Kochende Wut, brodelnde Lust „100 Grad“ nennt das Semperoper Ballett seinen neuen Dreiteiler mit „Heatscape“ von Justin Peck, „Gods and Dogs“ von Jiří Kylián und „Corpse de Ballet“ von Hofesh Shechter

Denis Veginy und das Ensemble des Semperoper Balletts schwirren sanft über die Bühne – in „Heatscape“ von Justin Peck. Foto: Ian Whalen

Man macht es sich schwer und leicht zugleich mit dem neuen Tanzabend beim Semperoper Ballett. „100 Grad“ heiß verspricht er zu werden – aber ob das so für jeden Zuschauer klappen wird, mag man nicht entscheiden. Falls Ballettdirektor Aaron S. Watkin von vielen, die vermutlich nicht mal kommen werden, in den Ruhestand geschickt werden möchte, liegt er mit diesem Programm aber vermutlich genau richtig. Denn für echte Ballettfans – und die in Dresden lieben die Klassik – ist das annoncierte zeitgenössische Gehüpfe im alleinigen Zeichen der Abstraktion eher gleichbedeutend mit großer Langeweile. Gehört so etwas nicht auch eher in moderne Räumlichkeiten? Was sollen solche Stücke in einem barock gestalteten, rundum bürgerlichen Opernhaus? Zumal der einstige Kassenmagnet „Heatscape“ von Justin Peck aus den USA hier seine ursprüngliche Bedeutung schon verlor, „Gods and Dogs“ von Jiří Kylián gerade nicht zu den kongenialen Stücken des Meisters zählt, sondern eher schon ein wenig abgedroschen wirkt – und das ziemlich bösartig als „Ballettleichnam“ betitelte „Corpse de Ballet“ von Hofesh Shechter mit unüberlegter Penetranz immer wieder klar macht, dass der Choreograf von Klassik halt nix hält. Aber bestimmt gibt es Leute, die das mögen, oder?

Justin Peck, 30, machte zunächst Karriere als Tänzer beim New York City Ballet (NYCB), bevor er im Juli 2014 dort Resident Choreographer wurde. Als Protegierter von Peter Martins hat er diesen dort sozusagen künstlerisch überlebt, weil Martins Anfang des Jahres 2018 – nachdem seine Tochter mit harten Drogen erwischt wurde und er selbst im Zuge der Mee-too-Debatte heftig beschuldigt wurde – als Leiter des NYCB zurücktrat.

Peck stammt aus Washington D.C., wuchs im sonnigen San Diego auf – und besuchte später die School of American Ballet in New York, die ihm sein tänzerisches Rüstzeug lieferte. 2008 stellte er seine erste Choreografie vor – bis heute sind es rund 25 Werke geworden, die zumeist in den USA, manchmal aber auch beim Pariser Opernballett entstanden.

Heatscape“ heißt übersetzt „Wärmebild“, und Peck zeichnet darin sein Bild der Gesellschaft sozusagen als Abdruck von menschlicher Temperatur.

In hübschen, harmonischen Bewegungen, die angeblich davon inspiriert sind, „wie wir träumen“ (so der Choreograf), hat es etwas von einem typischen Ballett für höhere Beamte aus dem Verwaltungsdienst. Der Fluss des Lebens kommt hier ohne Dramatik aus; die Ausgewogenheit und einschmeichelnd-aalglatte Optik erinnern aber sogar in den besten Momenten an Jerome Robbins, den choreografischen Vater des New York City Ballet.

Soli, Pas de deux, Gruppenbilder wechseln sich ab – manches korrespondiert mit dem Bühnenraum, anderes mutet an wie ein künstlerisch überformtes Kinderspiel.

Hier tanzen Gareth Haw und Svetlana Gileva vom Semperoper Ballett in Justin Pecks „Wärmebild“, wie der Titel übersetzt heißt. Mit schönen Posen! Foto: Ian Whalen

Der erste Paartanz zeigt die junge, unverdorbene Verliebtheit eines Paares, aber auch schwierige Beziehungen sind zu sehen, dargestellt in lustvoll und originell gestalteten Posen und Schrittkombinationen.

2015 wurde dieses kleine Meisterstück beim Miami City Ballet uraufgeführt. Peck war damals gerade 27 Jahre jung – es ist ja heutzutage schon fast eine große Leistung der Selbstvermarktung, in so jungen Jahren ein in den USA weit beachtetes Stück kreieren zu dürfen.

Die New York Times lobte Peck damals in den siebenten Balletthimmel und bescheinigte ihm, die „poetischste und fesselndste“ Kreation in die Welt gebracht zu haben.

Interessant ist auch die Musik. Bohuslav Martinu ist ein tschechischer Komponist, Richtung Neoklassik, der ab 1923 in Paris und später in den USA lebte. Die letzten Jahre verbrachte er in der Schweiz.

Bei aller Vielgestaltigkeit seiner Klangmuster kristallisiert sich immer wieder eine enge Verbundenheit mit der tschechischen Folklore heraus. Na, und das ist natürlich auch immer etwas Tänzerisches!

Die ursprüngliche Idee, die „Heatscape“ meiner Meinung nach auch so erfolgreich machte, ist mittlerweile allerdings verwässert und längst von dem teppichartigen Wandbehang im Hintergrund völlig verkitscht worden.

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Zunächst aber erinnern so manche Passagen in diesem Stück an die Originalchoreo der „West Side Story“ von Robbins, zumal Peck zur Uraufführung auch einen Trailer drehen ließ, der seinen Tanz auf den Straßen und Hinterhöfen von Miami zeigt.

Das subversive Graffiti, das authentisch von hoffnungslosen, aber stark gelaunten Großstadt-Jugendlichen zeugt, verlieh dem Stück auch in der Erinnerung den Touch eines konkreten gesellschaftlichen Bezuges. Es machte Sinn, zum Beispiel das jung verliebte Pärchen als Quintessenz des Besseren und als utopische Allegorie in einer anonymisierten, von Spannungen aufgeladenen Metropole zu erleben.

Jetzt hängt am Bühnenhorizont der Semperoper ohne Hinweis auf andere Möglichkeiten der Interpretation das von Peck gewünschte „Mandala“ eines ihm befreundeten, von der amerikanischen Kunsthype-Szene gepamperten jungen bildenden Künstlers. Es zeigt ein Multi-Kulti-Ornament mit einer Friedenstaube in der Mitte und diversen Mustern drumrum, die vorderasiatisch, orientalisch oder europäisch oder auch eben gar nichts davon sein könnten.

Dekoration ist alles, offensichtlich. Stilmischmasch juchhei, der Spaß an der Form obsiegt. Farblich entschied man sich hier für warmes Rotorange – wohl in der Hoffnung, dass dieses immer einen Hingucker wert sei.

Dass es verliebte junge Leute überall auf der Welt gibt, bleibt derweil zu hoffen – und auch das Corps de ballet, das hier fein zu springen und zu gleiten hat, das sich zu Paaren vermählt, aber auch als Gruppe überzeugen kann, gibt dem Stück jene Magie der Fantasie zurück, die es durch das unsinnige Bühnenbild teilweise einbüßt.

Man hat so ein bisschen den Eindruck, dass da ein Boyfriend des Choreografen mitverdienen sollte und es darum die aufwändige Wandbehängung mit dabei ist. Aber das ist natürlich nur eine Vermutung.

Einzelne Tänzer wie Denis Veginy vermögen es sicher, in diesem etwas unentschiedenen Brei aus gehobenem Streetdance und stilistisch glasklarer Neoklassik zu brillieren.

100 Grad heiß wird es beim Semperoper Ballett

Francesco Pio Ricci rockt hier ordentlich ab, in „Gods and Dogs“ von Jiri Kylián beim Semperoper Ballett. Foto: Ian Whalen

Eher hinterfotziger kommen dann die „Gods and Dogs“, die „Götter und Hunde“ von Jiří Kylián einher.

Das Stück von 2008 zeichnet satirische Figuren von Borderlinern, die sich mal für Unsterbliche, mal für die Hinterletzten auf Erden halten.

Das Wandeln auf den Grenzen zwischen Normalität und Wahnsinn war es, was Kylián hier inspiriert haben soll. Damals wurden ja moderne Psychopharmaka stark auf den internationalen Markt gedrückt – vielleicht kam die Inspiration auch daher.

Der Pharmaindustrie gefällt das Gehupfe darum bestimmt, als Kritikerin, die das Stück mal in München sah, kann ich nur bezeugen, dass Kylián intellektuell Besseres und vor allem auch Gefühlvolleres kreiert hat.

Aber immerhin ist es ein echter Kylián, und dessen Sinn für Ästhetik lässt sich zum Glück auf keinen Fall verleugnen.

Ihre Debüts hierin geben pikanterweise gleich eine ganze Reihe von Nachwuchsstars beim Semperoper Ballett, darunter Francesco Pio Ricci, Václav Lamparter, Duosi Zhu und Julian Amir Lacey.

Die Musiken von Dirk Haubrich und Ludwig van Beethoven illustrieren die emotional-seelischen Zustände, die Kylián hier auf die Guckkastenbühne bringt. Aber wie schon bei „Heatscape“ könnte man sich hier eine Wirkungssteigerung durch einen eher ungewöhnlichen, zumindest aber moderneren Ort vorstellen. Trotz oder gerade wegen der Video- und Computerprojektionen.

Für das letzte Stück dieser Triple Bill muss man ein bisschen Sitzfleisch mitbringen. Der israelische Choreograf Hofesh Shechter hat sich mit radikalen Anti-Ideen bei den Feuilletons beliebt gemacht, aber zumeist halten seine Konzepte kaum fünf Minuten lang.

100 Grad heiß wird es beim Semperoper Ballett

Der Choreograf Hofesh Shechter steht für dezidiertes Anti-Ballett. Hier mit „Corpse de Ballet“ beim Semperoper Ballett. Foto: Ian Whalen

Sein Stück „Corpse de Ballet“ trägt die Verachtung des Strebens nach Schönheit und Harmonie bereits im Titel: Es ist ein recht billiges Wortspiel mit „Corps de ballet“, wobei „Corpse“ ein englisches Wort für „Leichnam“ ist.

Die Balletttruppe kann nach Shechters Meinung also nur ohne den klassischen Tanz leben – naja, darüber gehen die Ansichten nun natürlich sehr weit auseinander.

Als Witz und Provokation mag so ein Statement ja angehen.

Aber ob das ein Abenddrittel lang trägt?

Wütend, aufbegehrend, revoluzzernd sollte es sein, was es zu sehen gibt – solchermaßen könnte es zumindest im Auge des geneigten Betrachters einen gagigen Schlusspunkt unter die beiden zuvor gesehenen Piecen setzen.

Kochende Wut und brodelnde Lust also als Tanzantrieb – statt Strebsamkeit nach anmutigen Linien und schwerelosen Sprungeinheiten.

Unter anderem Sangeun Lee, Adisan Gibson, Zarina Stahnke, Jon Vallejo Amadoz und Joseph Hernandez bemühen sich in der Premierenbesetzung, die Sache so rund und so sperrig zu bekommen, wie sie sein darf.

Wiener-Walzer-Klänge ironisieren diesen leichten dritten Gang zusätzlich.

Und noch eine Erheiterung gibt es, allerdings nur im Rahmen der Premiere: Das Semperoper Ballett erhält den Europäischen Kulturpreis TAURUS – eine jener Erfindungen, mit denen gelangweilte Einflussnehmer sich und ihre Favoriten wichtig machen.

Die Laudatio wird die hoffentlich für Ballett inspirierte Sächsische Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst, Eva-Maria Stange, halten – ob sie dabei wie von der Stange oder viel origineller klingen wird, darf man abwarten (man verzeihe mir diesen Kalauer, der explizit humoristisch gemeint ist).

Heißblütig und leidenschaftlich: „Carmen la Cubana“ reißt mit, bietet Tanz und Gesang vom Feinsten – und zeigt die Geschichte von Liebe und Tod mal ganz anders als in der Oper gewohnt. Das kann nur Musical! Und hier geht es flink zu den Tickets… Viel Vergnügen! Faksimile: Anzeige

Jedenfalls ist es schön für das tapfere Semperoper Ballett, dass es eine Auszeichnung bekommt, auch wenn es mit deutlich mehr Auftritten – am besten mit seinen tollen Handlungsballetten, die es im Repertoire hat – ganz sicher noch viel besser belohnt wäre. Ach, und sein Publikum erst!

Denn daran krankt die große, tolle Tanztruppe in Dresden am meisten: dass sie anscheinend absichtlich dazu verdammt ist, im Vergleich zu den weltberühmten Opern- und Musikaufführungen in der Semperoper lediglich sanft geduldetes Nebenwerk zu bleiben. Die Duldsamkeit der Künstler, das mitzumachen und nicht aufzubegehren, wird nun mal belohnt.

Trotzdem: Herzlichen Glückwunsch! Und Kopf hoch, die nächste Premiere mit etwas mehr Drive kommt bestimmt.
Gisela Sonnenburg

ballett journal