„Othello“ im Visier der Zensur John Neumeier wurde in Kopenhagen das prominenteste jüngste Opfer der Woke-Zensur im Ballett

Die Nijinsky-Gala XLVI im Jahr 2021 beim Hamburg Ballett

Ryan Tomash und Astrid Elbe vom Königlich-Dänischen Ballett in Kopenhagen in „Othello“ von John Neumeier während der Nijinsky-Gala 2021 in Hamburg. Foto: Kiran West

Das musste ja mal kommen. Jetzt darf sich auch John Neumeier vom Hamburg Ballett zu den Opfern der internationalen Woke-Zensur zählen. In Kopenhagen in Dänemark, das einst ein fortschrittlicher Hort europäischer Toleranz war, hat es Neumeiers geniales Tanztheaterstück  „Othello“ kalt erwischt. Der dänische Ballettdirektor Nikolaj Hübbe, eigentlich ein langjähriger Freund von Neumeier, setzte das provokante, in Hamburg vielfach gespielte Tanzdrama zwar erst mutig auf den Spielplan, um es jetzt während der Probenzeit ziemlich feige wieder abzusetzen. Grund: Es gab Beschwerden aus dem Ensemble in der Art, ein männliches Solo, das die Fantasie von Desdemona über ihren Othello illustriert, entspreche rassistischen Stereotypen. Wir kennen das Stück sehr gut und können darum mit Fug und Recht behaupten: Es ist wohl vielmehr das eingeschränkte Denken, das hier ausgerechnet bei Neumeier Rassismus orten will. Die Freiheit der Kunst weicht durch solche Vorgänge aber weltweit in staatlichen Einrichtungen mehr und mehr einer Scheindebatte, die faktisch nichts anderes will als knallharte Zensur. Da wird nicht debattiert, sondern abgesetzt. Schlimm. Dieses ist vergleichbar mit dem Schänden von Gemälden durch Klimaaktivisten. Kunst wird beschädigt oder verhindert, weil bezahlte lobbyistische Gruppen, die damit von der aktuellen Politik ablenken wollen, die Macht ergreifen. Sie wollen uns diktieren, was Kunst und Kultur sei und was nicht. Liebe Leute, da ist Wachsamkeit gefordert!

Man muss bei den Wokeness-Exzessen, die durch ausdauernde Diskussionen um Diskriminierung selbst zur Diskriminierung werden, ja ein nachgerade sadistisches Vergnügen ihrer Jünger vermuten.

Jedenfalls wird das Publikum vom Königlichen Dänischen Ballett nun betrogen und ist um ein wichtiges Erlebnis gebracht worden. Pfui, Nikolaj!

Wir erinnern uns: 1985 wurde das rasant-fulminante Werk in Hamburg uraufgeführt.

Und zwar nicht im Opernhaus, sondern auf Kampnagel, was damals ein wirklich subversiver und extrem fortschrittlicher Kulturhort war. Später wanderte das Stück in die Hamburgische Staatsoper, wo man es noch vor wenigen Jahren in wechselnden, stets furiosen Besetzungen unbeanstandet genießen und feiern konnte.

Amilcar Moret Gonzalez und Hélène Bouchet, beide vom Hamburg Ballett, als unglückliches Liebespaar in Neumeiers „Othello“. Web-Foto: Holger Badekow

Schon bei William Shakespeare, der das dem modernen Ballett zu Grunde liegende Theaterstück 1604 erstveröffentlichte, hat „Othello“ keine romantisierende, sondern eine provozierende Note. Die Fragen nach den Unterschieden von Kulturen und auch Geschlechtern werden radikal aufgetischt, heute würde man sagen: Integration und Integrationsprobleme sind bei Shakespeare kein Tabu gewesen.

So verhält es sich auch bei Neumeier. So gehört es sich eben auch für Kunst. Natürlich kann man stets diskutieren und debattieren. Aber einfach absetzen – das ist Zensur.

Das haben Neumeier und Othello und auch Shakespeare nicht verdient, und das Publikum hat es schon gar nicht verdient.

Was haben wir verbrochen? Der bekannteste Fall angeblicher rassistischer Diskriminierung im Ballett, der vom Herbst 2020 stammt, entpuppte sich bereits als Fake. Dennoch wurde diese wohl bekannteste Lügnerin der Tanzwelt, die ehemalige Berliner und dann Mulhousener Tänzerin Chloé Lopes Gomes, soeben zum auch hochkarätig besetzten Symposium „Tanzausbildung im Wandel“ nach München eingeladen. Ihr Opfer, die Berliner Ballettmeisterin Barbara Schroeder, wurde nicht gebeten, teilzunehmen.

Barbara Schroeder vom Staatsballett Berlin als Klägerin

Ballettmeisterin Barbara Schroeder-Kozianka und ihre Anwalt Jens Brückner in Saal 334 im Landesarbeitsgericht Berlin am Montag, 25.10.21. Es kam raus: Die Anschuldigungen von Chloé Lopes Gomes, die Ballettmeisterin habe sie rassistisch diskriminiert, waren falsch. Foto: Gisela Sonnenburg

Und jetzt also Othello. Warum nicht auch Carmen? Die Butterfly der Oper kam eh schon in den irrsinnigen Wokeness-Verruf. Bald ist „Dornröschen“ auch mal dran, wegen Verführung Minderjähriger auf der Bühne. Auch „Romeo und Julia“ sind im Grunde ein Fall für die Schlachtbank. Viel zu jung und viel zu radikal für diese Welt!

Sie werden uns Stück für Stück alles nehmen, wenn wir die Freiheit der Kunst und auch die der Meinungs- und Pressefreiheit nicht verteidigen.

In den USA grassieren bereits gut bezahlte Workshop-Leiter, sie „lehren“, das romantisch-feministische Ballett „Giselle“ sei frauenverachtend.

Die Schwäne im „Schwanensee“ dürfen sich bald wohl nur noch auf Kuba und in Russland ungestraft weiß schminken, um mehr nach Wasservögeln statt nach Menschen auszusehen.

Man hat für die Wokeness-Bewegung Form und Inhalt gezielt verwechselt, um künstlerisch unbedeutenden Menschen die Chance zu geben, Kunst von Bedeutung vom Sockel zu stoßen. Ich nenne das Faschismus. Sie können es Unfreiheit nennen. Ich nenne es Zensur. Sie können es sogar Gerechtigkeit nennen. Aber Sie liegen damit falsch.

Kein Schwan im Ballett war je diskriminierend. Auch nicht mit Körperschminke. Es haben sich alle weiß geschminkt, egal, welcher Hautfarbe sie von Natur aus waren. Es ging um ein Kostüm, das man mit Körperschminke vervollständigte.

Schwanenmädchen

Sie sind reizvoll, aber wer sind sie wirklich? Die Schwanenmädchen im „Schwanensee“ beim Staatsballett Berlin trugen 2014 noch weiße Schminke am Körper – alle. Foto: Enrico Nawrath

Auch Othello hat eine tolle Theatertradition hinter sich. Peter Zadek inszenierte ihn so, dass Othello mit Schuhcreme geschminkt war, die abfärbte. Je öfter er seine erst geliebte, dann von ihm aus Eifersucht getötete Desdemona anfasste, desto mehr schwarze Farbe bekam sie ab. Er beschmutzte sie mit jedem Griff. Eine absichtliche Provokation, die damals verstanden wurde.

Es waren die negativen Gedanken der Gesellschaft, es war die rassistische Diskriminierung, die Zadek mit der schwarzen Farbe drastisch sichtbar machte. Othello hatte sie verinnerlicht, konnte sich nicht von ihr freimachen. Niemand empfand das als Zeichen von Intoleranz.

Warum lassen wir uns heute auf ein geistiges Niveau herab, das vielleicht der BILD entspricht, aber ganz sicher nicht dem, was wir an Kulturgütern und künstlerischen Errungenschaften intellektuell zu bewältigen haben?

Liebe Leute, wenn Sie das Ballett und die Kunst lieben, setzen Sie sich dafür ein! Werden Sie tätig! Unterstützen Sie, was diese Kunst unterstützt, dazu zählt übrigens auch das BALLETT-JOURNAL, und sagen Sie NEIN zu unbotmäßiger Zensur.

Und nehmen Sie bitte zur Kenntnis: Pünktlich im November kochen jetzt jedes Jahr die Zensurdebatten der Wokeness hoch. Mit fatalen Folgen. Letztes Jahr, erinnern Sie sich, war der arme „Nussknacker“ dran: Zensoren wollten ihn schlachten, weil seine folkloristischen Anteile angeblich beleidigend waren. Fast hätte man völkerrechtliche Schritte eingeleitet, was jetzt scherzhaft gesagt ist. Das Völkerrecht ist dafür nicht zuständig. Noch nicht. Aber:

Madoka Sugai und Carsten Jung tanzen hier die Szene „Der chinesische Vogel“ in John Neumeiers „Nussknacker“ beim Hamburg Ballett. So fein und furios! Und das ist keine Diskriminierung, sondern eine Ehrung Chinas – und zudem ein ballettöser Ausdruck würdevoller künstlerischer Freiheit. Foto: Kiran West

Berlin hat dieses Jahr tatsächlich keinen „Nussknacker“ mehr. Das Hamburg Ballett darf sich hingegen glücklich schätzen – und sollte, wenn es dazu kommt, seine bunte tolle Kunst mit allem verteidigen, was es hat.

Vor John Neumeier muss man indes einmal mehr der Hut ziehen: Chapeau!

Denn er hat in Kopenhagen nicht mal eben nachgegeben und ein Solo geändert oder gestrichen, weil sich jemand mit falschen Gefühlen und boshaften Gedanken und auch erniedrigenden Anwürfen wichtig machen wollte.

Neumeier hat sein Werk verteidigt, und weil es ein bedeutendes Werk ist und es nicht selbstverständlich ist, dass ein Künstler sich nicht leichthin verkauft, sei ihm großer Dank dafür gesagt.

Hübbe kann sich ja jetzt, da die Sache sein Verhältnis zum wichtigsten Choreografen unserer Zeit getrübt hat, hemmungslos bei all den Stümpern bedienen, die in der Tanzwelt hoch bezahlt herumlaufen und behaupten, sie könnten Stücke machen. Nur zu! Hauptsache, woke!

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Vielleicht bemerkt das Publikum dann auch in Kopenhagen, was in unserer Gesellschaft  passiert. Nämlich ein gezielter Abbau der Freiheit von Kunst und Meinung, an den Gesetzen vorbei, ohne gerichtliche Grundlage, nur aufgrund willkürlicher Denunziationen.

Geht nicht hin, wenn es heißt: Wokeness im Theater. Geht hin, wenn es heißt: mutige Kunst!
Gisela Sonnenburg

P.S. Zur Berichterstattung anderer Medien über diesen Fall: Der NDR (Fernsehen) zitiert John Neumeier zwar, verteidigt ihn und sein Werk aber nicht. Dazu ist anzumerken: Berichte, die nicht werten, obwohl sie vom Thema her der Meinungsbildung dienen sollten, gehen konform mit der Auffassung von Journalismus im Dritten Reich. Marcel Reich-Ranicki hat mir das in einem Interview mal genau erklärt, das liegt an der Vermengung von Medien und Machthabern. Die BILD wollte da wohl nicht nachstehen und hat sich mal wieder einen Klops gegönnt. Sie behauptet dreist, in Neumeiers Othello-Stück würden Tänzer wie Affen kreischen und sich den Kopf klopfen. Richtig ist: Zu Beginn des Stücks stoßen Tänzer, während sie auf die Bühne stürmen, kriegslüsterne Schreie und Rufe aus, die aber nicht im entferntesten an Affen erinnern. Pavianische Gesten etwa der Angeberei kann man wiederum in verbaler Hinsicht der BILD anlasten, aber keineswegs Neumeiers Stück. (GS)

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