Der Philosoph unter den Starchoreografen Sidi Larbi Cherkaoui leitet seit kurzem das Ballett im Grand Théatre du Genève und kreiert sein neues Stück „Ukiyo-e“

Sidi Larbi Cherkaoui kreiert in Genf "Ukiyo-e"

Der flämisch-marokkanische Starchoreograf Sidi Larbi Cherkaoui ist bekannt für seine neuen Wege im Tanz. Hier fotografierte ihn Boris Caesar.

Er war nie ein Balletttänzer und kann dennoch vorzüglich mit Ballettensembles arbeiten: Sidi Larbi Cherkaoui ist die große Ausnahme im Karussell der hochkarätigen Tanzschöpfer – und der wandelnde Beweis dafür, dass Tänzer und Choreograf zwei völlig verschiedene Berufe sind. Oft will man das im Betriebssystem Tanz nicht ganz wahrhaben, und wer im Schablonen- und Schubladendenken verhaftet ist, kann es kaum glauben, dass es so etwas gibt. Aber Sidi Larbi Cherkaoui hat schon oft gezeigt, was er kann und was seine willensstarke Fantasie mit professionell ausgebildeten Tänzerinnen und Tänzern alles bewerkstelligt. Jetzt übernahm er in Genf das renommierte Ballett vom Grand Théatre du Genève (GTG) – und wird seine Kritiker Mores lehren. Denn er ist hoch motiviert, ohne aufdringlich oder verkrampft zu sein, und wo andere vielleicht heucheln müssen, um glaubhaft zu wirken, kann Sidi ganz einfach locker bleiben. Seine erste Uraufführung am neuen Haus ist der japanischen Kultur gewidmet, und zwar einer künstlerischen Bewegung zur Erschaffung eines „Welt-Bildes“, was auf japanisch wie das neue Stück heißt: „Ukiyo-e“.

Dessen Motto „Lebe und empfinde jetzt!“ spielte zu einer bestimmten Zeit in Japan eine große Rolle. Ab dem 17. Jahrhundert und bis ins 19. Jahrhundert hinein emanzipierte sich diese Sicht des aufkommenden Bürgertums in der Kunst. Das städtische Lebensgefühl, das sich auch im Namen besagter Epoche „Edo-Zeit“ spiegelt („Edo“ steht für „Tokio“), zeigt sich unter anderem in Farbholzschnitten und Aquarellen. Berühmt wurde der stilisierende Holzschnitt „Die große Welle vor Kanagawa“, der die Kräfte der Natur gleichsam ad absolutum setzt.

Sidi Larbi Cherkaoui kreiert in Genf "Ukiyo-e"

„Die große Welle von Kanagawa“ des japanischen Künstlers Katsushika Hokusai ist weltberühmt. 

Sidi Larbi Cherkaoui hat sich nun eine ganz bestimmte Kunstnische aus der Edo-Zeit näher angesehen: die Kintsugi-Technik. Wie diese Kunst ausgeübt wird, ist metaphorisch zu betrachten: Zerbrochenes Porzellan wird mit Goldlack zusammengefügt. Was für ein symbolischer Akt! Sind wir nicht alle innerlich schon mal zerbrochen und aufwändig oder auch unauffällig geflickt?

Dabei ist die Inspiration hier keine, die in den Wolken schwebt, sondern sie hat  konkrete Hintergründe. Sidi Larbi Cherkaoui hat sich mit der Weltanschauung, die hinter „Ukiyo-e“ steckt, intensiv beschäftigt. Und ihm fiel auf, wie aktuell einzelne Aspekte heute sein könnten.

„Da wurde nichts verschwendet, nichts vergeudet“, sagt er mir im Interview. „Nichts war Müll. Man hat alles recycelt und neu verwendet.“ Er kam zu diesem Thema denn auch durch die Ruhe im Corona-Lockdown. Die Wahrnehmung der einzelnen Dinge hatte sich verstärkt, und mit ihr die Lust, etwas aus ihnen zu machen, mit ihnen Neues anzufangen.

„Mir hat die Corona-Krise die Zeit gegeben, über die inneren Zusammenhänge der Dinge nachzudenken“, sagt der Philosoph unter den Choreografen.

Studiert hat der 1976 in Antwerpen in Belgien geborene Künstler Philosophie aber nicht, sondern er hat, nachdem er als Teenager das Musical „Fame – Der Weg zum Ruhm“ sah und vom Bühnentanz darin begeistert war, einen Tanzkurs nach dem anderen besucht. Ballett, Folklore, Jazz, Afro, Modern Dance, Improvisation – er buchte, was er nur bekommen konnte. Eine Ausbildung für Tanz machte er nicht, aber er nutzte die Freiheit zu lernen, was ihn interessierte.

Mit einem Engagement als Tänzer in der alternativ-illustren Truppe von Alain Platel mit dem ironisch-sarkastischen Namen „Les Ballets C de la B“ in Gent (die 1984 gegründet wurde) begann Sidi mit seinen ersten Choreografien.

Sidi Larbi Cherkaoui kreiert in Genf "Ukiyo-e"

Ein Ausnahmekünstler in jeder Hinsicht: Sidi Larbi Cherkaoui. Porträtfoto: Paolo Pellegrin

Es ist Berufung bei ihm, nicht nur Beruf: „Ich bin ein Tanz-Künstler“, sagt er von sich. Und sein Interesse gilt nicht nur dem Geschehen im Studio, sondern auch dem da draußen in der Welt. Ein Kennzeichen für schöpferisch tätige Menschen unter den Tanzenden.

„Die Kraft von Bildern ist mir wichtig, auch die Kraft des Wortes“, erläutert Sidi sein Selbstverständnis als Künstler. „Gerade in der westlichen Welt glauben wir sogar mehr an das, was wir lesen, als an das, was wir selbst sehen“, befindet er. Seine Generation sei extem geprägt von den Medienbildern.

Aber: Dem traut er nicht. Er wuchs ja zwischen zwei Kulturen auf, mit flämisch-marokkanischer Abstammung. Da musste er früh selbst entscheiden, was er für richtig hält und was nicht.

Einseitigkeit lehnt er ab, Verbindungen zu kreieren, reizt ihn. In Anlehnung an die Bildende Kunst könnte man sagen, er mache Konzept-Tanz.

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Der erste Erfolg kam mit dem Stück „Sutra“, in dem er 17 echte Shaolin-Mönche in einem Bühnenbild mit Holzkisten auftreten ließ. Es wurde fast ein Skandal, aber eben auch ein Gewinn an Novität. Sidi Larbi Cherkaoui denkt so: kühn, verwegen, weit ausholend. Sein Leiden als Künstler bezeichnet er als „Leiden am Verlust, ein Leiden am Verlust der Absicht“. Dem setzt er mit seiner Kunst, die nicht immer eindeutig ist, gezielt etwas entgegen.

2013 inszenierte er zusammen mit Damien Jalet den „Boléro“ von Maurice Ravel an der Pariser Oper. Ein Renner. Seit 2000 arbeiten Damien und Sidi zusammen, sie kennen sich von Platels „Les Ballets C de la B“. Ihr erstes  gemeinsames Stück „Rien de Rien“ gewann Preise, unter anderem den „Nijinsky Award“ in Monaco.

Den Schönen und Reichen gefällt also, was Sidi Larbi Cherkaoui so macht. Aber er ist rastlos, hat nicht nur eine Zielgruppe, sondern er gehört zu jenen, die der Welt Mitteilung machen wollen – und nicht nur Dekoratives hervorbringen.

Die Fragen von weitläufiger Bewegung im Sinne von Flucht tauchten in ihm ebenfalls in jüngerer Zeit verstärkt auf. Solche gesellschaftlichen Fragen mit Tanz zu verbinden, ist sozusagen seine Spezialität. Nur Eines mag er nicht: Wenn man sagt, es sei typisch für ihn, dass er alles mische.

Sidi Larbi Cherkaoui kreiert in Genf "Ukiyo-e"

Das Ballett vom Grand Théatre du Genève probt „Skid“ von Damien Jalet. Foto: Gregory Batardon

Dennoch wird er gerade dafür auch geliebt: Sidi Larbi Cherkaoui steht für eine Multikulturalität, die auf Nationalismen verzichtet. Und er baut – wie selbstverständlich – Elemente des Sprechtheaters in seinen Tanz ein. Fremd im Sinne von unpassend wirkt das nie. Sidi entwickelt seine Formen nach dem Inhalt, den er mitteilt.

Auch sein Ego ist längst nicht so dominant wie bei manch anderen Starchoreografen. So teilt er sich seinen ersten Premierenabend in Genf mit Damien Jalet, dessen Aufsehen erregendes Stück „Skid“ („Rutsche“) die  Protagonisten sich an einer steil aufragenden Wand bewegen lässt. Das Stück entstand 2017 in Göteborg und ist rasch berühmt geworden.

Sidis neues Stück „Ukiyo-e“ wartet dann mit einer weiteren Überraschung auf: Die Musik dazu ist ein Auftragswerk an den auch durch David Dawson balletterprobten Szymon Brzóska. Dessen elegische Violinen erinnern gelegentlich an Max Richter, aber Brzóskas gebrochene Melodien sind einmalig. Ein Streichtrio mit Klavier wird aufspielen, zusätzlich gibt es elektronische Klänge von Alexandre Dai Castaing. Und das Bühnenbild von Alexander Dodge besteht aus mobilen, labyrinthartigen Treppen – von konventionellem Ballett kann also kaum die Rede sein, und dennoch wird das Gewirr aus sinnlichen Bewegungen in bestimmter Hinsicht ballettös anmuten.

Inspiration, sagt Sidi, erhält er oft durch die bildende Kunst. Als Teenager zeichnete er aktiv mit Leidenschaft, orientiert an der griechischen Antike und auch an japanischer Holzschnittkunst. Und: Er mischte das. Multikulturalität fiel ihm zudem schon früh überall auf, auch bei anderen. Bei Maurice Béjart, der den indischen Tanz rezipierte. Bei Yuri Grigorovich, dessen „Spartacus“ das alte Rom zitiert.

Auch wenn sich Sidi Larbi Cherkaoui nicht nur daran orientiert: Ballett ist ihm nahe.

Sidi Larbi Cherkaoui kreiert in Genf "Ukiyo-e"

In „Ukiyo-e“ von Sidi Larbi Cherkaoui wird auch gelitten. Foto vom GTG: Gregory Batardon

Mit dem Stuttgarter Ballett arbeitete er denn auch ebenso gekonnt wie mit der Performance-Meisterin Marina Abramovic. Schon 2010 gründete er in Antwerpen seine Tanzgruppe „Eastman“, die er auch weiter leitete, als er – seit 2015 – das Königliche Ballett Flandern in seiner Heimatstadt als Direktor übernahm.

Dort, sagt er, habe er sich kaum getraut, Freunde zu engagieren, um sich nicht dem Vorwurf der Cliquenwirtschaft auszusetzen. Es ehrt Sidi, dass er darüber offen spricht, ebenso wie über seine Homosexualität. Die er in Marokko, seiner zweiten Heimat, nicht ausleben oder zeigen dürfte, weil sie dort verboten ist. So etwas, sagt er, bringt ihn dazu, sich zu wünschen, die Welt zu ändern.

Die Veränderbarkeit der Welt steht für ihn auch als Allround-Künstler außer Frage.

Sidi Larbi Cherkaoui kreiert in Genf "Ukiyo-e"

Eine Szene aus „Alceste“ in der Inszenierung von Sidi Larbi Cherkaoui an der Bayerischen Staatsoper in München. Foto Wilfried Hösl

Und das in mehreren Sparten. Sidi widmet sich nämlich nicht nur dem Tanz, sondern auch dem Opernleben. Etliche Singspiele hat er inszeniert, darunter eines von Philip Glass, aber auch Glucks „Alceste“ an der Bayerischen Staatsoper in München, wo er in 2023 mit „Hanjo“ wieder eine Premiere haben wird.

Am Tanz interessiert ihn aber nicht nur die künstlerische Kraft, sondern auch der Aspekt von Heilung: „Wo getanzt wird, fließt ein energetischer Strom, und der wirkt heilsam“, davon ist er überzeugt. Es gebe dabei auch so etwas wie „heilsamen Widerstand“ – wichtig für all jene Geister, die nicht nur gehorchen und sich dressieren lassen wollen.

Probenfoto zu „Skid“ beim Ballett des Grand Théatre du Genève: Gregory Batardon

Seine Kunst würde Sidi Larbi Cherkaoui darum auch durchaus als utopisch bezeichnen, wenn auch die Poesie nicht das Gros ausmacht. „Die Welt ist nicht nett“, sagt er und meint das knallhart.

Mondes flottants“ („Schwebende Welten“) heißt nun das Programm, das am kommenden Samstag in Genf premiert und beide Werke, „Skid“ und die Uraufführung „Ukiyo-e“, zusammen präsentiert. Die Vergänglichkeit und die Hoffnung, die sie birgt, sind darin ein Leitmotiv.
Gisela Sonnenburg

www.gtg.ch

Ab 22.12.22 wird „Ukiyo-e“ online bei arte.tv zu sehen sein

 

 

 

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