Der Titel verheißt ideales Wortgeklingel: „Tanzausbildung im Wandel“ – da erwartet der interessierte, in den letzten Jahren von etlichen Skandalen geschüttelte Ballettpädagoge etwas Besonderes. Doch was der Dachverband Tanz (DT) und die Hochschule für Musik und Tanz München (HMTM) da gemeinsam als groß angelegtes Symposium – mit 100 Mitwirkenden vor Ort in München und 50 weiteren Mitwirkenden online – ausbaldowert haben, scheint bei näherem Hinsehen doch nur der übliche kalte Tanz-Kaffee mit gezielt daneben gehenden Schüssen aus Trendgelaber und Kompetenzmangel zu sein. Diversität und Ethik, Gesundheit und Vielfalt – unter diese Schlagworte fallen die meisten Veranstaltungen. Diäten, der alltägliche Wahn bei Ballettmenschen oder auch das lukrative Einkommen von Politikern, die Kunst durch Zuwendung fördern oder eben nicht, bleiben draußen. Trendige Minderheitenfürsorge statt Neudefinierung einer Ausbildung. Der Titel ist also irreführend?
Die massiven Probleme der heutigen Tanzwelt werden fein säuberlich ausgeklammert. Als da sind: Das zunehmende Missverständnis der Profi-Ballettwelt, Tanz sei Leistung und Sport zu Musik, und das zunehmende Missverständnis im Contemporary Dance, Tanz sei möglichst wenig Arbeit mit viel ausgestellter Hässlichkeit. Es ist schon symptomatisch, wofür die Politik derzeit das Geld hergibt: für Weltflucht à la Schönheit als Leistungssport (Ballett) und für exaltierte Leistungsverweigerung (Contemporary). Niemand erwartet, dass dabei wirklich große Kunst herauskommt. Aber eben Karrieren, die man beliebig manipulieren kann, und: eine vom Wesentlichen abgelenkte Zuschauerschaft.
Die Namen der Teilnehmenden sind derweil weitgehend international bekannt, sei es durch Können oder durch Behauptung.
Neben echten Promis wie Julian MacKay, dem trotz seiner Jugend bereits vielseitig und in Moskau auch zum Ballettmeister und Choreografen ausgebildeten neuen Starballerino vom Bayerischen Staatsballett in München, und neben Elisabeth Platel, der ehemaligen Étoile und heutigen ehrwürdigen Chefin der Ballettschule der Pariser Opéra, harren Skandalkids wie Chloé Lopes Gomes in den Startlöchern, um die Welt des Tanzes angeblich Wichtiges wissen zu lassen.
Lopes Gomes soll an einer Diskussion über Diskriminierung in der Ausbildung teilnehmen. Sie wurde allerdings offiziell nicht für ihr Steckenpferd, also ihre dunkle Hautfarbe, eingeladen, sondern weil sie etwas über Gesundheit und Wohlbefinden erzählen will. Nur zu! Sie hat Ruhm erlangt, indem sie die Medien weltweit offenkundig belog, in der Art, sie sei von einer bestimmten Berliner Ballettmeisterin jahrelang rassistisch schikaniert worden. Vor Gericht stellte sich schließlich heraus, dass Chloé ihre Abfindung wohl zu Unrecht abkassiert hatte. Aber da war es schon zu spät. Die meisten Medien mochten nicht widerrufen. Bei Diversität ist ihnen das zu heikel.
Es ist letztlich überall die alte Nummer, in Variationen auch im Tanz: Geh erst mit Dieter Bohlen ins Bett oder stell dir das vor, gib der BILD dann ein Interview dazu – und dann kannste ein Buch dazu veröffentlichen. Oder so ähnlich. Der Weg zum Ruhm führt nicht immer über den Pfad der Ehrbarkeit.
So sind auch Selbstvermarktungstalente wie Anna Beke mit dabei, wenn es gilt, die Tanzausbildung zu revolutionieren. Und natürlich halten sich auch ihre Förderer wie Prof. Jan Broeckx, der nach diesem Artikel bestimmt kein Wort mehr mit mir redet, keinesfalls zurück.
Jean-Yves Esquerre, der mit der Amsterdamer European School of Ballet eine der interessantesten, jüngsten, modernsten und teuersten Ballettschulen der Welt leitet, ist ebenfalls mit an Bord. Ob er sagen kann, was begabte Kinder machen sollen, deren Eltern kein Geld für teure Viertelstipendien übrig haben?
„Mach halt was Anderes!“ – Dieser Rat ist zwar nicht neu, taugt in der Tanzpädagogik aber ungebrochen weiter, wenn es um die Berufswahl geht. Ob der Kongress da Abhilfe schaffen kann?
Immerhin: So genannte nicht normierbare (also nicht normierte) Körper liegen im Trend, verkündete jüngst der Dachverband Tanz. Gemeint sind Figuren, die von der modischen Norm abweichen. Dass sogar extrem ausgefallene Ideale normierbar sind, ist dem Dachverband allerdings zu schön logisch. Lieber negiert man, was die Ratio eigentlich nicht leugnen kann. Symptomatisch?
Nichts ganz Neues also aus der Welt des Tanzes. Ausnahmen mit ungewöhnlichen Figuren gab es unter den Tänzerinnen und Tänzern zudem schon immer, vor allem auch in den 80er-Jahren.
Aber Einer hält durch. Michael Freundt, der durchaus freundliche Geschäftsführer vom Dachverband Tanz in Berlin, hält tapfer einige Fragen aus – und beantwortet sie mit sachlicher Selbstbewusstheit.
Etwa so: Wie lange wurde das Symposium vorbereitet? Freundt: „Die erste Verständigung darüber gab es vor dem Sommer 2021, die Vorbereitungen begannen im Herbst 2021.“
Rund 50.000 Euro stehen für das Zentraltreffen der Tanzpädagogen und ihrer Jünger zur Verfügung, die Gelder kommen jeweils zu einem Drittel von der HMTM, vom DT sowie durch Eintrittsgelder, Spenden, Sponsoren zusammen.
Warum allerdings keine Kritiker und Journalisten unter den Referenten sind, konnte Freundt mir nicht plausibel erklären. Er meint, der Focus solle auf den Pädagogen und Künstlern liegen. Dabei sind auch Wissenschaftler mit dabei, was ja richtig ist, allerdings hätte man vielleicht mal über den schmalen Rand des Üblichen hinausschauen können, was man nicht tat.
Fortschrittliche Allgemeinpädagogen fehlen, dafür ist die für ihren schönen Namen geliebte Mariama Diagne dabei. Die Vorträge, die ich von ihr hörte, strotzten allerdings nur so vor Flachheit und Oberflächlichkeit. Aber sie ist ein Ziehkind der Berliner Tanzwissenschaft, also bitte Geduld.
Warum aber keine aktiven Fachjournalisten und Kritiker? Warum ohne uns? Unser Stand hat viele Vorteile, wenn es darum geht, Fehler und die Möglichkeiten zur Behebung zu sehen.
Immerhin haben Presseleute die jüngsten Skandale hochgefahren, so um falschen Drill und zuwenig Rücksicht, um starke Probleme in der Profi-Ausbildung in Berlin und anderswo oder auch um Diversität mit allem Drum und Dran. Und sie haben auch aufgeklärt.
Man sollte als Journalist zudem Zeit und Muße haben, sich Gedanken zu machen. Das ist etwas, das für Künstler, Forscher und Pädagogen nahezu Luxus geworden ist, denn sie hängen in Systemschleifen und Tretmühlen des tänzerischen Alltags fest. Zumal die Tanzausbildungen überwiegend staatlich bzw. staatlich finanziert sind.
Die überwiegend nicht-staatliche Presse soll hier jedoch nur berichten, meint Herr Freundt – und er hat damit unwissentlich eine ähnliche Erwartungshaltung an Journalisten, wie die Nazis sie hatten. Es tut mir wirklich Leid, aber der NS-Verfolgte Marcel Reich-Ranicki höchstselbst wies mich darauf hin, als ich ihn interviewte: Es waren die Nazis, die den Journalisten eine nur berichterstattende Funktion zugestehen wollten.
Denn damit schaltet man die Kritik aus, indem man Journalisten zu reinen Berichterstattern macht. Wandelnde Sprachrohre gibt es allerdings schon in den Systemen genügend, dafür brauchen wir ja keine Presseleute. Wo ist die Würdigung des freien Denkens, wo ist der Respekt vor dem Intellekt?
Vielleicht geht es im Grunde genau darum bei der „Tanzausbildung im Wandel“? Soll das bisschen Intellekt, über das Tanzschaffende heute noch verfügen dürfen, nun endlich auch abgeschafft werden?
Noch mehr Training und noch mehr Körperpflege, noch mehr Diskurs um die eigenen Nabelschauen, noch mehr Diversität als einziges Ziel und immer weniger inhaltliche Kritik? Immer noch mehr In-der-eigenen-Soße-Schmoren?
Immer noch mehr Themen, die die Politik diktiert?
Bloß nichts und niemanden von außen hereinlassen?
Ist das der beschworene „Wandel“?
Rudolf Nurejew konnte es sich als Ballettschüler im Teenageralter noch leisten, ab und an die Ballettstunden zu schwänzen, um in Leningrad ins Museum zu gehen. Er hätte sonst nie seinen exquisiten Geschmack, den er als Choreograf und Ballettdirektor brauchte, ausprägen können. Bestimmte Dinge muss man nämlich in der Pubertät machen, um eine enge Bindung an sie zu erhalten. Das lässt sich nicht einfach nachholen, wenn man nach zwanzig Jahren Tanz feststellt, dass das ja bald nicht mehr geht.
Berufung ist etwas ganz Anderes als schubladenmäßige Ausbildung.
Die starke Verschulung des so genannten Tanzstudiums heute ist sicher ein weiteres großes Problem. Aber wer von den im übrigen von den Regierungen bezahlten Tanzkräften will heutzutage schon selbständig denkende Künstler heranziehen? Hilfe!
Das Phänomen einer Gesellschaft, die in allen Bereichen auf die Ausbeutung von dressierten Fachidioten setzt, ist sicher nicht allein auf den Tanz zu reduzieren.
Aber um sich selbst zu verbessern, muss der Tanz sich öffnen und nicht nur sich, sondern auch die Welt verbessern wollen. Das kann er immer wieder von Marius Petipa, dem französischen Migranten und Magier des Balletts aus Sankt Petersburg im 19. Jahrhundert, lernen. Oder von Maurice Béjart, dem ebenfalls französischen Tanzmagier mit Kosmopolitenflair. Und sogar von George Balanchine, dem über Paris in die USA ausgewanderten Russen.
Heute, so sagt Freundt, muss der Dialog mit den Russen aber aus Gründen des Krieges unterbleiben. Schade. Damit fehlt die Stimme des Landes, in dem Ballett zu dem wurde, als was wir es heute kennen.
Übertriebenen Mut wollen wir dem DT also nicht unterstellen. Aber vielleicht wollten auch viele Russen nicht. Dazu hätte man mal anfragen müssen.
Aber was Doreen Windolf von der Staatlichen Ballettschule Berlin zu sagen hat – sie war ja als kommissarische Schulleiterin nicht mal in der Lage, eine sinnvolle Gala-Konzeption für ihre Kids zu erstellen – ist bestimmt interessant.
Oder was die Tanzmedizinerin Liane Simmel als neuen Trend so loswerden möchte, ist sicher hoch bedeutsam. Simmel kannte übrigens mal das deutsche Urheberrecht nicht und reagierte ganz schön überheblich.
Sabrina Sadowska schließlich ging wohl schon jedem mal ordentlich auf den Nerven, der sich längere Zeit mit Ballett in Deutschland beschäftigt. Sie ist eine eher mäßig begabte Künstlerin und dafür ganz typische Selbstdarstellerin aus der Provinz, die gern Altruismus vortäuscht. Auch mal gegen gute Bezahlung, versteht sich.
Christopher Powney aus GB hingegen hat so viel erlebt, dass es ganz sicher eine Bereicherung sein wird, ihn zu hören. Lynn Seymour, Nurejew, Glen Tetley, Kilián – der heutige Leiter der Royal Ballet School weiß aus eigener Erfahrung, was hochkarätige Tanzkunst sein kann.
Osiel Gouneo schließlich steht wie Julian MacKay für eine Internationalität, die es so wohl nur im Ballett gibt. Disziplin verbindet, könnte man das Leitmotiv seines Lebens nennen – der Kubaner ist einer der besten Tänzer der Welt und somit zugleich einer der freundlichsten Konkurrenten von Julian MacKay beim Bayerischen Staatsballett.
München leuchtet also mal wieder sehr – schalten Sie ein und, wenn nötig, auch bald wieder ab! Der Anmeldevorgang für 50 Euro / 25 Euro ist allerdings abgeschlossen, für 25 Euro / 12,50 Euro war eine Online-Teilnahme möglich. Warum man nicht digital weiterhin dazu kommen kann, bleibt ein Rätsel.
Gisela Sonnenburg
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