Das märchenhafteste aller Märchen Julian MacKay feiert sein Debüt in „Cinderella“ von Christopher Wheeldon beim Bayerischen Staatsballett – zu sehen auch im sonntäglichen Live-Stream

Empfindsam und liebesfähig, naiv, aber eben auch nicht verwöhnt: Cinderella, getanzt von der bezaubernden Madison Young, hier in der wichtigen Ball-Szene, beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Serghei Gherciu

Beim tosenden Applaus nach seinem Debüt am letzten Freitag war klar: Mit Julian MacKay kam ein neuer junger Superstar zum Bayerischen Staatsballett, den das Publikum schnell ins Herz geschlossen hat. Der in Moskau an der Akademie vom Bolschoi-Theater ausgebildete amerikanische blonde Ballerino verkörpert die typische Prinzenrolle mit Verve: brillierend, strahlend, willensstark, dennoch lyrisch, leichtfüßig und behende. Mit lautlosen Landungen nach fulminanten Sprüngen und erlesenen Posen in den sehnsuchtsvollen Arabesken. Die Vision des perfeken Mannes steht vor uns. Die Inszenierung von „Cinderella“ durch Christopher Wheeldon spielt mit eben diesem Phänomen des souveränen Prinzen, indem er ihm einen nahezu ebenbürtigen Gefährten zur Seite stellt, den es in den bekannten Märchen-Versionen („Aschenputtel“, „Cendrillon“, „Cinderella“) und entsprechenden anderen Ballettfassungen nicht gibt. Die beiden jungen Männer tauschen hier aus Jux und Dollerei die Rollen – und gehen als jeweils andere gute Partie durch. Zum Glück fürs Münchner Publikum tanzt diese durchaus wichtige zweite männliche Hauptrolle aktuell der junge Kanadier Shale Wagman, der in Monte-Carlo an der Académie Princesse Grace ausgebildet und soeben von Ballettdirektor Laurent Hilaire zum Solisten befördert wurde. Glückwunsch an den Jungspund! Als aschenbrödelige Titelheldin reüssiert schließlich Madison Young, deren Zartheit und Niedlichkeit in Verbindung mit ihren technischen Sicherheiten unübertrefflich ist: eine Cinderella wie aus dem Bilderbuch für Ballettliebhaber.

"CInderella" von Christopher Wheeldon beim Bayerischen Staatsballett

Dirigent Gavin Sutherland und die Stars Madison Young und Julian MacKay beim Schlussapplaus im Münchner Nationaltheater. Foto: Serghei Gherciu

Auch am morgigen Sonntag tanzt diese Besetzung, und zwar nicht nur fürs Publikum im Nationaltheater: Beim nachmittäglichen Live-Stream, den das Publikum auch ohne Anreise nach München oder entsprechenden Aufwand ab 16 Uhr online sehen kann. Dank an die Bayerische Staatsoper für diese gute Tradition! Da lohnt sich das Nutzen des Monitors für Kultur ganz ohne Frage.

Der erste Teil dieses kunterbunten Spektakels zur schmissig-poetischen Musik von Sergej Prokoffiew (mit dem auch für die Tänzerinnen und Tänzer glückseligen Live-Dirigat von Gavin Sutherland) dreht sich um die neugierig-abenteuerlustige Prinzenseele von Guillaume, wie er hier heißt.

"CInderella" von Christopher Wheeldon beim Bayerischen Staatsballett

Smart, ausdrucksstark, erkennbar Bolshoi-geschult: Der US-Amerikaner Julian MacKay wird in der internationalen Ballettwelt bereits heißt und innig geliebt – und tanzt seit dieser Spielzeit als Erster Solist beim Bayerischen Staatsballett in München. Das erotische Fotos stammt von seinem Bruder Nicholas MacKay.

Julian MacKay ist ein Danseur noble und ein heißer Hund zugleich. Das macht ihn so besonders – außer seinem edlem Tanzstil – und das prädestiniert ihn auch für Rollen wie diese. Allerdings brennt man darauf, ihn auch als Romeo oder Lysander, als Solor oder Albrecht in München zu sehen. Wenn er eine Rolle tanzt, so darf man davon ausgehen, dass er sie nicht oberflächlich-schnell einstudiert hat und routiniert herunterreißt, sondern sie sorgsam durchgearbeitet und sozusagen innerlich schon gelebt hat.

Seine Schulung am Bolschoi – er war der erste westliche Tänzer, der schon als kindhafter Teenager von 13 Jahren dort aufgenommen wurde – ermöglicht ihm eine deutliche Mimik und große Gestik, ohne, dass hier etwas aufgesetzt wirkt.

Wir haben ein Bild vor Augen vom Schlussapplaus, das diese Befähigung zeigt: innerste Freude so nach außen zu kehren, dass man gar nicht anders kann, als sich mit ihm zu freuen, mit allen emotionalen Facetten, die dazu gehören – wie Dankbarkeit, Überraschung, Aufgeschlossenheit.

Wir hofften, dieses Bild hier präsentieren zu können, nun sehen Sie das obige Foto vom Schlussapplaus, das auch viel Atmosphäre vermittelt.

Anhand des Live-Streams gilt es das zu verifizieren. Und achten Sie dabei bitte auch auf alles Folgende:

"CInderella" von Christopher Wheeldon beim Bayerischen Staatsballett

Nachwuchsstar Shale Wagman, soeben zum Solisten befördert, ist hier in „Coppélia“ von Roland Petit beim Bayerischen Staatsballett zu sehen. Foto: Serghei Gherciu

Shale Wagman, dessen tollkühne Sprungmanöver ihn bei Insidern schon längst zur Berühmtheit machten, passt als adliger Jugendfreund Benjamin  hervorragend an die Seite von Julian MacKay. Die beiden tollen herum, erobern die Welt, wie sie sie vorfinden – und wollen, ohne dass sie das herausstellen, nur gemeinsam, als latent homoerotisches Buben-Duo, akzeptiert werden.

Als die beiden Jungs Cinderella und ihren Stiefschwestern begegnen, haben sie allerdings nach außen die Rollen getauscht und verteilen in aufgeweckter Stimmung die Einladungen zum Ball der Brautsuche für den Prinzen.

Bei Cinderella funkt es ziemlich schnell, ebenso bei Guillaume, und dass er scheinbar ein Diener ist, juckt sie nicht im mindesten. Bescheidenheit ist sozusagen ihr zweiter Vorname, und im Haushalt der verwitweten Stiefmutter (schön böse: Maria Chiara Bono) hat Cinderella eh nichts zu lachen.

Madison Young tanzt die Cinderella ja nicht zum ersten Mal: Ihre Vornehmheit und ihre Empfindsamkeit in der Rolle sind wirklich schon legendär.

Eine der beiden schrägen Stiefschwestern von Cinderella ist hier nicht ganz von schlechtem Charakter, und sie – köstlich skurril und dennoch elegant getanzt von Bianca Teixeira – verliebt sich prompt in den scheinbaren Prinzen, also in Benjamin. Und: Er liebt sie auch! Es gibt also ein zweites Liebespaar…

Einzig Clementine – Elvina Ibraimova macht mit viel Hintersinn das Beste aus der Partie – wird wohl recht unkonventionell leben. Sie hat einen Auftritt in Mieder und Reifrock – und lässt sich darin ganz frivol gleich von zwei nur wenig bekleideten Kavalieren verfolgen.

"CInderella" von Christopher Wheeldon in München

Immer einen Lacher wert: Bianca Teixeira (mit Brille) und die köstliche Elvina Ibraimova als Cinderellas Stiefschwestern in „Cinderella“ von Christopher Wheeldon beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Serghei Gherciu

Choreograf Christopher Wheeldon hat die etwas biedere Geschichte also ordentlich aufgehübscht und das märchenhafteste aller Märchen daraus gemacht.

Das Böse an sich hat darin tatsächlich keine große Chance, dauerhaft Schaden anzurichten.

Und Wheeldon hat sich außerdem noch einen Kniff ausgedacht, um das Publikum in Bann zu ziehen: Vier Schicksale sind von Tänzern verkörpert, sie illustrieren die Stimmungen und Aktionen, die in den Szenen jeweils vorherrschen. Bei John Neumeier, einem unverkennbaren choreografischen Vorbild von Wheeldon, würden diese Tanzfiguren vermutlich „Aspekte“ heißen.

Auch die Jahreszeiten und die Stunden sind von Tänzern verkörpert. Ariel Merkuri als Sommer, António Casalinho (die Lockdown-Prix-de-Lausanne-Entdeckung) als Herbst und Jeanette Kakareka im Wechsel mit Kristina Lind als Winter bezaubern dabei, ebenso Carolline Bastos als Frühling. Auch tanzende „Vogel-Geister“, wie sie in „A Cinderella Story“ von John Neumeier heißen, tauchen hier auf und segnen die Titelheldin, die es ja als Underdog-Girl ohne Eltern nicht leicht hat.

Die Kostüme und Bühnenbilder von Julian Crouch sind opulent bis pompös, und sie ermöglichen es, sich dem zuckersüßen Traum von sozialem Aufstieg durch Liebe zu ergeben. Was in der Realität manchmal einen Beigeschmack hat, ist im Märchen einfach nur eine innere Wahrheit.

Die Schönheit der Wahrheit, dass Liebe wichtiger ist als soziale Schranken, wird hier gebührend verherrlicht.

"CInderella" von Christopher Wheeldon beim Bayerischen Staatsballett

So süß sieht das neue Traumpaar in „Cinderella“ in München auf der Bühne aus: Madison Young und Julian MacKay vom Bayerischen Staatsballett. Das Foto wurde Backstage von Nicholas MacKay aufgenommen.

Die Dienstkleidung des Prinzen feiert dann am Ende fröhliche Urständ, wenn Guillaume seine ungewöhnliche Braut mit fantastisch-fantasievollen Pas de deux umgarnt und aufs gemeinsame Leben vorbereitet.

Die verträumte Atmosphäre der Inszenierung erinnert an einen Technicolor-Hollywood-Farbfilm aus den 50er-Jahren: einfach unwiderstehlich!
Gisela Sonnenburg / Franka Maria Selz

www.bayerisches-staatsballett.de

 

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