Wer knapp 50 Euro für eine aufgeblähte Werbebroschüre ausgeben will – statt sie dem fleißigen Ballett-Journal zu spenden, das sie bitter nötig hat – sollte sich diesen ansonsten eher überflüssigen Band kaufen, obwohl er vom Format her mit 30 cm für die meisten Bücherregale zu breit ist. Für seinen Inhalt ist sowieso viel zu breit! „50 Jahre Hamburg Ballett John Neumeier. Bilder einer Ära“ enthält keinen einzigen intelligenten Text, dafür aber viele bunte und – aus der Vergangenheit kommend – vornehm in Schwarz-weiß gehaltene Fotografien. Für wie supertoll das Hamburg Ballett, das hier als Herausgeber fungiert, sich selber hält, kann man in plumpen, wie von Bots erfundenen, wirklich sehr beliebigen „Statements“ über glückselige Befindlichkeit auch nachlesen. Sogar zweisprachig, also auf deutsch und englisch. Mitteilungen über unsere Zeit, unsere Gesellschaft, die Entwicklung der Tanzkunst oder auch über die vom Hamburg Ballett werden darin nicht gemacht. Es geht immer nur darum, wie wunderbar und magisch und erfolgreich dieser eine Künstler sei. Von den laschen Lobhudeleien stammen einige von Neumeiers Mitarbeitern und Geschäftsfreunden – und die anderen stammen von ihm selbst oder seiner PR-Abteilung. Selten habe ich mich mit einem Buch so gelangweilt.
Dass eines der beiden Vorwörter auch noch von Olaf Scholz stammt – der erst als Hamburger Lokalpolitiker und Innensenator Mist baute und seit seinem Amtsantritt als Bundeskanzler das ganze Land ins Unglück stürzt und wie nebenbei den Dritten Weltkrieg riskiert – macht die Sache nicht besser. Aber als Regierungschef ist Scholz natürlich ein Herrschender – und mit ihnen schmückt sich John Neumeier seit einigen Jahren zusehens. Die Kunst gerät ihm dabei unwillkürlich zur Bespaßung der Reichen und Mächtigen. Das Gebuckel vor Politik und Wirtschaft mag ihm und seinem geldgeilen Tross zwar zeitgemäß erscheinen. Aber wahre Freunde des Künstlerischen wissen: Gesellschaftskritik und Utopie sind die Würze, die Kunst zu leisten hat, nicht nur Tünche und Dekoration.
Das neu erschienene Buch weiß das aber mitnichten.
Mein Tipp an die Fans: Wer sich zum Thema John Neumeier wirklich eine Freude machen will, versucht bitte, antiquarisch ein Buch zu kaufen, das 1983 in Hamburg im Christians Verlag erschien und „Zehn Jahre John Neumeier und das Hamburger Ballett 1973 – 1983“ heißt. Das ist ein tatsächlich unbezahlbar hochwertig gemachtes, der künstlerischen Arbeit angemessenes Buch, das zudem viel bessere Fotografien als das neue Machwerk enthält sowie stilvolle Texte und eine Archivierung, die diese Bezeichnungen wert sind.
Ein wenig wundere ich mich ja schon, dass John Neumeier, der unbestreitbar einer der bedeutendsten Choreografen und Künstler überhaupt ist, im letzten Jahrzehnt langsam, aber konsequent in den typischen Narzissmus eines Erfolgssüchtigen abdriftete.
Konnte man ihn früher noch herzhaft kritisch befragen, lehnt er schon seit Jahren jedwedes Gespräch, in dem er ein Kontra vermuten muss, rundweg ab. Sicher ähnelt er darin jenen Politikern, denen er nacheifert. Demokratie und Freiheit der staatlich geförderten Kunst? Das war wohl mal in Deutschland. Heute darf sie die Politik der Regierenden anscheinend nicht mehr kritisieren – oder sie erhält eben keine Förderung.
Gerade von einem alten Haudegen wie Neumeier, der die 80 Lebensjahre schon überschritten und sich eigentlich nichts mehr zu beweisen hat, sollte man da nun wenigstens zaghaften Widerstand erwarten. Aber Pustekuchen. Running for the money – eine andere Devise scheint das Hamburg Ballett nicht mehr zu kennen. Auch seine PR-Aktionen, wie Spenden für das millionenschwere Unternehmen „Hamburg Leuchtfeuer Hospiz“ zu sammeln, reihen sich in diese aus der globalen Wirtschaft stammenden Mentalität ein.
Die wenigen Weggefährten, die Neumeier in seinem neuen Band kurz zu Wort kommen lässt, sind zum Beispiel Brigitte Lefèvre, die zeitweise auffallend schlecht geliftete vormalige Chefin vom Pariser Ballet de l’Opéra, und Vladimir Urin, aktueller Chef vom Bolschoi Ballett in Moskau. Ihm hat Neumeier allerdings soeben einen Tritt in den Hintern verpasst, indem er das Bolschoi Ballett für die Nijinsky-Gala 2023 in Hamburg erst offiziell einlud und dann aus politischen Gründen wieder offiziell auslud, was Tante Scholz sicher genau so haben möchte.
Es ist also fraglich, ob Urin ein Zitat im Neumeier-Buch heute noch so bestätigen könnte: „Es ist ein kreativer und menschlicher Glücksfall, dass die Vorsehung es mir möglich machte, John zu begegnen.“ Diese noble Harmonie, diese liebevolle Geduld mit dem kapriziösen Neumeier, die Urin 2013 anlässlich Neumeiers 40. Hamburg-Jubiläum mitteilte, dürften nicht zur Gegenwart ihres Verhältnisses passen.
Seine Identität als kultureller Brückenbauer, die John Neumeier jahrzehntelang mit den Geldern deutscher Steuerzahler vorbildlich verkörperte, hat er mit seiner öffentlichen Bezeichnung Putins als „Idiot“ bereits im März diesen Jahres abgelegt. Wenn die deutsche Regierung Hetze gegen Russland wünscht, ist auch ein Neumeier mit dabei. Offenkundiges Kriechen vor der absurd schlechten deutsch-europäischen Politik, die die erwiesene Unterwanderung der Ukraine von Nazis bis in höchste Kreise ignoriert, gehört da wohl zum Standardrepertoire eines Fossils, wie auch Neumeier es darstellt.
Neumeier, der der russischen Tanzkultur mehr verdankt als jeder anderen, kann zwischen Politik und Kunst nicht mehr trennen. Ob er überhaupt weiß, was Minsk II bezeichnet – nämlich einen Völkervertrag – ist nicht sicher. Weiterhin ist unsicher, ob es ihn überhaupt interessiert.
Als mehrfacher Millionär hat er sich eindeutig und bislang ohne Ausnahme auf die Seite der immer absahnenden, immer mitlaufenden Oberschichten gestellt.
Seine nicht geringen staatlichen Gelder – auch aus den Kassen der Unterschichten – erhält er trotzdem oder gerade deshalb. Ohne sie könnte er seinen ganzen Budenzauber vergessen. Und auch wenn er mit einigen megareichen Sponsoren paktiert: Die Grundlage seiner Arbeit bezahlt immer noch die deutsche Bevölkerung.
Was hat sie nun davon? Früher brachte Neumeier viele fulminante, unverwechselbare Ballette hervor. Heute hängt er sich an Trends, die ihm nicht liegen, und vermasselt so seine Erfolgsstücke „Ein Sommernachtstraum“ und „Dornröschen“ mit unsachgemäß-dilettantisch durchgeführten Änderungen.
Man muss Neumeiers Werk eigentlich vor ihm schützen. Und seinen Geist vor seiner Habgier.
Die charmante Verbindlichkeit, die „Johnny“ früher ausstrahlte, ist denn auch im neuen Buch überhaupt nicht mehr präsent.
Darin geht es nicht mehr um den Bezug der Kunst zur Welt, sondern nur noch um Neumeiers Selbstverherrlichung. Das betrifft auch die wenigen Fremdbeiträge.
Brigitte Lefèvre jedenfalls hat Neumeier für dieses Büchlein eine peinlich austauschbare Glückwunsch-Gravur autorisiert, die angeblich von einer „Welle der Dankbarkeit“ für seine Kunst getragen ist. Und weiter: „Dank Dir ist das Hamburg Ballett ein Schmuckstück“ – was für eine Plattitüde. Schade. Denn früher hatte Lefèvre – und zwar außerhalb der Programmhefte vom Hamburg Ballett – durchaus Interessantes zu Neumeier zu sagen. Zum Beispiel prägte sie das Bonmot, dass „Die Kameliendame“, die Titelheldin einer von Neumeiers wichtigsten Choreografien, „die Giselle des 20. Jahrhunderts“ sei.
Und das, obwohl die „Kameliendame“ zwar verliebt ist und stirbt, aber nicht wahnsinnig wird und die verdiente Rache am Geliebten verhindert, wie es für „Giselle“ typisch ist. Und jetzt hat Lefèvre nur noch allgemein Dank für Neumeier übrig, ohne konkret zu sagen, wofür?
Was verbirgt uns Brigitte Lefèvre? Wenn Menschen sich derart in oberflächliche Floskeln stürzen, muss man unwillkürlich Abgründe des Grauens dahinter vermuten.
Kritik an Neumeier findet denn auch gar nicht statt. Nicht mal scherzhaft, selbstironisch oder selbstreflektorisch. Es ist wie auf dem Jahrmarkt: Neumeier, Neumeier, Neumeier!
Vladimir Urin aus Moskau darf nun ebenfalls mit im Chor der Gratulanten blöken, und zwar mit einem Statement aus der Zeit vor 2014. Das war vor der Verbrennung von fast fünfzig russophilen Menschen bei lebendigem Leib in einem Gewerkschaftshaus durch Rechtsextreme beim von den USA inszenierten „Maidan“, der angeblichen Befreiungsfeier der Ukraine, am 2. Mai 2014 in Odessa.
Dazu sagte John Neumeier nie ein Wort. Auch nicht zur Nato-Osterweiterung, die in mehreren Schritten für Russland faktisch bedrohlich war. Der von der Ukraine avisierte Beitritt zur Nato führte zum Einmarsch Russlands. John Neumeier aber hört nur noch die Propaganda der deutschen Regierung. Dafür nimmt er Geld, nicht zu knapp. Und es ist nicht überliefert, dass sich irgendein Mitglied vom Hamburg Ballett mal in welcher Hinsicht auch immer eine andere Meinung als die von John Neumeier hätte leisten dürfen.
Das autoritäre Modell ermöglichte Neumeier zwar fünf Jahrzehnte Herrschaft beim Hamburger Ballett. Aber fortschrittlich kann man es wirklich nicht nennen.
Und auch bei der Dokumentation der eigenen Geschichte hapert es.
„Wendung“ wird im Buch in großen Buchstaben fälschlicherweise der zweiteilige Ballettabend von 1977 genannt, der aber unter dem Namen „Wendungen“ (der Plural bezeichnet hier schon einen großen Unterschied) in die Ballettgeschichte einging. Er bestand aus der Choreografie „Vierte Sinfonie von Gustav Mahler“ und dem davor gezeigten gleichnamigen Tanz zum „Streichquintett in C-Dur von Franz Schubert“. Letzterer war zuletzt 2021 auf der Nijinsky-Gala zu sehen, zu Ehren der damals verstorbenen ehemaligen Neumeier-Tänzerin Colleen Scott.
Eine DVD, von Unitel vertrieben, beinhaltet nun nur diesen Schubert-Teil, unter dem logischen, im Singular gehaltenen Titel „Wendung“. Die entsprechenden Aufführungen im Opernhaus aber waren bisher immer zweiteilig und hießen stets „Wendungen“. Im Plural.
Einzahl oder Mehrzahl? Wenn das Hamburg Ballett nun selbst schon nicht mehr durchsteigt bei all seinen Projekten, wie sollen es andere? Und warum werden diejenigen, die das können und tun, ausgegrenzt?
Seit Neumeier in Hamburg begann, nützte ihm die Presse eine Menge. Er hat uns Journalisten benutzt, von der ersten Spielzeit an.
Ohne unseren öffentlichkeitswirksamen Zuspruch hätte er sich mit seiner erotischen Obsession im spießigen Hamburg niemals 50 Jahre am Ruder halten können. Dass er jetzt aber alle erhaltene Unterstützung und alle Anregungen, die von Kritikern stammen, verschweigt, ist einfach schäbig. Und ich bin ja nun nicht die Einzige, die manches, das sie als Rat und Inspiration für ihn schrieb, später mit Freuden von Neumeier umgesetzt sah.
Doch weder die Verstorbenen wie Horst Koegler und Klaus Witzeling noch die Lebenden wie Neumeiers High-Society-Freundin Dorian Weickmann, wie Manuel Brug von der „Welt“ oder auch wie meine Wenigkeit (ich darf sagen, dass ich mit Abstand am meisten und wohl auch am kenntnisreichsten über Neumeiers Arbeiten publiziert habe) werden in irgendeiner Weise genannt oder zitiert.
Die Vermarktungsstrategie dieses Buches ist abschreckenderweise blindwütig eng gefasst: Nichts, nicht ein einziges Schlagwort und kein einziger Name, den man googeln könnte, soll von der Selbstherrlichkeit Neumeiers in diesem Buch ablenken und womöglich auf andere Publikationen hinweisen. Nur die Selbstdarstellung vom Hamburg Ballett soll dem Publikum eingefüttert werden – jede andere, jede eigene Meinung und Erkenntnis zum Thema wird totgeschwiegen.
Schlimm. Und nicht mal demokratisch. Wenn man bedenkt, dass das Hamburg Ballett keineswegs John Neumeier gehört, sondern der steuerzahlenden Allgemeinheit, dann gehören in so einen fetten Schinken von über 250 großflächigen Buchseiten unbedingt auch die Gewürze und Aromen, Perspektiven und Gedanken derjenigen, die die Öffentlichkeit fachlich-professionell vertreten, also der Journalisten und Kritiker.
Dankbarkeit ist indes eben nicht das, wofür man das Hamburg Ballett in unseren Kreisen kennt. Und nicht nur der Journaille macht John Neumeier oft genug das Leben schwer.
Es gibt unter seinen Fans in Hamburg Menschen, die ihre besten Jugendjahre und einen beträchtlichen Teil ihres Gehalts dafür ausgeben, um möglichst in jeder Vorstellung vom Hamburg Ballett zu sitzen. Oft auch noch bewaffnet mit diversen Blumensträußen für die geliebten Bühnenkünstler. Natürlich kommen diese Leute freiwillig und nicht etwa aus einem ominösen Suchtzwang heraus. Oder doch?
Genannt werden sie mit keiner Zeile in dieser Erfolgsdokumentation, die auf ihren letzten Seiten noch Werbung für die Körber Stiftung und die Opernstiftung Hamburg, die den Buchdruck mit finanzierten, betreibt. Falls jemand mal größere Summen spenden möchte.
Seinen Status als gemeinnützige Organisation konnte das Hamburg Ballett nämlich nicht halten, darum werden jetzt diese Stiftungen aufgeführt.
Jedenfalls ist damit zu rechnen, dass die genannten freigiebigen Fans eines Tages aufwachen und sich fragen, wofür sie all ihre Zeit und all ihr Geld jahre- oder jahrzehntelang vergeben haben. Dann werden sie vermutlich wütend und all ihre Devotionalien, inklusive dieses Buches zum 50. von Neumeier beim Hamburger Ballett, auf den Markt werfen. Es hat also keinen Sinn, diesen Band als Wertanlage zu kaufen.
Fraglos dokumentiert das Buch ungewollt den Abstieg von John Neumeier. Vom zurecht umjubelten Weltkünstler verkam er zum Vertreter einer deutschen Marke, die sich von Wirtschaft und Politik instrumentalisieren lässt.
Es ist seine Geschichte von Niveauverlust und von Selbstüberschätzung.
Erfolgssucht kann eben schlimme Folgen haben – Neumeier ist dafür ein deutliches Beispiel. Insofern lohnt sich die Ansicht dieser im übrigen auf viel zu schweres und zudem stinkendes Papier gedruckten Selbstverherrlichung Neumeiers vielleicht doch.
Gisela Sonnenburg
Erschienen im Henschel Verlag, Leipzig, 256 Seiten, 330 Abbildungen, 49 Euro in Deutschland (in Österreich etwas mehr), ISBN: 978-3-89487-840-5