurückgeht. Es handelt sich also um authentischen Humor aus dem 19. Jahrhundert bei dieser Namensgebung – auch wenn die  etwas sarkastische Spielerei nicht unbedingt typisch für die hehre Ballettwelt ist.

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Die Bouffons, lustig springende Narren, bestehen aus Schülern der Staatlichen Ballettschule Berlin und werden angeführt von Alexander Shpak, der Demi-Solist beim Staatsballett Berlin ist. Ein Hit ist diese kleine Jungs-Nummer! Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Petipa schmiedete seine „Nussknacker“-Pläne aufgrund der von Alexandre Dumas dem Älteren erstellten französischen Fassung der ursprünglich deutschen Novelle „Nussknacker und Mausekönig“ von E. T. A. Hoffmann. Das mag nun eine Rolle gespielt haben: Zwar sind die meisten Namen im Ballettoriginal vom „Nussknacker“ deutsch, aber die Zuckerfee als Wunsch-Identität von Clara taucht ebenfalls mit einem französischen Namen („Fée dragée“) bereits im Original-Libretto auf.

Dazu passt, dass Französisch im russischen Zarenreich die Sprache der Bildung und der Oberschicht war.

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Patricia Zhou und Alexander Korn tanzten mit viel Spaß an der Freud‘ das chinesische Pärchen ( Danse chininoise) im „Nussknacker“ am Ersten Weihnachtstag in der Deutschen Oper Berlin. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Auch die Tanzeinlagen im zweiten Akt tragen französische Namen, vom „Danse espagnole“, dem Spanischen Tanz, über den „Danse orientale“, dem Orientalischen Tanz, und den „Danse chinoise“, dem Chinesischen Tanz, bis zur „Mère Gigogne“, der barocken Übermutter, deren Reifrock sechs kleine Mädchen entspringen.

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Giacomo Bevilacqua, Soraya Bruno, Elinor Jagodnik, Jordan Mullin und Georgeta Varvarici begeisterten mit dem „Danse orientale“ im „Nussknacker“ mit dem Staatsballett Berlin in der Besetzung am Ersten Weihnachtstag. Foto vom Schlussaplaus: Gisela Sonnenburg

Das Traumland „Konfitürenburg“ ist also französisch geprägt, und ursprünglich gab es darin noch eine ganze Batterie von Feen, die ebenfalls alle französische Namen trugen.

Man könnte also zuspitzend deuten, dass der deutschen, drögen, herzlosen Präsidentenwelt die raffinierte, verzuckerte, warmherzige französische Feenwelt entgegen gesetzt wird.

Auch wenn die Mutter des Prinzen hier einfach nur „Königin“ heißt, also nicht mal französisch tituliert ist, geschweige denn, dass sie eine Fee mit eigenem Namen sein könnte. Vielleicht zeigt sich hier doch ein Stück weit patriarchale Geringschätzung des weiblichen Oberhaupts.

Clara tanzt jedenfalls das berühmte Zuckerfee-Solo zur Melodie der Celesta, einem besonderen, glockenartig klingenden Instrument, selbst – das ist der Gipfel ihrer Ich-Findung und somit das Gegenstück zu jenem traurigen Moment im düsteren Zauberwald, bevor der Prinz Coqueluche ihr Tanzpartner wurde.

Denn was tun Clara und Coqueluche, sowie er dank Drosselmayers Zauber und auch dank Claras sanftmütig trauernder Frauenliebe erwacht? Sie tanzen!

Sie absolvieren einen ersten Pas de deux des Kennenlernens, eine behutsame Annäherung voll Sympathie und wachsender Offenheit. Wunderbar zart fasst Kaniskin, der am Bolschoi geschult wurde und der vor seiner Berliner Wirkungsstätte in Stuttgart als Primoballerino reüssierte, seine neue Partnerin an.

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Fein und anmutig: Aurora Dickie als Clara beim Schlussapplaus nach „Der Nussknacker“ am Ersten Weihnachtstag in der Deutschen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Aurora Dickie wiederum verfügt über ein hohes Maß an Anmut und Energie, das sie freigiebig und ohne Hemmnisse ausströmen und weithin wirken lässt. Flirrend tanzt sie die frisch Verliebte, ohne aufgesetzte oder „heuchelnde“ Gestik. Das ist bezaubernd anzusehen!

Sie gestaltet ihre Clara weniger mit schauspielerischen Finessen als vielmehr mit einer sportlich-straffen, dennoch federleicht einher kommenden Körpersprache. Da ist die gestreckte Fußspitze ein Statement fürs Glücksempfinden, und die filigran in den korrekten Posen gehaltenen Arme stehen für die Bereitschaft, dieses Glück auch mitzuteilen und dennoch festzuhalten.

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Mikhail Kaniskin, ein stolzer Prinz mit Moskowiter Schulung des Bolschoi, beim kräftigen Schlussapplaus nach dem „Nussknacker“ am Tag des Debüts von Aurora Dickie in der Deutschen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Obwohl sie keine ganz grazile Figur hat, also sehr schön dem falschen Magersuchtsideal entgegen wirkt, hebt und wirbelt Mikhail Kaniskin sie behände durch die Luft. Ein aufregendes Paar sind sie, das zunächst schüchterne, dann immer mehr vertrauende Mädchen, und der souveräne, auf ihre Schüchternheit eingehende junge Mann.

Es wunderschön zu sehen, wie die gebürtige Brasilianerin Aurora Dickie, die erst 2015 nach Berlin kam und zuvor beim Washington Ballet tanzte, mit dem Moskowiter Mikhail Kaniskin, der vor seiner Berliner Laufbahn beim Stuttgarter Ballett reüssierte, harmoniert. Während er schon seit Jahren Erster Solist ist, wurde sie soeben erst zur Solistin befördert. Glückwunsch!

Allerdings macht sein Rollen-Name, dieses „Prinz Coqueluche“, also „Prinz Keuchhusten“, doch nachdenklich. Tanzt Clara da etwa mit einer im 19. Jahrhundert für Kinder nicht selten tödlich endenden personifizierten Erkrankung?

Eine ganz brutale Interpretation würde besagen, dass ihre Reise mit diesem Prinzen eine Reise in den Tod ist. Das Wunderland „Konfitürenburg“ wäre dann eine letale Fieberfantasie; Claras Krönung am Ende des Stücks entspräche dann schon dem finalen Ausstoß von Glückshormonen, den die Sterbeforschung verifizierend festgestellt hat.

Zumindest steht fest, dass es für diese Clara keinen Weg zurück in die reale Welt gibt, keine Spur führt sie wieder in das für sie trotz Weihnachtsbaum und Kindertralala keineswegs beglückende Elternhaus mit einer Familie, die zwar fröhlich sich selbst befeiert und befeiern ließ, die aber in sich unstimmig und vermutlich auch stark traumatisierend auf Clara gewirkt hat.

Tapfere Clara! Sie ist eine Grenzgängerin der Winterwelten.

Sie hat uns ja im ersten Akt kein Psychodrama hingelegt, sie war nicht hysterisch, nicht wütend, nicht aufbrausend, nicht unzufrieden. Sie hat sich fleißig bemüht und sich zusammen gerissen, wie es Mädchen in aller Welt tun, wiewohl sie unterdrückt, bevormundet, benachteiligt werden.

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Michael Banzhaf als Drosselmayer, mit Augenklappe, aber auch mit viel souveränem Humor. Hier beim Schlussapplaus nach „Der Nussknacker“ beim Staatsballett Berlin. Foto. Gisela Sonnenburg

Drosselmayer als ihr guter Pate hingegen erkannte ihr Leid und konnte ihr helfen. Er verschaffte ihr mit der Reise nach Konfitürenburg eine neue Identität, eine neue, absolut hervorragende Existenz. Zu schön, um wahr zu sein? Ist es wirklich das Paradies, das Totenreich, in das er Clara schickte?

Dafür spricht in der Tat, dass Drosselmayer laut Libretto-Text auf dem Besetzungszettel vom Staatsballett Berlin als einziger Konfitürenburg verlässt und erneut auf Reisen geht. Szenisch sehen wir das nicht, denn das Bühnenstück endet mit der Huldigung der Bewohner dieses Fantasiens dem neuen, jungen, glückstrunkenen Herrscherpaar.

Aber im Text steht es: „Er geht wieder auf die Reise. Die Wunder gehen weiter…“ Wir sollen also hoffen, dass uns Drosselmayer einstmals auch begegnen wird. Oder unseren Kindern, so diese unglücklich und unverstanden oder zumindest träumerisch veranlagt sind.

Sollen wir hoffen, weil er ein guter Geist ist? Oder ist Drosselmayer gleichzeitig auch ein Todesbote? Eine Art Überengel?

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Retter oder Todesbote? Man kann, wenn man will, weit gehen bei der Interpretation… hier Michael Banzhaf als Drosselmayer beim Schlussapplaus nach dem „Nussknacker“ vom Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Tatsächlich besiedeln, bevor die Trinität Drosselmayer, Coqueluche und Clara im goldenen Schlitten „Konfitürenburg“, also das Paradies,  erreicht, lauter kleine Engel (getanzt von Kindern der Staatlichen Ballettschule Berlin) die Bühne. Putzig sehen sie aus, aber auch „heilig“, und ihre goldenen Flügelchen scheinen sie von weither in dieses Zwischenreich, durch das Clara reisen muss, mit guter Absicht getragen zu haben. Sie halten den Weg frei von Teufeln und bösen Geistern und halten womöglich auch die bösen Wünsche der ekligen Verwandtschaft, etwa des hier doch sehr unerzogenen Bruders Fritz, von den Liebenden fern.

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Lauter kleine Engel bevölkern die Bühne… auch beim Schlussapplaus nach „Der Nussknacker“ vom Staatsballett Berlin am Ersten Weihnachtstag. Sie werden sehr fein getanzt von Schülern der Staatlichen Ballettschule Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Warum sonst tauchen denn hier Engel auf, zu einem Zeitpunkt, als es schon längst kein Weihnachtsambiete mehr auf der Bühne gibt, wenn es sich nicht um einen Himmelskontext mit Todeserfahrung handeln soll?

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EIn Englein macht noch keinen ganzen Himmel, aber wenn danach ein Paradies der Süßigkeiten auftaucht? Hier einer der begabten Schüler der Staatlichen Ballettschule Berlin beim Schlussapplaus nach „Der Nussknacker“ in der Deutschen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Es ist ein kindliches Paradies, das Clara imaginiert, „Konfitürenburg“ ist ja eindeutig als Schlaraffenland für Kinder, die auf Süßigkeiten versessen sind, gemeint. Mit irgendwelchen „seriösen“ christlichen Vorstellungen vom Himmelreich hat das Ganze natürlich nichts zu tun. Das Christentum ist ja auch – wie alle Religionen – im Grunde unbefriedigend. Erfundene Gottheiten anzubeten, mag für Nervenschwache beruhigend und für Verantwortungslose moralisch sein. Faktisch aber werden Religionen vor allem als Herrschaftsinstrument eingesetzt, um den menschlichen Verstand auszuschalten. Religion ist immer eine Vorstufe von Fanatismus und somit auch von Faschismus. Sie ersetzt Werte, die eine Gesellschaft sich eigenverantwortlich setzen sollte, durch vorgegebene Schablonen. Nun ja, es ist unwahrscheinlich, dass Medvedev und Burlaka daran gedacht haben. Aber ihre Inszenierung lässt diesen Interpretationsspielraum wirklich zu.

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SIe verstehen sich himmlisch: Michael Banzhaf als Drosselmayer und die Engel von der Staatlichen Ballettschule Berlin beim Schlussapplaus nach „Der Nussknacker“ in der Deutschen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Drosselmayer ist darin sozusagen ein Aufklärer mit heilsamer Kraft. Ohne sichtliche Medizin, aber mit wirksamer Heilenergie verlebendigt er die Nussknacker-Figur. Und er geleitet Clara in ihr ganz persönliches Himmelreich, lässt sie dann auch dort – wie ein Schamane, der für Weltentrückung sorgt. Oder auch wie ein Sozialarbeiter, der ein unglückliches Kind an einen neuen Ort versetzt. Besser könnte es der Weihnachtsmann selbst natürlich auch nicht machen, oder?

Drosselmayer lässt Clara und ihren Keuchhusten-Prinzen bei all den bunten Mächten aus dem In- und Ausland – dargestellt von den verschiedenen Folklore-Tänzern und den Divertissements – ausnahmslos glücklich sein; er schenkte Clara ihr ewiges Paradies aus Zuckerwerk, Rohrflöten und munteren Gefährtinnen und Gefährten. Diese werden dann sogar Untertanen – was durchaus für eine fast übertriebene Kinderfantasie spricht, für den Wunsch einer unterdrückten Kinderseele nicht nur nach Befreiung, sondern sogar nach einer Verkehrung der Rollen.

"Der Nussknacker" verändert sich mit jeder Besetzung.

Applaus, Applaus! Alle genießen das, die Zuschauer und natürlich die Künstler. Hier nach „Der Nussknacker“ am 25.12.15 in der Deutschen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Als angehendes Herrscherpaar müssen Coqueluche und Clara aber zuvor tanzen, und zwar den herrlich-kostbaren Grand pas de deux, der nach allen Regeln der klassischen Tanzkunst choreografiert ist.

Am Anfang war Aurora Dickie hier noch ein ganz kleines Bisschen unsicher, was bei so einem Debüt absolut normal ist und ohnehin nur für routinierte Kenner des Stücks überhaupt wahrzunehmen war. Mikhail Kaniskin nahm sich dafür – ganz Gentleman – passenderweise ebenfalls etwas zurück. Wie aquarelliert wirkte dieses Tanzpaar dadurch. Eigentlich wunderbar! Doch dann drehten sie langsam, aber sicher auf. Beide veranstalteten ein Fest für die Sinne mit ihrem Können! Und zu den Grand jetés in der Rotunde, die Kaniskin mit blendender Bravour absolvierte, gesellten sich putzmuntere Fouettés von Aurora Dickie. Dabei liegen ihr sympathischerweise gerade auch kleinteilige, verzwickte Kombinationen, wie sie sie im Zuckerfeen-Solo, das hier in den Grand pas de deux integriert ist, zeigen kann.

"Der Nussknacker" verändert sich mit jeder Besetzung.

Viel Spannung, viel Spaß: mit dem „Nussknacker“, hier der Schlussapplaus mit Mikhail Kaniskin und Aurora Dickie nach ihrem Debüt am 25.12.15 beim Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Am Ende thront sie auf seinen Schultern, als seine Herzensprinzessin, und die Welt – gleich, ob sie real oder nur erträumt ist – könnte nicht schöner sein.

Das würde auch für die harte Interpretation des Paradieses gelten.

Die zweite Art der möglichen Interpretation spricht Drosselmayer derart  viele Zauberkräfte zu, dass er Clara in ein Paralleluniversum versetzt hat, und zwar in ihr Wunschuniversum. Wahrhaft märchenhaft wäre das: Neben der bekannten großbürgerlichen Winterkälte gäbe es also ein  Land des ewigen süßen Sommers, eben Konfitürenburg. Eine Art Tropical Island, sozusagen.

"Der Nussknacker" verändert sich mit jeder Besetzung.

Und noch eine Verbeugung: Das Staatsballett Berlin beim Schlussapplaus nach „Der Nussknacker“ am Ersten Weihnachtstag in der Deutschen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Claras neue Identität könnte als Belohnung gedeutet werden: Als Geschenk für ihre Tapferkeit und ihre Liebe darf Clara als Herrscherin des ewig süßen Sonnenlandes regieren…

Tragische Tiefe hat das Märchen bei dieser Deutung allerdings nicht mehr, dafür aber hoffnungsvolles Utopiepotenzial. Man muss sich entscheiden, wie man es sehen und deuten möchte!

So oder so: Das Liebesglück durch neue Freunde und durch eine königliche Ersatzfamilie, von der Clara ohne Vorbehalt und ohne weitere Prüfung akzeptiert wird, ist ein von Drosselmayer inszeniertes Universum. Ausdrücklich taucht er laut Libretto-Text hier als der Zeremonienmeister von Konfitürenburg auf.

"Der Nussknacker" verändert sich mit jeder Besetzung.

Im Grunde ist es laut Libretto seine Show: Drosselmayer alias Michael Banzhaf beim Schlussapplaus, mit vielen „Bravooohs“ bedacht. Nach dem „Nussknacker“ am 25.12.15 in der Deutschen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Und er muss sich, um abzureisen, erst wieder in den guten alten Drosselmayer zurückverwandeln. So gesehen, war das Ganze seine Show, und wie das Märchen wirklich ausgeht, muss sich demnach jede(e) Zuschauer(in) selbst ausdenken.
Gisela Sonnenburg

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Wählen Sie bitte am Sonntag, dem 27. Dezember 2015, zwischen 17 und 17.30 Uhr, folgende Handy-Rufnummer der Redaktion: 0177 – 28 38 94 0 – und Sie haben die Chance, zwei Freikarten für die Neujahrs-Vorstellung vom „Nussknacker“ mit dem Staatsballett Berlin in der Deutschen Oper zu gewinnen! Als Trostpreise gibt es etwas langfristig Nützliches, das mit „T“ anfängt… mit freundlicher Danksagung ans Staatsballett Berlin!

Die Neujahrsvorstellung beginnt (am 1.1.16) um 18 Uhr in der Deutschen Oper Berlin.
Sonstige Vorstellungen: siehe „Spielplan“
Weitere Texte zum Berliner „Nussknacker“ bitte unter „Staatsballett Berlin“ hier im ballett-journal.de – z. B. diesen:

www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-nussknacker-pavlova/

Texte zu anderen „Nussknackern“ in diversen Rubriken.

Infos zum Staatsballett Berlin:
www.staatsballett-berlin.de

 

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