Nüsse über Nüsse ohne Küsse „Der Nussknacker“ ohne Folkloretänze: Edward Clug richtet das Ballett beim Stuttgarter Ballett als modernisiertes Spektakel an

Clara (Elisa Badenes) schmust mit dem hölzernen Nussknacker, Onkel Drosselmeier (Jason Reilly) weiß davon. Foto: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Um es gleich zu sagen: Der Star des Abends ist kein Tänzer, kein Musiker und kein Choreograf. Der Star des Abends heißt Jürgen Rose – und er ist ein legendärer Ballettausstatter. Die Kostüme und Bühnenbilder, die er für Tanzmacher wie John Crankound John Neumeier schon schuf – oder auch für die letzte Stuttgarter Wiederaufnahme des „Mayerling“ von Kenneth MacMillan – haben substanziellen Bestand. Jetzt rettete Rose, mittlerweile im munteren Alter von 85 Jahren, eine Uraufführung, die trotz der geschmackvollen Dekoration etwas außer Rand und Band geriet. Das Publikum vom Stuttgarter Ballett erfreute sich vorgestern umso mehr am somit premierten „Nussknacker“ in der neuen Inszenierung von Edward Clug.

Allerdings ist das Vergnügen getrübt, und etwas Wesentliches wird vermisst: Aus Feigheit sparte sich Clug nicht nur die Debatte mit bezahlten Diversity-Radikalen, sondern auch gleich das Sujet, um das es dabei gehen könnte und um welches letztes Jahr um diese Zeit heftig debattiert wurde:

Die Folkloretänze, die traditionell in den „Nussknacker“ gehören wie das Nougat in die Mozart-Kugel, wurden hier entfernt.

"Der Nussknacker" von Edward Clug beim Stuttgarter Ballett

Jürgen Rose, der legendäre Meister der Kostüme und Kulissen im Ballett, legt hier bei einer Schleife für den „Nussknacker“ selbst Hand an. Videostill aus dem sehr gelungenen „Making of“-Trailer vom Stuttgarter Ballett: Gisela Sonnenburg

Statt dessen treten tanzende Spielzeuge (wie in „Die Puppenfee“), tanzende Tiere (wie im „Karneval der Tiere“) und ein Torero-Männertrupp (wie in manchen „Don Quixote“-Versionen) auf.

Toreros, das sei hier betont, sind keine ethnische Gruppe, sondern tierquälerische Stierkämpfer. Sie sind zwar gesellschaftlich viel stärker umstritten als Folkloretänzer, aber weil die Industriekultur der USA gerade dabei ist, die künstlerischen Traditionen Europas zu zerstören (und durch Pop, Jazz und Rock zu ersetzen) und sich um den Naturschutz einfach gar nicht kümmern, muss Clug nicht mit Demonstrationen von Tierschützern rechnen.

Hätte er sich an die Tradition vom „Nussknacker“ gehalten und furiosen spanischen Flamenco, erotischen arabischen Tanz, kecken chinesischen Tanz und virtuosen russischen Kosakentanz gezeigt, wären ihm vermutlich die ungebildeten Verfechter angeblich verletzter Gefühle auf die Pelle gerückt.

Aber muss Kunst das nicht aushalten? Muss Kunst nicht ihre Freiheit gegen Zensurgelüste, gleich von welcher Seite sie kommen, verteidigen? Zumal, wenn die Anwürfe objektiv nicht berechtigt sind und keinerlei gesetzliche Grundlage haben.

Diese Diskussion ist mal fällig – und nicht etwa die um Volkstänze.

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Das wiederum aber hätte der Hauptsponsor vom Stuttgarter Ballett, der Autobauer „Porsche“, nicht so gemocht. Also zog Clug schon vorab aus Gehorsam den Schwanz ein, Motto: ist doch wurscht, was da gehüpft wird, Hauptsache, es ist laut und bunt.

Das ist ein peinlicher Verrat an der Freiheit der Kunst, aber ein für heutige Karrieristen im Kunstbetrieb typisches Gebuckel vorm Kapital, das sich ja derzeit mit Vorliebe beim angeblichen Minderheitenschutz zwecks PR engagiert.

Wodurch ja nicht eine einzige echte rassistische Diskriminierung weniger stattfindet.

Aber: Die Kunst wird so diskriminiert, verstümmelt und zensiert, und das auch noch freiwillig vom Künstler selbst.

Edward Clug, gebürtiger Rumäne, verdankt seine Ausbildung übrigens dem sozialistischen System nach sowjetischem Vorbild. Aber er ist schon seit Jahren ein zuverlässiger Vasall der westlichen Trends. Seine Choreografien haben mitunter Witz und Charme, sind aber oftmals ebenso hirn- und vor allem herzlos. Niemand hat hier Tränen der Rührung in den Augen, und niemand lacht laut von Herzen auf. Zynismus ist es eher, was sich einstellt – und eine kindliche Freude am Glamour glattgebügelter Märchenfantasien.

Und so ist dieser brandneue „Nussknacker“ vor allem eins: ein Schautanz der Kulissen.

Zentral darin: die Nuss als szenisches – nicht inhaltliches – Leitmotiv. Die Tänzerinnen und Tänzer bleiben hingegen unter ihren Möglichkeiten.

Nüsse über Nüsse prägen das Showbild – ohne Küsse.

"Der Nussknacker" von Edward Clug beim Stuttgarter Ballett

Zu Beginn sind die Nüsse hier noch ganz schön klein… Jason Reilly und Elisa Badenes in „Der Nussknacker“ von Edward Clug. Foto: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Zu Beginn handelt es sich noch um kleine Walnüsse, die dann als immer größere Exemplare, mal kindskopf-, mal fußballgroß, auf der Bühne gezeigt und als Requisiten benutzt werden.

Schließlich bilden riesenhafte Nüsse die Kulissen, sie bergen Throne und Türen. Ist die Nuss unsere künftige Lebensreligion?

Aber der Reihe nach. Für den Anfang hat sich Clug bei den „Nussknacker“-Versionen von Aaron S. Watkin und Rudolf Nurejew Inspiration geholt.

Wie bei Watkin beim Semperoper Ballett sieht man einen Weihnachtsmarkt auf der Bühne, sehr stilisiert allerdings, mit einem Glühweinstand im Hintergrund.

Und wie bei Nurejew in Paris laufen junge Menschen Schlittschuhe, ziehen einen Schlitten, werfen auch Schneebälle. All dies zaubert eine hübsche, aus den üblichen Werbefilmen bekannte Adventsatmosphäre herbei.

Dass ein Kinderchor „Oh du fröhliche“ auf die famose „Nussknacker“-Musik von Peter I. Tschaikowsky draufsingt, ist ein Gag, der nicht funktioniert.

Aber fast unmerklich verwandelt sich der Outdoor-Christmarkt in das Indoor-Zuhause von Clara. Sie ist hier, wie immer im „Nussknacker“, die Heldin.

Elisa Badenes tanzt das Kind Clara mit bewährter Anmut und etwas routinierter Mimik. Vor allem muss diese Clara hier staunen, wie es Kinder zu Weihnachten eben sollen. Unterstützt wird sie dabei von zahlreichen Kids von der John Cranko Schule: die angehenden Tänzerinnen und Tänzer beleben mit ihrer authentischen Jugend das Spiel.

"Der Nussknacker" von Edward Clug beim Stuttgarter Ballett

Ein sich selbst drehender Weihnachtsbaum – eine Erfindung von Starballettdesigner Jürgen Rose, zu sehen in „Der Nussknacker“ von Edward Clug. Foto: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Der Weihnachtsbaum dreht sich dazu von selbst, wodurch er mit einer fertig geschmückten Kette leicht zu schmücken ist: ein kleiner, aber feiner Coup mit Raffinesse, natürlich aus der Hand von Jürgen Rose.

Die Eltern von Clara sind hier Statisten, aber ein Augenklappe tragender Freund der Familie namens Drosselmeier, getanzt vom Stuttgarter Allround-Star Jason Reilly, hat den Status einer magischen Person. Er, der schon im ursprünglichen Libretto der Uraufführung von 1892 Claras Pate ist und ihr den Nussknacker als  Holzpuppe schenkt, ist hier in einen samtenen gelbgüldenen Gehrock gewandet, der ihn zugleich wie eine Art Modezar auftreten lässt.

Und tatsächlich: Zunehmend erscheint das Bühnengeschehen als von ihm beeinflusst. Ob er ein Alter ego von Jürgen Rose ist?

Da wird ein großes, langes weißes Tischtuch auf den Boden gelegt – und flugs kommt von unten ein Tischlein-deck-dich-Mechanismus wie im Schloss Neuschwanstein hoch, sodass die Tischdecke plötzlich eine lange Tafel ziert. Es gibt Szenenapplaus für diesen technischen Effekt.

Das Bühnenvolk nimmt Platz, isst und trinkt nun, plaudert – es ist eine neckische Szene mit anheimelnder Konsum-Atmosphäre, mit der sich jeder eindeutig identifizieren kann.

Danach wird wieder ein bisschen gezaubert: Das Tischtuch dient am Bühnenhorizont als Leinwand. Denn den Kindern soll am Weihnachtsfest eine Aufführung gezeigt werden, und die Scherenschnitt-Silhouette vom eher putzigen Mäusekönig präsentiert gleich mal das Böse im Kinderzimmerformat.

"Der Nussknacker" von Edward Clug beim Stuttgarter Ballett

Jason Reilly als Drosselmeier und Elisa Badenes als Clara mit „Nussknacker“ in der Inszenierung von Edward Clug. Foto: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Höhepunkt des Theaters-im-Theater ist aber der Auftritt vom Nussknacker. Seine Besonderheit: Von vorn ist er ein Nussknacker, von hinten ein Märchenprinz. Da allerdings sein Nussknacker-Helm auch den Prinzen ziert, wirkt diese Hoheit ein wenig schräg.

Clara und die Kinder werden trotz Prinz und Mäusekönig müde. Man sieht Clara im Bett, aber sie schläft nicht. Und so bleibt die Frage offen, ob sie die folgenden Fantasy-Szenen träumt oder ob die Realität eine Öffnung ins Reich des Surrealen erhält.

Jedenfalls beginnen ihre Spielzeuge zu tanzen, sodass man sich fast im etwas altbackenen Ballett „Die Puppenfee“ von Josef Bayer von 1888 wähnt.

Auch eine Truppe Zinnsoldaten wird lebendig, marschiert und tanzt – und macht das Kinderzimmer zum ballettösen Exerzierplatz. Tanzende Soldaten kämpfen im tradierten „Nussknacker“ gegen die böse Mäuseschar – hier entfällt das.

Dafür geht es in der Fantasie tief in den Wald, wo schließlich die Elfen tanzen, also die weiblichen Naturwesen – und man wähnt sich im Tschaikowsky-Ballett „Dornröschen“, wo feminine Abgesandte der Fliederfee dem Prinzenhelden helfen.

Nur ist der Wald hier nicht mit normalen Bäumen bestückt, sondern sie sind vom Nuss-Thema beherrscht.

Ein wenig fühlt man sich wie in einem Werbeclip für Weihnachtsnüsse. Soll jede Nuss für ein ungelöstes Rätsel stehen? Man weiß es nicht, Hinweise auf eine symbolische oder allegorische Bedeutung bleiben ja aus.

Mit der allen getanzten Nussknackereien zu Grunde liegenden Erzählung von E. T. A. Hoffmann hat diese Verherrlichung der Nüsse auch nichts zu tun. Bei Hoffmann steht sie schlicht für kulinarische Weihnachtsfreuden. Da wird bei Clug aber ganz anders getafelt. Gibt es weitere Deutungsoptionen?

Die Möglichkeit, dass die Nuss für die heranreifende weibliche Sexualität von Clara stehen soll, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Nur handelt es sich dann um eine sehr oberflächliche Sicht auf Sex, die sich im biologistischen Detail verlieren würde.

Wo bleibt denn das Gefühl von Clara? Ihre Tänze sagen dazu nichts aus, und ihr Umklammern der Holzpuppe wirkt eher verkrampft, als dass es ihre Fantasie beschleunigen könnte.

Nach dem Tanz der Waldfeen übernimmt auch wieder die Bühnentechnik das Geschehen und lässt eine einzelne supergroße Walnuss langsam von oben heranschweben. Ein Fruchtbarkeitssymbol? Die supergroße Nuss stoppt auf halber Höhe. Ist sie ein UFO?

"Der Nussknacker" von Edward Clug beim Stuttgarter Ballett

Oben die UFO-Nuss, unten die süßen jungen Damen vom Wald… so zu sehen in „Der Nussknacker“ von Edward Clug. Foto: Roman Novitzy / Stuttgarter Ballett

Ein Statist mit Riesenhammer nähert sich ihr. Den Akt der Zertrümmerung zu sehen, bleibt uns erspart. Spätestens jetzt ist klar: Die Nuss kann nicht für Claras Erwachsenwerden stehen. Sie steht für nichts. Und nach diesem Cliffhanger fällt auch schon der Vorhang. Pause!

Wer nun eine Steigerung der Handlung erwartet, wird enttäuscht. Wir verharren in Claras Traum, Wachtraum oder Mondfahrt. Und keine Zuckerfee hilft uns mit poetischem Tanz, kein See aus Milch und Honig fließt vorbei, und keine tanzenden Rohrstangen entführen uns ins „Reich der Süßigkeiten“, ins berühmt-berüchtigte Konfitürenburg, das Marius Petipa und Lew Iwanow bei der Uraufführung noch als Kinderparadies präsentierten.

Die Dramaturgin der Inszenierung, Vivien Arnold, legt Wert darauf, dass man hier den gesundheitsschädlichen Zucker als Ideal absichtlich und im Sinne des Kindswohls ausließ. Dem ist anzufügen, dass die Kariesquote bei Kindern drastisch nachließ, seit der Zahnpasta Fluorid beigesetzt wird. Dennoch ist es  ehrenwert, Süßigkeiten nicht zu verherrlichen. Es ist nur fraglich, ob ausgerechnet ein Ballett zur Weihnachtszeit eine zuckerarme Ernährung bewirken kann, indem es halt keine Sweets zeigt, derweil zahllose Werbevideos den kindlichen Heißhunger direkt in einen Overkill aus Glukose lenken.

Die gute Absicht zählt – und nach der Pause liegt die monstergroße UFO-Walnuss zerlegt auf der Bühne. Ob ein Riesenvogel sie geknackt hat?

Oder war es doch der Mann mit dem Hammer? Edward Clug ist das wahrscheinlich egal.

"Der Nussknacker" von Edward Clug beim Stuttgarter Ballett

So sieht eine echte Walnuss aus, wenn sie ein echter Vogel erst geschickt geknackt und dann gierig vernascht hat. Foto: Gisela Sonnenburg

Wir dürfen selbst entscheiden. Vor allem dürfen wir auch selbst entscheiden, was das Getue mit der Nuss überhaupt bedeuten soll. Mutmaßlich ist es nur ein dummes Spiel, eine Ablenkung, eine Dekoration.

Und das ist das Problem dieser Inszenierung. Alle Tiefe, alles Gefühl ist hier aus dem Stück gewichen. Im „Nussknacker“ geht es eigentlich um menschliche Beziehungen, um die erste Liebe, ums Erwachsenwerden – und da hat man hier schon Schwierigkeiten, hinter den tollen Farben der Ausstattung noch etwas Inhalt zu erkennen.

Im Original ist das Zauberland, in dem Clara (im Traum) landet, ein musterhafter Multikulti-Staat mit weiblicher Feenregierung und zahlreichen Gästen aus dem In- und Ausland, die vorzüglich tanzen können.

Für Clara ist es wie eine Weltreise, wenn für sie die verschiedenen Folkoretrupps auftreten. Und fürs Publikum ist es ein Toleranz fördernder Augenschmaus, zumal die Musik von Tschaikowsky entsprechend passend von ihm komponiert wurde.

"Der Nussknacker" hebt die Stimmung!

So viel Haut darf im „Danse oriental“ gezeigt werden, hier beim Schlussapplaus nach „Der Nussknacker“, einst beim Staatsballett Berlin zu sehen. Foto: Gisela Sonnenburg

All das fällt nun im zweiten Teil weg.

Dass nun dank der zensurwütigen, aus den USA gesponserten Diversity-Bewegung Volkstänze im Ballett als menschenverachtend dargestellt werden können (und nicht etwa die Gewaltverherrlichung und der Sexismus im Rap und Hiphop), zeigt, warum Edward Clug sich vor einer inhaltlichen Neudeutung des „Nussknackers“ scheut. Er will einfach keinen Krach riskieren, mit möglichst niemandem.

Wenn ein solcher Rückzug auf das Unwesentliche in der Kunst mal gutgeht.

In Clugs „Nussknacker“ sieht er so aus, dass der zweite Teil praktisch zu einer endlosen Gala auf kindlichem Niveau geraten ist.

Die Spielzeuge tanzen wieder auf, und dazu kommen Tiere aus dem Wald und der bunten Mediawelt. Eichhörnchen, ein Drache, ein Pferdchen, ein Käferballett aus Kindern, Schmetterlinge und Hirsche sind dabei.

Und zwei Kamele. Warum eines davon sozusagen schlafsüchtig ist und Drosselmeier von seinem Ruhelager verscheucht, ist unklar, wirkt aber leicht islamfeindlich. Das ist ein Witz, aber es gibt sicher Menschen, die das tierisch ernst nehmen möchten.

Da das andere vierbeinige Kamel in den Spagat geht, ist die Ehre der Araber übrigens auch wieder gerettet.

Drosselmeier ist nun nicht in dem Maße der Fremdenführer durch Fantasia, wie er es in den meisten anderen „Nussknacker“-Versionen ist. Aber er ist immer mit dabei und hat sein Auge hütend auf Clara gerichtet.

"Der Nussknacker" von Edward Clug beim Stuttgarter Ballett

Zwei Kamele setzen Clara in Erstaunen – in Edward Clugs Version von „Der Nussknacker“. Im Hintergrund Nüsse über Nüsse. Foto: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Die männlichen Toreros passen hingegen nicht so recht zum kuscheligen Tierballett.

Dass Stierkämpfer auf grausame Weise berufsmäßig Tiere ohne Betäubung foltern und töten, weshalb immer wieder das Unterlassen von Stierkämpfen gefordert wird, ist hier nicht gezeigt. Aber vielleicht wäre genau das wenigstens etwas Aufklärung in diesem süßlichen Tanzzirkus.

Einige getanzte Takte von scheinbar russischen Kosaken sollen wohl vor allem der weltweit berühmten Musik entsprechen, die Tschaikowsky für diese Nummer schuf. Der Reigen verschiedenster Volkstänze fehlt hier. Ohnehin ist unklar, für wen die Divertissements hier getanzt werden.

Für Drosselmeier? Für uns? Für Clara? Die hat indes was anderes im Sinn.

Clara hat sich unterm Weihnachtsbaum in ihren Ersatz-Barbie-Mann, also in den Nussknacker, verliebt. Jetzt sucht sie ihn. Sie will ihn erlösen, glaubt sie doch, er sei vom bösen Mäusekönig verwandelt und eigentlich ein feiner Prinz aus Fleisch und Blut.

Und tatsächlich. Plötzlich taucht Friedemann Vogel, Stuttgarts Superstar, als Traumprinz in Weiß auf. Eine goldene Nuss gebiert ihn, als fertigen Erwachsenen allerdings. Ein Supermacker aus der Nussretorte.

Was anderes als einen Pas de deux mit Clara kann es da geben? Clug choreografiert ihn auf klassischer Basis, dennoch fehlt ein verbindlicher Handlungszusammenhang. Ist der Prinz dem Mädel nun dankbar für seine Erlösung? Oder kann er sowieso die Gestalt wechseln, wie er will?

Edward Clug ist wohl auch das egal.

Aus unerfindlichen Gründen findet der Nussknacker-Prinz die keine Clara einfach klasse. Das reicht für zwei große Pas de deux, von denen einer zu Tschaikowsky-Klängen stattfindet, die nicht in der bekannten „Nussknacker“-Partitur enthalten sind.

"Der Nussknacker" von Edward Clug beim Stuttgarter Ballett

Elisa Badenes und Friedemann Vogel in Weiß in der Nussorgie von Edward Clug und Jürgen Rose. Foto: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Weil Clara, die zuvor in Rot gekleidet war, jetzt auch strahlendes Weiß trägt, ergeben die beiden ein hochzeitspaarähnliches, öffentlichkeitswirksames Duo.

Ob der Prinz, der ein gutes Stück älter ist als Clara, sie als Frau sieht oder ob er spielerisch mit ihr die Liebe eher probt, bleibt leider völlig unklar.

Einigen wir uns darauf, dass alles in Claras Jungmädchenfantasie stattfindet und sie da halt schon von der großen Liebe träumt.

Dass die Bühne im Verlauf des Abends immer leerer wird, mag ein Hinweis auf Claras Entfernung von der Realität sein. Fakt ist: Im Vergleich zu manchen anderen, eher überfrachtet wirkenden Nussknackereien ist Jürgen Roses neues Werk im zweiten Teil fast puristisch zu nennen.

"Der Nussknacker" von Edward Clug beim Stuttgarter Ballett

Nüsse, was sonst: Ausschnitt aus dem sehr gelungenen „Making of“-Trailer vom Stuttgarter Ballett über den „Nussknacker“ von Clug. Videostill: Gisela Sonnenburg

Wenn das der Konzentration auf das menschliche Geschehen, auf eine innere oder äußere Handlung, dienen würde, wäre das sehr passend. Aber hier bleibt es bei nicht weiter geklärten Verhältnissen.

Natürlich ist das oberflächlich im Vergleich zu dem Beziehungsgeflecht, das andere „Nussknacker“-Inszenierungen zu bieten haben.

Und wo sind wir hier eigentlich? Von welchem Land träumt Clara?

Nüsse, die auch mal Sitzgelegenheiten sind, suggerieren, dass wir uns im Reich der Walnuss befinden. Im Himalya wachsen Walnüsse übrigens in Höhen bis zu 3300 Metern. Hätte man da nicht eine neue Folklore finden können? Etwa tibetische Mönche einfliegen lassen? Hätte Porsche das nicht bezahlt?

Edward Clug wäre das sicher auch egal gewesen, er hätte es also mitgemacht.

Und sein „Nussknacker“-Stück hätte etwas mehr Würze erhalten und wenigstens einen Hauch von kulturell wertvoller, friedlicher Völkerverständigung.

Diesen hauptsächlichen Sinn haben nämlich die künstlerisch stilisierten Folkloretänze im klassischen Ballett, und sie erfüllen ihn auf grandiose Weise.

Sie zu plumpen Hass-Comics degradieren zu wollen, mag dem Bildungsstand der Denunzianten entsprechen. Faktisch ist das schlicht falsch. Man kann auch niemandem, der freundlich grüßt, dieses verbieten, weil es provozierend sein könnte. Dieses Verurteilen von unschuldigen Sündenböcken nervt wirklich.

Volkstänze im Ballett sollten unter besonderen kulturellen Schutz gestellt werden.

Jetzt fehlen sie im „Nussknacker“ fast ganz – und hoppelnde Plüschtiere auf der Bühne können sie nicht ersetzen.

"Der Nussknacker" von Edward Clug beim Stuttgarter Ballett

Kinder und Erwachsene vereint im Nuss-Rausch bei aufwändigen Kostümen… so zu sehen im „Nussknacker“ von Edward Clug. Foto: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Da sich die unsterblich brillante Musik von Tschaikowsky unter dem Dirigat von Wolfgang Heinz unaufhaltsam steigert, steigt aber auch ohne Pfeffer auf der Bühne die Stimmung. Eine Tanznummer nach der anderen wird beklatscht, auch ein Finale mit glitzerndem Konfetti gibt es – aber die schlussendlich vollgestellte Bühne hat keinen anderen szenischen Grund als den, Feste zu feiern, wie sie eben fallen.

Das ist ein bisschen wenig. Drosselmeier darf denn auch alles unkompliziert  beenden: mit einem Fingerschnipsen. Dunkelheit befällt die Szenerie.

Ob Clara wohlbehalten in ihrem Bettchen erwacht oder doch noch vom Drachen gefressen wird (vielleicht ist er ja ein Komplize des Mäusekönigs), werden wir nie erfahren.

Werte Leserschaft, Sie merken schon: Wir sind nicht wirklich begeistert vom neuen Clug-Machwerk, aber wer unbedingt seiner sympathischen Sucht nach einem „Nussknacker“-Ballett in der Weihnachtszeit frönen möchte, wird nicht zurückzuhalten sein.

In einer zweiten hochkarätigen Besetzung werden Anna Osadcenko, David Moore und das absolute Newcomer-Talent Ciro Ernesto Mansilla zu sehen sein.

Der Nussknacker von John Neumeier hat viel Esprit

Giorgia Giani als Marie im „Nussknacker“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett: lieblich und sympathisch, aber auch komisch wie in einer Satire. Foto: Kiran West

Dass John Cranko auch mal einen  „Nussknacker“ kreierte, wissen nur wenige. Aber angesichts der hervorragenden Tänzerinnen und Tänzer in Stuttgart würde man seine Version nur zu gerne sehen. Problem: Die Choreografie wurde nie notiert noch gefilmt und gilt von daher als verschollen. Und das bei einem Werk aus der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts. Man denke an dir russischen Originalversionen so vieler Ballette aus dem 19. Jahrhundert, die durch stete Überlieferung in den Ballettsälen überlebten.

Jetzt ist man in der schwäbischen Metropole froh, überhaupt einen „Nussknacker“ – sozusagen einen eigenen – vorweisen zu können.

Das Stuttgarter Publikum wird allerdings die Zuschauenden vom Hamburg Ballett und vom Semperoper Ballett um deren aktuelle Versionen vom „Nussknacker“ beneiden müssen.

Vor allem in Hamburg tobt nicht die leblose Nuss über die Bühne, sondern ein  tänzerisches Theaterleben im lieblich-dramatischen Format. Und: Auch für die dortige Version von John Neumeier schuf Jürgen Rose das Bühnenbild. Ist schon ein paar Jährchen her, aber die Frische seiner Farben, Rüschen und Samtschleifen im Stil der Belle Époque ist unübertroffen.

"Der Nussknacker" von Peter Wright beim Londoner Royal Ballet

Ein traditioneller „Nussknacker“ wartet im Kino auf die Fans. Hier tanzt Federico Bonelli, Star des  Londoner Royal Ballet, in der Inszenierung von Peter Wright. Foto: Tristram Kenton

Insider wissen es schon: Am Donnerstag, 8. Dezember 22 kann man endlich den „Nussknacker“ auch wieder im Kino sehen. Das Royal Ballet tanzt dann damit in vielen Städten weltweit, auch in Deutschland, und seine Version von Peter Wright ist so klassisch wie pompös. Es tanzen Fumi Kaneko und William Bracewell in den Hauptrollen.

Jetzt aber ab in die Heia und süß geträumt – vom Nussknacker und seinen tänzerischen Freundinnen und Freunden aus aller Welt natürlich!
Gisela Sonnenburg / Anonymous

www.stuttgarter-ballett.de

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