Es steckt viel drin in diesem Handlungsballett, das Marius Petipa 1898 in hohem Alter – mit rund 80 Jahren – und in Zusammenarbeit mit einer Frau schuf (Lydia Paschkowa ist für das Libretto mitverantwortlich). „Raymonda“ beschreibt eine Hochzeit auf Umwegen, denn zwei Kulturen prallen hierin aufeinander, und um ein Haar würde die Braut, die ungarische Titelheldin, von einem arabischen Hengst in männlicher Gestalt entführt. Die kunterbunten Grundkonstellationen sind denn auch ungewöhnlich: eine junge Frau zwischen zwei Männern; eine „Weiße Frau“ als hilfreiche Geisterscheinung; der blutige Tod des charismatischen Aggressors auf der Bühne; ungarisch und auch maurisch inspirierte Charaktertänze; ein Kinderballett mit Ausmaßen und in so hoher Qualität, dass man von einem Meilenstein sprechen kann. Ray Barra richtete diesen köstlichen Kuddelmuddel 2001 fürs Bayerische Staatsballett neu ein – und seine Version hat von ihrem Charme bislang nichts eingebüßt.
Ihr Debüt in der Titelpartie gab letzte Woche die Britin und Erste Solistin Laurretta Summerscales. Aber wie!
Schauspielerisch – hier hat die Barra’sche Version in der Ausstattung vo Klaus Hellenstein ohnehin einige Pluspunkte zu verzeichnen – wie auch tänzerisch beglückt sie mit zugleich ungestüm wirkender und dennoch bis in den letzten Fingerzeig durchgestylter Haltung.
Das ist klassisches Ballett, wie es sein soll, wie es mitreißt und wie es nie langweilig wird! Vorausgesetzt, man lässt sich auf ein Minimum an Vorwissen ein.
Die Magie des Tanzes entsteht nur, wenn eine Form-Inhalts-Beziehung den Körper zu einem starken Ausdruck der Seele macht. Und das finden wir hier wie in Reinkultur.
Petipa wollte mit der Figur „Raymonda“ eine Steigerung seiner perfekten „Dornröschen“-Prinzessin Aurora kreieren – und das gelang ihm in zahlreichen, mittlerweile weltberühmten Soli, Pas de deux und Grand Pas de deux mit Corps-Szenen.
Im übrigen verdanken wir den Bekanntheitsgrad von „Raymonda“ einem gewissen Rudolf Nurejew, der dieses Stück wie auch etliche andere – so „Don Quixote“, „Le Corsaire“ und „La Bayadère“ – praktisch im mentalen Gepäck mit sich führte, als er die Sowjetunion bei einem Gastspiel in Paris als geistige Heimat verließ und in den Westen wechselte.
Die „Raymonda“-Version von Nurejew war außerdem auch in dieser Saison schon – exzellent getanzt – beim Wiener Staatsballett zu besichtigen. Die dort darin reüssierende Maria Yakovleva ist eine Primaballerina, die die Schönheit der Partie mit ihrer erotischen Lebendigkeit fraglos zu vereinen weiß. Und auch Olga Esina, eine der poetischsten Ballerinen unserer Zeit, wusste in Wien als „Raymonda“ schon ohne jeden Zweifel zu begeistern.
In München hat das spezifische Flair von „Raymonda“ auf jeden Fall aber auch sein Anrecht!
Zumal es – durch die Version von Barra – etwas aufgelockerter und ein wenig enthemmter als die auf stylische Posen nachgerade versessene Nurejew-Version.
Zudem tanzen in München nun bald drei Ballerinen im Wechsel die Titelfigur dieses hintersinnigen Hochzeitsballetts:
Die berückende russische Primaballerina Ksenia Ryzhkova tanzte die Erstbesetzung; die charmante Britin Laurretta Summerscales den zweiten Cast – und am kommenden Samstag wird aller Voraussicht nach mit der österreichischen Solistin Prisca Zeisel eine Außenseiterin als Raymonda debütieren. Toll!
Die Titelheldin darf als Jungfrau von edler Geburt in diesem Ballett ihre ersten Erfahrungen mit der Liebe machen.
Zu Beginn der Handlung wird ihre Geburtstagsfeier vorbereitet – es steht zwar nicht wörtlich im Libretto, dass sie volljährig werden wird, aber man kann das durchaus vermuten. In gewisser Weise ist Raymonda also ein weibliches Gegenstück zu Siegfried aus dem „Schwanensee“.
Aber sie ist bereits verlobt. Der Graf Jean de Brienne (im zweiten Cast von Dmitrii Vyskubenko zunächst rollengemäß etwas blass, später aber köstlich herzhaft dargestellt) wartet nur darauf, die süße Raymonda in seine starken, jungmännlichen Arme schließen zu können.
Aber so ganz in Butter ist das Leben der jungen Edlen noch nicht.
In Barras Version scheint es leichte Differenzen des Paares zu geben, weil Jean sich vorwiegend für seinen „Männerkram“ interessiert, für Wehrhaftigkeit, hohe Sprünge, Repräsentanz.
Raymonda wiederum vermisst das Zärtliche, Leidenschaftliche der Liebe an ihrem Verlobten. Und findet es unverhofft bei einem anderen Mann: bei Abderakham, einem Sarazenen, der plötzlich mit Gefolge auftaucht und stürmisch und rückhaltlos um sie wirbt.
Yonah Acosta ist natürlich ein Wirbelwind aus purer Lust in dieser Rolle!
Der gebürtige Kubaner, auch privat mit Summerscales ein Paar, weiß, wie er mit geschmeidig-lasziven, superanmutigen Bewegungen und den entsprechend lüsternen Blicken ein zartes junges Ding verführerisch verwirrt.
Damit dieses erotische Fluidum auch die Beziehung zu Jean erfüllen kann, muss schließlich sogar die „Weiße Dame“ (sehr elegant und ätherisch: Kristina Lind) nachhelfen – und aus dem Pas de deux einen Pas de trois machen. Pikant, pikant!
Diese Weiße Frau fungiert bei Barra nicht nur als hilfreicher Geist, sondern auch als Personifikation des Unterbewussten, als Hüterin der Liebe wie der des häuslichen Wohlstands.
Sie vermag mit Visionen wie auch mit direkten Eingriffen in die Handlung das Geschick von Raymonda zu bestimmen.
Also keine bösen Vorurteile vor Weißen Frauen bitte – haben diese in englischen Schlössern als Schreckgespenster keinen guten Ruf, wird in „Raymonda“ mal gezeigt, wie sinnvoll und segensreich so ein Wirken einer aus dem Jenseits kommenden Energie sein kann.
Während ihrer Geburtstagsfeier aber wird Raymonda beinahe Opfer der dunklen Macho-Gelüste ihres Flirts Abderakhman.
Wilde, zigeunerhafte Tänze und sogar ein Bacchanal heizten die Stimmung an – und schon will der arabische Anführer das hübsche Geburtstagskind entführen lassen.
In letzter Sekunde erscheint Jean im Gefolge des Königs von Ungarn.
Es kommt zum Zweikampf der beiden Rivalen – und der schöne Araber muss sein Leben lassen.
So endet der zweite Akt.
Der dritte besteht dann ausschließlich aus dem gesteigert schönen Hochzeitsfest. Das Liebespaar Raymonda und Jean findet hier zusammen, der Grand pas hongrois, der Pas classique hongrois und das Kinderballett sowie ein Galopp und ein Turniertanz verleihen der Sache mittelalterlich-romantisches Flair.
Das ist ein Fest, wie es Ballettfreunde lieben!
Dazu bei trägt auch die für das Ballett maßgeschneiderte Musik von Alexander Glasunow (1865 – 1936).
Petipa suchte nach dem traurigen Selbstmord mit Cholera-Bazillen seines bevorzugten Komponisten Peter I. Tschaikowsky ein neues Talent, das ihm half, seine Bühnenträume auch akustisch zu Geniestreichen zu machen. Er fand es in dem jungen Glasunow, und obwohl die Kooperation zunächst nicht ganz reibungslos verlief (Glasunow konnte sich nur schwer daran gewöhnen, wie Tschaikowsky Takt für Takt und Note für Note passgenau Musik für ganz bestimmte Tänze abzuliefern), wurde aus den beiden ein Team, das die Kulturgeschichte unwiderruflich bereicherte.
Die von Folklorestimmung getragenen, dennoch elegant und stilvoll geschmiedeten Harmonien und natürlich auch die walzerträchtigen Melodien von „Raymonda“ spiegeln die dramatische, dennoch symbolhaft-liebliche Atmosphäre, die von diesem Ballett ausgehen soll.
Als Ballettfan darf man sich dem hingeben und mit den Tanzkünstlern den dritten Akt als höchstes Fest der schönsten Freuden genießen.
Virtuosität und Raffinesse, Existenzielles und Luxus reichen sich hierin die Hände.
Im zweiten Akt berückt zudem ein Klavier-Solo zu Raymondas tänzerischen Ausführungen – eine willkommene, fast puristische Abwechslung im reichhaltigen orchestralen Klangteppich.
Am Dirigat von Michael Schmidtsdorff fanden wir auch nichts zu bemäkeln – manche Musikfreunde in München wünschten sich allerdings noch mehr Pfiff und Schärfe und weniger romantisch vereinnahmte Paraphrasierung beim Vortrag.
Wenn man daran denkt, wie wohl die Uraufführung 1898 in Sankt Petersburg geklungen haben mag, nun ja, dann wird man indes ein klein wenig genügsamer mit den hohen Ansprüchen. Man muss auch mal tolerant sein und die Gier, alle neuesten (und vorübergehenden) Trends der Musikinterpretation umgehend zu bekommen, bezähmen. Kultur hat mit Zeit zu tun, nicht mit Hektik!
Eine Erinnerung an die allererste Raymonda, die legendäre Primaballerina Pierina Legnani, sei hier zudem erlaubt, zumal das Bayerische Staatsballett mit „Raymonda“ auch an den 200. Geburtstag von Marius Petipa, diesem unbestrittenen Ballettgenie, erinnern möchte.
Und nicht vergessen: Je mehr verschiedene Besetzungen des Stücks man gesehen hat, desto eher erfasst man all die nuancenreichen Details der Choreografie!
Gerade „Raymonda“ ist diesbezüglich ein gefundenes Glück für jeden, der die Klassik aufrichtig liebt.
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg
Termine: siehe „Spielplan“