Das ewige Dilemma David Dawson entführt mit dem Semperoper Ballett in die wundersamen Bilder seiner superben Version von „Romeo und Julia“

"Romeo und Julia" von David Dawson in Dresden

Ob es der erste oder der letzte Kuss ist – diese Liebe kennt kein Ende… „Romeo und Julia“ beim Semperoper Ballett in Dresden. Foto: Jubal Battisti

Liebst du mich? Ja? Total? Wie schrecklich! Wir sind wohl dem Tode geweiht. Denn absolute Liebe sprengt alle Grenzen und meist auch die Geduld der Mitwelt. Liebe als ewiges Dilemma. Eine solche Welt ist hier, auf der Bühne in Dresden, aus dunklem, grauem Marmor erbaut. Schön und erhaben und dennoch abweisend und kalt wirkt der Kosmos, in dem der Starchoreograf David Dawson seine erst gestern vom Semperoper Ballett uraufgeführte Version von „Romeo und Julia“ zur Musik von Sergej Prokoffiew ansiedelt. Blaue Risse gehen durch die Mauern – wie eine surreale Warnung. Es muss ja auch nicht immer das sonnige, italienische Verona sein, wie im Original bei William Shakespeare und so vielen Choreografen, die das berühmte Liebesdrama schon vertanzen ließen. Bei Dawson ist der Himmel stets bedeckt – und es zählt der Bezug zu einer möglichen heutigen Gesellschaft. Julia (Ayaha Tsunaki) ist darin der entzückende, in unschuldiges Cremeweiß gewandete feminine Lichtblick: mit viel erotischem Charme in sanft und lautlos dahin gleitenden Spitzenschuhen. Tsunaki wurde in der Schule vom Hamburg Ballett und von der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden ausgebildet. Seit acht Jahren tanzt sie beim Semperoper Ballett, sie war schon Johan Ingers „Carmen“ und ein Eiszapfen im „Nussknacker“, ihr Tanz hat viele Facetten. Außerordentlich selbstbewusst weiß diese Julia die Sphäre mit ihrer positiven Haltung und neckischen Posen und Sprüngen zu füllen.

"Romeo und Julia" von David Dawson in Dresden

Ayaha Tsunami als Julia im Unglück: Die Eltern wollen die Zwangsehe für sie, und der Geliebte flüchtet allein… Foto vom Semperoper Ballett: Jubal Battisti

Ihr Romeo (Dresdens seit Jahren aufgebauter toller Nachwuchsstar Julian Amir Lacey) ist ein Wunder an Geschmeidigkeit und Sprungstärke, und er harmoniert mit seiner Julia aufs Feinste. Was wir hier sehen, ist wahre Liebe als Tanz: bedingungslos, verspielt, leidenschaftlich, hingebungsvoll – und zugleich von todernster Bitternis

Irgendwie ahnen die beiden in Dawsons Version von Anfang an, dass ihre Gefühle zu stark für diese kaputte Welt sind. Melancholie mischt sich in ihre Tänze. In ihrem ersten Paartanz zitiert Dawson gar den ersten Pas de deux von Tatjana und „Onegin“ von John Cranko: während des Spaziergangs im ersten Akt hebt Onegin das junge Mädel im Stehen an und sehr hoch, während sie einen Fuß im b-flat an die Wade legt. Die Liebe als erhebend in jedwedem Sinn.

Liebe als Illusion, als Utopie – die eigentlich nur im Tanz und nur für kurze Zeit fasslich-real sein darf. David Dawson schuf für seine Konzeption somit einen doppelten Boden, einen metaphernreichen Konjunktiv: Was wäre, wenn…? Etwa wenn Julia nicht die Tochter der Capulets wäre… hätte diese junge Liebe eine Chance? Es ist schön, wenn eine Inszenierung diese Gedanken anregt und nicht nur mitreißt, weil sie dramatisch gut gemacht ist.

"Romeo und Julia" von David Dawson in Dresden

Die Liebe verbindet „Romeo und Julia“ (Julian Amir Lacey und Ayaha Tsunaki) und den edlen Stil von David Dawson beim Semperoper Ballett in Dresden. Foto: Jubal Battisti

Dawsons edler Stil ergibt zudem – wie so oft bei ihm – eine Melange aus Grandezza und Demut. Anmut, Schönheit, Ausdruck und Kraft gehen hier eine Verbindung ein. Oft gleiten und schleifen die Tänzer wie beim Eiskunstlauf über den Bühnenboden, und Dawsons Pas de deux sind legendär für ihre emotionale Stimmigkeit.

Hier lässt er seine Protagonisten manchmal sogar stumm miteinander sprechen: Mimik ergänzt die Gesten des Tanzens

Der Ort ist nicht genau bestimmt, es könnte Berlin sein, Dresden (an dessen dunkle Sandstein-Architektur die Marmor-farbenen Kulissen erinnern) oder auch Rom, Mailand, London, Prag, gar Paris.

Julias Eltern, die Capulets, sind allerdings in dieser Stadtgesellschaft übermächtig. Sie verkörpern zusammen mit ihrem Clan die dominierende, ja aggressiv-herrschende Kraft. Lady Capulet – die hochgewachsene Sangeun Lee wirkt wie ein hochmütiges Mannequin – trägt dabei stets elegantes Rot und Stöckelschuhe.

Übrigens trägt auch die Mutter von „Dornröschen“ in der soeben premierten Version von Martin Schläpfer beim Wiener Staatsballett stets Rot. Das ist wohl der neue Dresscode für die adligen Mütter.

"Romeo und Julia" von David Dawson in Dresden

Christian Bauch als Capulet und Jenny Laudadio als Amme streiten mit Julia (Ayaha Tsunaki), die ihre Zukunft selbst bestimmen will. Foto vom Semperoper Ballett: Jubal Battisti

In Dresden hat der Gatte der noblen Frau Mama (Christian Bauch) zudem mit tiefem Schwarz in Form eines langen Leibchens über Hosen zu scheinbaren Straßenschuhen ebenfalls modische Exaltiertheit zur Schau zu tragen.

Kein Zweifel: Man spielt High Society. Die Kostüme stammen zudem mal nicht, wie sonst bei Dawson, von Dresdens Ex-Prima Yumiko Takeshima, sondern, wie auch das Bühnenbild, von Jerome Kaplan, dem zurzeit am meisten beschäftigten lebenden Ballettausstatter in Europa. Er ist, wie Dawson, ein  Meister seiner Kunst.

Um es gleich zu sagen: David Dawson wäre die beste Wahl als kommender Ballettdirektor in Dresden. 2023/34 wird der langjährige Chef vom Semperoper Ballett, Aaron Sean Watkin, Deutschland verlassen, um das English National Theater in London zu leiten. Dort war Dawson wiederum mal als Tänzer engagiert. Es besteht also die Gefahr, dass er, der seit letzter Spielzeit den Titel „Associate Choreographer“ (quasi „Hauschoreograf“) an der Semperoper trägt und früher mal als „Hauschoreograf“ rangierte, uns durch die gute Verbindung der beiden Männer abhanden kommt.

"Romeo und Julia" von David Dawson in Dresden

Darf sich gerne freuen, weil er uns erfreut: David Dawson beim jubelnden Premierenapplaus nach „Romeo und Julia“ in der Semperoper in Dresden. Foto: Franka Maria Selz

Dabei hat Watkin darauf geachtet, von Dawson stets Uraufführungen für Dresden zu bekommen: Neun große und kleinere Werke schuf David Dawson seit 2007 in Dresden, darunter sein sehr gelungenes erstes Handlungsballett „Giselle“ (2008) und die Aufsehen erregende Uraufführung von „Tristan + Isolde“ (2015). Auch während der Corona-Pandemie war er für die Dresdner fleißig: mit „7 Portraits of Solitude“ (2020). Zu den Tänzern vom Semperoper Ballett hat er erwiesenermaßen einen guten Draht, er nutzt ihre Diversität, ihre Vielfalt, ihre Verschiedenheit in Qualitäten und Vorzügen.

Der 1972 in London geborene Brite, der aus seinem Alter lange ein Geheimnis machte, wurde in England, unter anderem an der Royal Ballet School, ausgebildet und tanzte außer in England auch bei Het Nationale Ballet in Amsterdam, wo seine ersten Choreografien entstanden, und als Erster Solist bei William Forsythe in Frankfurt am Main. All das prägte ihn. Seit 2002 ist er nur noch Choreograf. Er gehört nicht zu den schnelllebigen Talenten, die mal eben rasch was hinklecksen und dann wieder was ganz Anderes probieren, sondern er ist ein zuverlässig sorgsam arbeitender Geist, der mit Intellekt und Esprit, man möchte sagen: mit viel Verstand, zu Werke geht. Sehr erfrischend in der oft völlig körperbesessenen Tanzszene!

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Für „The Grey Area“ erhielt er denn auch schon 2003 den Prix Benois de la Danse in Moskau, den bislang bedeutendsten Preis in der internationalen Ballettwelt. 2005 kreierte er „Reverence“ am Mariinsky Theater in Sankt Petersburg, was prompt mit dem höchsten russischen Bühnenpreis, der Goldenen Maske, ausgezeichnet wurde. Beim Königlichen Ballett Flandern in Antwerpen (Belgien) ist Dawson sowohl Schirmherr der Junior Truppe als auch Hauschoreograf. Und wie nebenbei ist Dawson ein vorzüglicher Fotograf, dessen Aufnahmen von Stadtlandschaften und Details sich wirklich sehen lassen können. Man sollte mal eine Ausstellung seiner Fotos mit einer Uraufführung von ihm koordinieren, vielleicht zum Thema „Cities Still Live“.

Mit dem ohnehin fantastisch aufgestellten, großen Ensemble vom Semperoper Ballett kann David Dawson erwiesenermaßen viel anfangen. So jetzt auch in „Romeo und Julia“, das mit frohgemut-sehnsuchtsvoller Erwartungshaltung beginnt und mit tragischer Tiefe endet.

Es wird übrigens eine zweite Besetzung geben, die sicherlich auch sehr sehenswert ist: mit Courtney Richardson (einer exzellenten Dawson-Muse) und Marcelo Gomes in den Titelrollen.

"Romeo und Julia" von David Dawson in Dresden

Julian Amir Lacey und Ayaha Tsunaki beim ersten Premierenapplaus nach „Romeo und Julia“ von David Dawson in der Semperoper. Foto: Franka Maria Selz

Romeo trägt von Beginn an Weiß.

Er ist hier kein ungestüm-stoffeliger Jungmann, sondern ein für sein Alter elegant zu nennender, allerdings auch stürmischer Teenager. Seine Pirouetten tragen den Charakter des Erlesenen, und wenn er seinem ersten Schwarm, der edlen Rosaline (nicht Rosalind: Rebecca Haw), eine Rose überreicht, so dreht er sich zuvor einige Male vor ihr auf dem Platz, um dann ergeben vor ihr zu knien.

Julian Amir Lacey, geboren in den USA, wurde unter anderem an der School of American Ballet in New York ausgebildet und kam übers Elevenprogramm der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden nach Deutschland und zum Semperoper Ballett. Seit Jahren beobachtet man, wie er sich langsam, aber sicher zum Star mausert. William Forsythe besetzte ihn mit einer Solopartie als Mr. Pnut in „Impressing the Czar“, und er tanzte sich in großen Rollen bereits durch das Repertoire. Vom dynamischen „Nussknacker“-Prinzen bis zum lyrischen Des Grieux in MacMillans „Manon“. Als Solor wie als Goldenes Idol in „La Bayadère“. Weiter über diverse Balanchine-Partien und Auftritte in Stücken von Alexander Ekman bis hin zu Dawsons „Giselle“ und „Faun(e)“.

Als Romeo kann er endlich voll aufdrehen und auch schauspielerisch zeigen, was er kann. Er ist ein superber Lover at first sight und ein respektabler Anführer einer dreiköpfigen Jungsclique.

"Romeo und Julia" von David Dawson in Dresden

Drei begeisternde Jungs und beste Freunde: Jón Vallejo (Mercutio), Alejandro Martínez) und Romeo (Julian Amir Lacey) in „Romeo und Julia“ von David Dawson. Foto: Jubal Battisti

Diese besteht außer aus Romeo aus Benvolio (Alejandro Martínez) und Mercutio (Jón Vallejo). Zu dritt sind sie einfach famos in ihrer vitalen Jungmännlichkeit. Da ist nichts Steifes oder Aufgesetztes, sie sind einfach tolle Jungs, die synchron wie solistisch brillieren. Und dass Benvolio und Mercutio ein zärtliches Paar sind, passt hier vorzüglich ins modernisierte Schema der Handlung.

Julias Welt ist weniger harmonisch. In ihrer Familie flammt häusliche Gewalt auf, der Vater ist so patriarchisch, wie er sich eitel gebärdet. Die Mutter hat als wandelndes Juwel mit viel Fashion zu repräsentieren – und wirkt mit flammend roter Maske im Gesicht auf dem großen Maskenball wie eine hehre Ikone dieser mondänen Welt.

Die Gruppenbilder, die Dawson in „Romeo und Julia“ kreierte, sind so durchgestylt-ästhetisch, dass sich schon wegen ihnen der Besuch der Vorstellung lohnt.

Man könnte sie als legitime Nachfolge der großen Gruppenszenen von Petipa und Balanchine, MacMillan, Cranko und Neumeier bezeichnen.

Man kann sich kaum an ihnen satt sehen!

Für den großen Ball lösen sie sich in lebendige Paartänze – und als Romeo und Julia sich mitten im Getümmel treffen, bleiben sie sekundenlang reglos voreinander stehen und schauen sich an.

"Romeo und Julia" von David Dawson in Dresden

Und Romeo liebt Julia, und Julia liebt Romeo – auf höchstem Niveau mit Tanz zu sehen beim Semperoper Ballett. Foto von der Inszenierung von David Dawson: Jubal Battisti

Sie haben einander erkannt, fühlen sich füreinander bestimmt, sie, die beiden weiß Gekleideten in dieser Umgebung aus Kampf und Spaß.

Schon zuvor hatte es die „Marktplatz“-Szene ohne Marktplatz gegeben, in der die jungen männlichen Verwandten von Julia, in dunkle Outfits gesteckt, aggressiv das muntere öffentliche Treiben störten. Was sogar in Schwertkämpfe mündete – ohne Verletzte allerdings, da rechtzeitig der Patron auftrat und für Ruhe sorgte.

Bei Dawson gibt es allerdings keinen Stadtpatron im Sinne eines Bürgermeisters, und es gibt auch keine Montagues. Alles gehört den Capulets, sie sind die Unterdrücker und Beherrscher, und nur, wenn sie für Recht und Ordnung sorgen, gibt es das auch. Oder eben nicht.

Julia ist also der absolute Oberschichtensprössling, und woher Romeo kommt, lässt die Inszenierung weitgehend offen. Immerhin trägt auch er sauberes Weiß, tanzt herrschaftlich-gediegen, ist offenbar auch von höherem Geblüt und guter Erziehung. Kein Prolet also. Aber eben kein Mitglied des Hofes.

"Romeo und Julia" von David Dawson in Dresden

Auf ihnen lastet die Liebe der Rebellion: „Romeo und Julia“ von David Dawson beim Semperoper Ballett in Dresden. Foto: Jubal Battisti

Das Gegengewicht zu den Capulets liegt hier vor allem bei den Liebenden. Ihre Zuneigung widerspricht der Politik, der Macht, der Gesellschaft. Der Ordnung und der Gewalt. Sie ist von Anfang an stark belastet vom Aspekt des Unmöglichen.

„Ich will die Schwierigkeit, die Auseinandersetzung und sozusagen den Sieg des Geistes über den Körper zeigen – des Geistes, der sich durch die Musik mit dem Körper verbindet und eine menschliche Gefühlsbotschaft übermittelt“, sagt David Dawson über seine Arbeit.

Das gelingt ihm in „Romeo und Julia“ aufs Vorzüglichste.

Romeo und Julia tanzen die Utopie mit einer Selbstvergessenheit, die ihresgleichen sucht.

Die Schreitrollen im Stück tragen wiederum theatrale Straßenschuhe und haben von daher wirklich nur wenig zu tanzen. Auch Julias Amme (Jenny Laudadio), Tybalt (Marcelo Gomes) und Paris (Gareth Haw), der Verlobte von Julia, gehören dazu. Dennoch gelingen meisterliche Szenen mit ihnen: Paris vermag Julia zu heben und zu lenken, wie es sich im Pas de deux gehört, und ohne viel Schnickschnack macht die Choreo deutlich, dass er das Mädchen, das ihn nicht will, zähmen und sich untertan machen will. Auch Julias Mutter wurde wohl solchermaßen von ihrem Ehemann unterjocht, was sich beim Pas de Quatre in Julias Zimmer zeigt.

Julia begehrt auf gegen die Zwangsverheiratung und gegen ihre Familie. Sie ist hier eine Rebellin, wenn auch nicht mit politischem Hintersinn, sondern aus innerer Notwehr.

Inwieweit die totale Liebe mit Freiheit zu tun hat und inwieweit sie uns zum Spielball unserer eigenen Triebe macht, sei dahingestellt.

Aber hier ist das freie Lieben das Sinnbild für Freiheit überhaupt.

Wenn Tybalt (Marcelo Gomes) auftaucht, gibt es Ärger: Ensembleszene aus „Romeo und Julia“ von David Dawson. Foto vom Semperoper Ballett: Jubal Battisti

Das erkennt auch Bruder Laurence, wie er hier heißt (sonst: Pater Lorenzo). Casey Ouzounis ist die Dreh- und Angelpunktfigur im Hintergrund. Er traut Romeo und Julia heimlich, nur die Amme ist dabei – und er macht sich somit zum Helfershelfer einer Liebe, die gegen die Gesellschaft steht.

Aber sind seine Ratschläge immer gut? Man muss es bezweifeln. Hätten Romeo und Julia eine Chance gehabt, wenn ihre Flucht geglückt wäre?

Man hätte Julia in ganz Italien suchen lassen und Romeo, hätte man das Paar gefangen, als kriminellen Entführer (von Julia) und auch Rachemörder (an Tybalt) bestraft, vielleicht sogar hingerichtet. Ihre heimlich geschlossene kirchliche Ehe wäre wohl annulliert worden. Und wovon hätten die beiden während ihrer Flucht überhaupt leben sollen? Hatte Romeo Freunde im Ausland, die ihnen helfen? Wohl eher nicht.

Und hätte man ihnen in Italien Jobs etwa als Knecht und Magd gegeben? Wohl kaum. Die Welt da draußen hat eben auch nicht gerade auf zwei Menschen gewartet, die nichts anderes wollen, als miteinander Liebe machen.

"Romeo und Julia" von David Dawson in Dresden

Liebende, die sich kaum kennen und dennoch füreinender sterben: „Romeo und Julia“ mit Julian Amir Lacey und Ayaha Tsunaki von David Dawson. Foto vom Semperoper Ballett: Jubal Battisti

Das ist, wenn man so will, der Schwachpunkt schon bei Shakespeare: Romeo und Julia haben keine verbindende Idee außer ihrer nachgerade zwanghaften Verliebtheit.

Nicht mal ans Gründen einer Familie denken sie. Geschweige denn daran, die Welt zu verbessern oder sich irgendwie mit irgendwas einzubringen. Kein Familienunternehmen, keine Haustiere, kein Hobby, kein politisches Interesse, kein Glaube, auch keine Hoffnung verbindet sie.  Nur die Liebe.

Also: Was bedeutet uns die Chimäre der großen Liebe?

Das muss wohl jede, das muss jeder für sich entscheiden.

Bei Romeo und Julia ist es zunächst eigentlich nicht viel mehr als Sex. Erotik über alles, über den Lebenswillen hinaus. Der unbedingte Wille, miteinander zu schlafen, überwältigt die beiden. Sturm und Drang total.

Die Zeit, sich kennen zu lernen und herauszufinden, ob sie charakterlich zueinander passen, haben sie nicht. Alles geht rasend schnell. Sie sehen sich, lieben sich. Sie heiraten heimlich, vögeln eine Nacht durch. Dann muss er auch schon fliehen.

Die nächtliche Balkonszene vor ihrer Heirat und das gemeinsame Erwachen nach ihrer heimlichen Hochzeitsnacht im Schlafzimmer von Julia hat David Dawson gekonnt illustriert: mit innig-verwobenen, nachgerade verschwörerisch anmutenden Liebestänzen. Man glaubt diesen beiden Kreaturen, dass sie für die Liebe geschaffen wurden und nichts anderes vom Leben wollen.

Sind sie nun beneidenswert? Oder auch bedauernswert?

"Romeo und Julia" von David Dawson in Dresden

Applaus für alle Mitwirkenden nach der Uraufführung von „Romeo und Julia“ von David Dawson am 5.11.22  in Dresden. Foto: Franka Maria Selz

Die Tragödie nimmt ihren Lauf. Kurz nach der Hochzeit trifft Romeo auf dem öffentlichen Platz auf die aggressiven Capulets.

Tybalt, von Marcelo Gomez fast zurückhaltend, aber mit Stolz und Power verkörpert, hat einen Dolch. Er provoziert. Er will Streit, er will Kampf.

Doch Mercutio ist stärker. Er wirft Tybalt zu Boden, lässt sich dann von seinen Getreuen als Sieger feiern.

Doch da wirft Tybalt sein Messer. Es trifft Tybalt in den Rücken. Eben saß er noch frohlockend auf den Schultern seiner Freunde. Jetzt ist er ein sterbender Mann. Aber er lässt es sich nicht nehmen, noch einmal so richtig anzugeben. Und er spielt mit dem eigenen Tod, täuscht vor, er sei gar nicht so schwer verletzt. Eine grandiose Theaternummer und hier – wie in jedem guten Romeo-und-Julia-Ballett eine ergreifende Show. Bis er stirbt. Mercutio ist das erste Opfer an diesem Abend. Immerhin darf er in den Armen seines Geliebten Benvolio verscheiden. Heiße Männerliebe mit Treue bis zum Ableben.

Romeo aber kann nicht damit leben. Er stürzt sich auf Tybalt, wohl wissend, dass dieser durch die heimliche Hochzeit sein Schwager wurde. Und er reißt ihn nieder, reitet auf ihm, würgt ihn – er erwürgt ihn.

"Romeo und Julia" von David Dawson in Dresden

Lady Capulet (Sangeun Lee) beklagt den Tod ihres Sohnes Tybalt (Marcelo Gomes). Expressiv und ergreifend! Zu sehen in „Romeo und Julia“ von David Dawson in Dresden. Foto: Jubal Battisti

Diese Kampfszenen sind originell und sehr professionell gemacht. Dawson holte sich für sich auch Unterstützung: bei Jonathan Holby, der Kampfchoreograf, Action Designer und Stuntman ist. Seit seinem achten Lebensjahr trainiert er Karate und ist Mitglied der Reserve der Britischen Armee.

Für Romeo ist der Tod von Tybalt und der anschließende bewegende Trauertanz von Julias Mutter bei der Leiche das Zeichen zur Flucht. Nur heimlich kann er Julia noch besuchen; sie wiederum soll gegen ihren Willen ihren Verlobten Paris heiraten und steckt somit ebenfalls in einer Notlage.

Nur eine Nacht haben sie, um sich sexuell zu beglücken. Hätten sie nicht fliehen können statt zu schmusen?

Es ist typisch für die Jugend, dass sie falsche Entscheidungen trifft. Diese eine Nacht war die einzige und letzte Chance für beide, abzuhauen und irgendwo ein neues Leben zu beginnen. Verheiratet waren sie ja immerhin. Wenn auch nur heimlich.

Doch die Macht der Erotik war stärker, fesselt die zwei ans Bett, sinn- und planlos.

Erst nach dem Abtauchen Romeos und dem drohenden erneuten Drängeln der Eltern, Julia solle Paris am nächsten Tag ehelichen, erwacht Julia aus ihrem rosaroten Liebesrausch.

Sie besorgt sich Gift beim Mönch. Shakespeare zielte darauf, dass die Klosterleute seiner Zeit sich in der Kräuterkunde gut auskannten. So ist es bis heute in den Libretti von „Romeo und Julia“ geblieben. Es ist der Mönch, der den Liebenden den Tod besorgt, indem er – statt Julia zur sofortigen Flucht zu raten – ihr einen Trunk mitgibt, der für ein Koma sorgt.

"Romeo und Julia" von David Dawson in Dresden

Julia (Ayaha Tsunaki) ahnt ihren nahen Tod… in der Inszenierung von „Romeo und Julia“ von David Dawson. Foto vom Semperoper Ballett: Jubal Battisti

Scheintot liegt Julia auf dem Bett, als ihre Freundinnen mit Lilien kommen, um sie als Braut zu wecken. Sie legen die Blumen auf ihre Lagerstatt, und man muss unwillkürlich schon an eine Grablegung denken. Doch der süße Tanz der fünf Mädchen bewirkt nichts. Julia schläft weiter.

Ihre beste Freundin und die Amme entdecken dann den Scheintod, halten Julia für tot. Die Familie ist in Aufruhr, trauert, Julia endet in der Familiengruft.

Soweit war dies der Plan von Laurence. Nur dass Romeo eben nicht die Nachricht erhielt, dass Julia nur scheintot ist und ihn in der Gruft zwecks gemeinsamer Flucht erwartet. Romeo hört nur, dass Julia verstorben sei.

"Romeo und Julia" von David Dawson in Dresden

Romeo (Julian Amir Lacey) tanzt ein letztes Mal mit seiner geliebten Julia (Ayaha Tsunaki), im Glauben, sie sei tot. Foto: Jubal Battisti / Semperoper Ballett

Ein letztes Mal will er sie noch sehen, und sei sie tot. Er hat Gift bei sich, um ebenfalls zu sterben. An Julias aufgebahrter Scheinleiche tanzt er, tanzt mit ihrem leblosen Körper, er versucht noch einen Pas de deux, zitiert die schönen Tänze, die sie vor kurzem miteinander tanzten. Umsonst.

Erst, als er sein Gift schon wirkt, erwacht Julia.

David Dawson hat hier einen seltenen, neuen Moment kreiert: Julia sieht im Erwachen ihren Geliebten Romeo sterben. Und er sieht sterbend, dass seine Geliebte, die er für tot hielt, lebt.

Klein, aber groß in der Wirkung ist dieser Dreh. Meistens ist es ja so wie bei Shakespeare, dass Romeo am Gift verscheidet und Julia ihn tot vorfindet.

Bei Dawson sorgt die Überkreuzung von Sterben und Erwachen für einen zusätzlichen Kick der Geschichte. Man könnte sagen: Dawson hat Shakespeare bereichert.

Julias Entscheidung entspricht der von Romeo. Ohne diese Liebe macht das Leben keinen Sinn. Sie greift zu Tybalts Dolch, den Romeo trägt, und ersticht sich. Sterbend zieht sie Romeo zu sich, legt sich in Löffel-Position zu ihm, kuschelt sich ein, legt seinen Arm über den ihrigen.

Man fand in der Nähe von Verona vor einigen Jahren zwei Skelette, die miteinander verquickt waren wie die sterblichen Überreste von Liebenden.

Die Geschichten, die Menschen haben, die ohne einander nicht sein wollen, mögen verschieden sein. Aber sie nötigen uns immer so viel Respekt ab, als sei die erotische Liebe zwischen zwei Menschen doch das Höchste, was wir kennen.

David Dawson verzichtet denn auch – wie die meisten Choreografen – auf eine Versöhnungsszene der Bevölkerung mit den Capulets. Da es bei ihm keine Montagues als ebenbürtige Gegner gibt, liegt eine Aussöhnung auch nicht gerade auf der Hand.

Dawson sagt es selbst knallhart: „weil die Welt die Lektion nie lernt.“ Die Bösen werden nicht auf einmal gut, weil es etwas Schreckliches passiert ist. Die Liebe allein wird die Welt nicht ändern. Sie gibt immer nur das Vorbild, die Illusion, von dem, was sein könnte. Das Happy End bleibt aus.

Diese Konsequenz vermittelt sich, rüttelt auf, begeistert.

"Romeo und Julia" von David Dawson in Dresden

Strahlende Gesichter beim Premierenapplaus nach „Romeo und Julia“ von David Dawson in Dresden. Und die weißen Blumen passen zum Gesamtbild! Foto: Franka Maria Selz

Das Publikum feiert David Dawson und das Semperoper Ballett, und auch die mal leicht und lieblich, mal pompös und feierlich aufspielende Sächsische Staatskapelle Dresden unter Benjamin Pope reüssiert mit „ihrem“ Prokoffiew.

Dresden hat ein neues Highlight!
Gisela Sonnenburg / Franka Maria Selz

www.semperoper.de

Noch eine Umarmung beim großen Applaus: „Romeo und Julia“ nach der Uraufführung der Version von David Dawson beim Semperoper Ballett in Dresden. Foto: Franka Maria Selz

 

 

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