Wer hätte das gedacht: Kaum werden die russischen Compagnien vom World Ballet Day verbannt – warum eigentlich? Sie werfen gewiss keine Bomben! – rüsten die Anderen auffallend auf. Mehr Compagnien denn je machen mit, insgesamt über 60, darunter mehr als ein Dutzend Neulinge, die bisher noch nie teilnahmen. Allein 24 Ballettensembles aus Amerika und angrenzenden Ländern sind in diesem Jahr beim Online-Spektakel mit dabei, so viele wie noch nie. Sie werden uns zeigen, wie all die Tanztruppen aus anderen Kontinenten auch, was sie trainieren und proben – und sie werden wohl auch ein wenig angeben mit ihren Fähigkeiten. Das hat Tradition beim World Ballet Day (WBD), den es seit dem Oktober 2014 gibt und der auch in den beiden zurückliegenden Pandemie-Jahren 20 und 21 so tapfer wie international veranstaltet wurde. Nun war das Bolschoi Ballett aus Moskau aber bisher stets eine der Hauptattraktionen. Sogar Bühnenproben konnte man live online und mit Untertiteln versehen aus dem hehren Olymp der Tanzkunst genießen. Und jetzt? Am Mittwoch, 2. November 22, geht es zwar in vielen Ländern hurtig morgens an die Stange fürs Training vor der Kamera. Aber der Geruch des Kulturkampfs wird wohl für sensible Nasen bleiben, wenn man die Besten der Besten – das echte russische Ballett – einfach ausklammert. Dem Weltfrieden dient das sicher nicht.
Australien und Asien haben dafür dieses Mal gemeinsam 12 teilnehmende Truppen und Trüppchen auf dem Programmzettel. Das renommierte Queens Ballet ist ebenso dabei wie das West Australien Ballet. Das Bangkok City Ballet ebenso wie die interessante Gruppe Cloudgate. Das Ballet Indonesia stellt sich außerdem auch vor, und das National Ballet of Japan tanzt aus Tokyo an. Das chinesische Nationalballett ist mit an Bord. Außerdem zeigt sich das Korean National Ballet aus dem südkoreanischen Seoul.
Aber merken Sie was? Schon jetzt hat man den Eindruck einer gewissen Westlastigkeit. Und das geht so weiter: Aus Europa kommen 16 Ballettcompagnien online, darunter das Het Nationale Ballet (wo die Ex-Bolschoi-Ballerina Olga Smirnova tanzt), das Ballett der Scala aus Mailand, das der Pariser Opéra, das Wiener Staatsballett, das Bayerische Staatsballett aus München, das Staatsballett Berlin, das Stuttgarter Ballett und Les Ballets de Monte Carlo. Aber auch das Estnische Nationalballett tanzt mit. Auch Norwegen, Finnland und Schweden sind mit jeweils ihren großen Hauptstadtballetten dabei. Dass gleich drei Ensembles aus Deutschland mitmachen, ist auch neu. Es fällt also auf: Compagnien aus Staaten, die deutlich den USA zuneigen, scheinen hier bevorzugt.
Und dann präsentiert sich das United Kingdom mit sechs Teilnehmern ja auch wirklich überproportional. Nachgerade kolonial. Dass sich der World-Ballet-Day-Organisator Kevin O’Hare vom Royal Ballet aus London da nicht schämt. Warum dieses Übergewicht englischer Compagnien? Das Birmingham Ballet und das Scottish Ballet wie auch das Northern Ballet sind ja sicher interessant. Vor allem aber ist es das English National Ballet, die schärfste Konkurrenz vor Ort in London vom Royal Ballet. Letzteres schickt nun aber zusätzlich noch zwei unterrichtende Institutionen ins Rennen: die Imperial Society of Teachers of Dancing, die mit Ballett eigentlich gar nicht so viel zu tun hat, und die grauenvolle Geldmacher-Maschine Royal Academy of Dance. Viel Spaß mit süßlich abgeknickten Handgelenken und abgeflachten Kombinationen!
Die Gier nach Geld scheint somit Einzug zu halten in den World Ballet Day. Offenkundig will man diesen speziellen Tag neuerdings als Werbeplattform für überteuerte Unterrichtsstunden nutzen. Kevin O’Hare sagt das aber leider nicht deutlich, sondern jubelt uns diese Mission quasi unter. Das haben wir nicht so gern!
Die Tendenz, Ballett zu einer superteuren Kunst für Kinder der Superreichen zu machen (die zwar nicht immer talentiert sind, deren Eltern aber Höchstpreise zahlen), kommt natürlich aus den USA. Dort finanzieren die großen renommierten Schulen wie die SAB (School of American Ballet) in New York schon seit Jahren dank vieler reicher Nicht-Talente die dazu gehörenden Compagnien, die dort ja kaum staatliche Zuschüsse erhalten.
Dafür steigen die Preise für die Studenten immer weiter hoch. Es gibt sogar Stipendien für begabte Kandidaten, die dann immer noch Summen von 3000 Euro (London) bis 5000 Dollar (New York) pro Monat allein an Schulgeld dazu zahlen sollen. Miete, Essens-, Kleidungs- und Gesundheitskosten sind da noch nicht drin. Spitzenschuhe übrigens auch nicht. In Deutschland würde man so etwas keineswegs als „Stipendium“ bezeichnen.
Man will eine solche Konstruktion auch gar nicht in einem demokratischen Europa, das sein Staatsgeld eben nicht vor allem für Waffen ausgeben soll, sondern auch für Kultur und Soziales. Aber werden wir engagierten Kultur-Europäer genug Widerstand leisten gegen das amerikanische Modell, das uns in allen möglichen Bereichen aufgedrückt wird? Das Ballett-Journal würde es zum Beispiel gar nicht geben, wenn man sich auf staatliche Förderung verlassen würde.
So manche Zeitgenossen werden wohl erst spät aufwachen, was das angeht.
Bis dahin gilt ganz ironisch: Alles Gute kommt aus den USA… Unter den schon erwähnten 24 amerikanischen Truppen sind das Texas Ballet – von dem man sonst in Europa eigentlich nichts hört – und das Miami City Ballet, das mit seinem Repertoire aus Stücken von George Balanchine einen sehr guten Ruf auch in Europa hat, wiewohl es leider fast nie auf Tourneen hierher kommt.
Das Philadelphia Ballet von Angel Corella ist auch mit dabei, das Boston Ballet, das American Ballet Theatre, das Washington Ballet, das Alvin Ailey American Dance Theater – und einige Ensembles aus Lateinamerika. So aus Puerto Rico und aus Sao Paulo.
Und, immerhin, als große Ausnahme im West-Zirkus: das Ballet Nacional de Cuba aus Havanna. Außerdem wird auch das Kanadische Nationalballett hier mit zu den Amerikanern gezählt. Ein sehr bunter Rundumschlag also.
Die Freude an der beflügelten Arbeit der Ballettleute sollte sich denn auch nicht unterbuttern lassen. Aber man sollte mit wissendem Geist genießen.
Eine weitere Attraktion aufgrund ihrer seltenen Erscheinungsweise bei uns sind die beiden afrikanischen Ensembles, die sich dieses Mal beim WBD zeigen: das Cape Town City Ballet und das Joburg Ballet. Man darf annehmen, dass sie ziemlich modern daher kommen – seien wir darauf gespannt!
Gisela Sonnenburg