Es sind eindringliche Bilder, mit denen Sidi Larbi Cherkaoui, der neue Künstlerische Leiter vom Ballett des Grand Théatre du Genève, seine Ära dort einläutet. Mal marschieren Menschen in hämmerndem Rhythmus eine steile Wand empor, wo später ein nackter Mann der Letzte seiner Art zu sein scheint. Im zweiten Stück verlassen Menschen mit japanisch-kultivierter Anmutung mit einem Gewirr aus Holzstufen die Sphären der Unterdrückung – bis sie sich zu einem Pulk formieren und zu neuem Leben erwachen. „Mondes flottants“ – „Schwebende Welten“ – heißt das Programm, was an das ebenfalls japanisch inspirierte Programm „Fließende Welten“ von John Neumeier von 2010 erinnert. Wie jenes zeigt man auch in Genf zwei außergewöhnliche Stücke, und sie werden von der hervorragend trainierten und beprobten Genfer Company getanzt. Das erste Tanzstück namens „Skid“ („Rutsche“) von Damien Jalet ist ergreifendes und bedrückendes Körpertheater, während die Uraufführung „Ukiyo-e“, die jüngste Schöpfung des neuen Hausherrn, als fein ziselierte Montage aus Gesang, Sprache, Tanz und Percussion besticht. Der die Stücke verklammernde Titel bezieht sich auf die unwirtlichen Welten, in denen wir leben – und in denen wir doch durch Zusammenhalt etwas bewegen können.
Der Abend beginnt mit dem in drei Teile gegliederten „Skid“. Die „Rutsche“ aus dem Titel steht vor uns: eine klinisch weiße Wand, steil aufgerichtet. Oben beim Grat stehen Menschen, von denen sich einer im Zeitlupentempo vortraut. Ganz langsam rutscht er abwärts, im meditativ-achtsamen Modus.
Weitere folgen. Nicht der Einzelne, sondern die Gruppe steht hier im Vordergrund. Hartes Licht lässt sie scharfe Schatten werfen.
Mit geschlossenen Augen erforschen sie den Untergrund, sie tragen langärmelige Oberteile und Hosen, damit sie ihr Rutschen genau dosieren können und nicht von der schwitzigen eigenen Hautoberfläche ausgebremst werden. An den Fußsohlen helfen ihnen Noppen, um sich aufrecht zu halten und nicht abzustürzen.
Die Stimmung ist angespannt, aber nicht hoffnungslos. Die Tanzenden wirken manchmal wie lebende Skulpturen…
Im zweiten Teil von „Skid“ wird der Klang härter, die Rhythmen donnern. Die Menschen bilden Formationen, hüpfen an der steilen Wand, klimmen sich empor, rutschen ab, bilden mal ein V, mal Zickzack-Linien.
Windgeräusche ahmen die Gewalt der Natur nach.
Die Stärke des Zusammenhalts bezaubert.
Doch schließlich – das ist das dritte Element, der dritte Teil hier – erprobt wieder ein Einzelner, wie weit er gehen kann. Er trägt ein gummiähnlich dehnbares gelbes Shirt, dessen verschiedene Enden zu Bändern werden, die ihr Opfer bald wie ein Spinnennetz gefangen halten. Der Mann zappelt darin, gleitet dann aber aus dem Textil – und ist splitterfasernackt.
Wie der letzte Mensch steht er da. Einsam. Ohne Scham, ohne Begehren. Es geht ums Überleben.
Die Musik steigert sich. Wird lauter, immer lauter. Für manche Ohren zu laut. Dennoch passt dieser brodelnde Klangteppich aus dem Syntheziser zur Weltuntergangsstimmung des szenischen Geschehens.
Als der letzte Mensch, der vielleicht zugleich der erste für einen Neuanfang ist, oben ankommt, atmet er noch einmal – und lässt sich dann nach hinten fallen, wie schon andere vor ihm. Aber dieser letzte Fall ins Off ist definitiv der letzte. Was danach kommen mag und was daraus resultiert, muss man als Teil des Publikums selbst entscheiden.
Die Ästhetik dieser Inszenierung lässt niemanden kalt. „Skid“, 2017 in Göteborg in Schweden uraufgeführt, kann sicher zu den bedeutenden Bühnenstücken dieses jungen Jahrhunderts gezählt werden.
Den Tanzenden wird darin viel abverlangt, aber das Ballett vom Grand Théatre du Genève meistert diese Herausforderung mit Bravour.
Choreograf Damien Jalet, ein belgisch-französischer Mittvierziger, der bereits Chevalier des Ordres des Arts et des Lettres in Paris ist, weiß genau, was er macht. Als Choreograf und Regisseur ist er erfahren, und mit Sidi Larbi Cherkaoui kooperiert er seit über zwanzig Jahren. Tanzstücke und Opern haben sie schon äußerst erfolgreich zusammen inszeniert.
Für „Skid“ arbeitete Jalet zudem eng mit dem Lichtdesigner Joakim Brink zusammen, und die sorgsame Ausleuchtung der Körper an der um 34 Grad nach hinten gekippten Wand unterstützt die ernsthafte Aussage des Stücks. Denn inspiriert ist „Skid“ tatsächlich von der physikalischen Erdbeschleunigung.
Man kann sich dazu Fragen stellen: Leben wir zu schnell? Zu achtlos? Sollten wir uns mehr aufs Miteinander konzentrieren?
Diese heimlichen Leitfragen stellt auch das brandneue Werk von Sidi Larbi Cherkoui. „Ukiyo-e“ bezieht sich auf die gleichnamige Kulturepoche in Japan, die im 16. Jahrhundert ihren Anfang nahm und bis ins 19. Jahrhundert hinein reichte.
Tenor dieser Bewegung ist die Emanzipation des Bürgertums vom Feudalismus, denn Japans Kunst war über weite Strecken vom Geschmack und den Absichten des Adels allein geprägt. Mit dem „Welt-Bild“, was „Ukiyo-e“ übersetzt heißt, lösen sich die Künste vom starken Einfluss der Obrigkeit und praktizieren eine mehr demokratisch zu nennende Perspektive.
Da die Schweiz seit dem Mittelalter regional teilweise als Demokratie zu verstehen ist und man bei den Eidgenossen ganz besonders stolz auf die demokratische Entwicklung mit einer Vielzahl direktdemokratischer Wirkungsmöglichkeiten für die Bevölkerung ist, wählte Sidi Larbi Cherkaoui ein delikat passendes Sujet für seinen Einstand in Genf.
Die Analogie zu „Ukiyo-e“ trifft dennoch vor allem unsere heutige gesamte westliche Gesellschaft.
Vier turmartige, mit viel Gestänge konstruierte Holz-Treppen (Bühnenbild: Alexander Dodge) sorgen für eine Sensation im Bühnenbild. Der Sänger und Tänzer Kazutomi „Tsuki“ Kozuki zelebriert japanischen Gesang wie ein akustisches memento mori.
Die Tanzenden bewegen sich dazu wie flanierend die Treppen hinauf und hinab, aber wie in „Skid“ wirkt auch hier das Fallen als Metapher. Erst nach mehrfacher Wiederholung entdeckt man dann, dass die Gefallenen auf der anderen Seite der Treppen von anderen Tänzern aufgefangen werden.
Da ist es schon, das Moment des Zusammenhalts, der Solidarität.
Ansonsten ist die Welt hier mystisch und undurchsichtig, einerseits aufregend, andererseits gefährlich. Ziemlich schnell rollen die Treppentürme hin und her, bevölkern die Bühne als mobile Kulissenteile.
Hinten, am Bühnenhorizont, sind erhöht die Musiker platziert. Rechts die Streicher, links das Piano, außerdem ein Synthi-Artist mit Kopfhörern, der zugleich als Percussionist an einer riesenhaften Trommel tätig ist. Nostalgie und zeitgenössische E-Musik, japanische und westliche Kultur verschmelzen hier, allein schon in der Klangwelt.
Der Komponist Szymon Brzóska schuf ätherisch-verlockende Melodien, die von Brüchen und Aufwallungen durchzogen sind. Alexandre Dai Castaing ergänzte diese Partitur mit knallharten Rhythmen, aber auch weich schwingenden Sounds.
Gruppentänze, auch solche mit minimalistischen Unterschieden von Tänzer zu Tänzer, wechseln mit Soli und Duetten.
Die Kostüme von Yuima Nakazato, die teils silberschwarz, teils gartenbunt sind, sind zu wenden und kommen mit beiden Seiten zum Einsatz.
Die Collage-artigen bunten Kimonos erinnern dabei an die japanische Technik des Kintsugi, bei dem zerbrochenes Porzellan aufwändig mit Goldlack zu Neuem gefügt wird. Um dieses Prinzip geht es dem Tanzschöpfer hier: Aus der Not eine Tugend zu machen, aus Unglück Glück.
Das Aufbegehren gegen das System findet aber keineswegs auf rebellisch-revolutionäre Art statt. Sondern im diskret-asiatischen Stil: Ein Tänzer zeigt ein geschmeidiges Solo mit fließender Armarbeit wie ein künstlerisches Erweckungserlebnis.
Doch egal, was passiert: „Tsuki“ ist immer präsent, wie ein Erzähler oder Berichterstatter mit Gebärdensprache ziehen sich seine Auftritte durch das Stück. Er singt und bewegt sich nicht nur, sondern spielt auch auf der mongolischen Pferdekopfgeige und auch mal auf einer Art Holzquerflöte.
Ob er das alte Japan mit seinen zahlreichen Regeln und Konventionen verkörpert oder ob er im Gegenteil für die Freiheit der Kunst steht, ist nicht entschieden und hier auch nicht entscheidend. Denn nicht die Idee der Weiterentwicklung der Kultur zählt, sondern ihre faktische Veränderung.
Und hier arbeitet der marokkanisch-flämische Choreograf mit Kontrasten. Einer fast munter-lustig wirkenden Szene im Pizzicato-Stil mit großer Leichtfüßigkeit steht eine düstere Gefängnisszene entgegen.
Scharfe Gitterschatten auf dem Boden (Licht: Dominique Drillot) genügen, um das anzudeuten. Das Aufbegehren gegen die etablierten feudalistischen Traditionen ist gefährlich – in der Tat gibt es weltweit genügend Künstler und Intellektuelle in Gefängnissen, um dieses Problem nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Julian Assange, der als Erster beweislegende Fotos und Videos für Kriegsverbrechen der USA in Afghanistan und Irak publizierte, ist hier das aktuell prominenteste traurige Beispiel.
Eine Szene bewegt besonders. Darin spricht eine Frau auf Englisch einen lyrischen Text, der einen ermahnenden Unterton hat. Sie wird umringt von Tänzern, die im Gegensatz zu ihr nicht nach vorn ins Publikum schauen, sondern wie in Trance die Stimmung der Sprechenden aufgreifen und tänzerisch umsetzen.
Von Verlusten und Ängsten ist da die Rede, am Ende auch von der Liebe.
Der Tanz der Männer um die junge Frau herum wirkt organisch und auf eine moderne Art harmonisch, die silberdunklen Kostüme schwingen bei jeder Bewegung nach.
Schließlich sammeln sich die Tänzer hinter ihrer Muse, und einer tritt vor – und küsst sie.
Balancés, sehr präzise synchron ausgeführt, lassen den Gruppentanz jetzt frohgemut wirken. Und die Sprecherin erhält ihren silberschwarzen Mantel als Zeichen der Aufnahme in dieses starke Corps.
Dem gegenüber steht eine weitere Gruppenszene, die sozusagen die Verarmten, die Elendsgestalten des neuen globalen Westens zeigt.
In hautfarbenen Kostümen tragen sie große rote Flecken auf der Haut zur Schau, wirken wie Geschändete. Dennoch geht eine ästhetisch-poetische Aura von ihnen aus.
Und auch hier gibt es Hoffnung, die im Zusammenhalt liegt. Erlesene, wie zufällig gefunden wirkende Posen schweißen die Masse zusammen.
Schließlich ist auch die letzte Szene hier eine der Gruppendynamik. Vor einem schwarz-transparenten Fransenvorhang gehen die Protagonisten im Zickzack gezielt aneinander vorbei. Was für ein Sinnbild für eine Gesellschaft, in der jeder sich selbst der Nächste ist!
Hier „vergeht“ die Gruppe außerdem, sodass die Bühne sich nach und nach leert, weil die Tänzer seitlich in die Kulissen entschwinden.
Das Ende der Menschheit ist das nicht. Aber wir müssen uns – wie nach dem Ende von „Skid“ – selbst Gedanken machen, was kommen wird.
Das Premierenpublikum nahm diese brillante Avantgarde begeistert auf.
Und nur, wer es absolut nicht einrichten kann, in Genf vor Ort diese Reise in die Gegenwart der Kunst mit anzutreten, hat ab dem 22.12.22 die Möglichkeit, sich „Ukiyo-e“ auf arte.tv online anzusehen. Wir raten unbedingt zu beidem, zum Live-Erlebnis wie zur Online-Bildung!
Laura Tiffany Engels / Gisela Sonnenburg
Ein Portrait von Sidi Larbi Cherkaoui lesen Sie hier.