„Respekt ist angesagt und Liebe. Aber Tänzer bleiben eigentlich auch immer Kinder!“ So klug und so charmant zugleich war Konstanze Vernon (1939 – 2013), gebürtige Berlinerin und Gründerin vom Bayerischen Staatsballett (BSB) in München. Die Fernsehfrau Gaby Weber vom BR kennt die Truppe indes noch aus der Zeit vor 1990, also vor der Taufe zum Staatsballett, und damals handelte es sich noch ums Ballett der Bayerischen Staatsoper. Mit einer bloßen Umbenennung war es aber nicht getan. Die tolle Konstanze Vernon sorgte für bessere Probenräume, für mehr Auftritte, für leidenschaftliche Choreografen, für die Gründung der Heinz-Bosl-Stiftung undundundundund – sie bewirkte sehr viel fürs Münchner Ballett und somit einerseits für die Ballettkunst wie andererseits für München und Bayern. Das wirkt nach: Gestern wurde die filmische Doku „30 Jahre Bayerisches Staatsballett“ mit dem auf die Adresse vom Ballettprobenhaus anspielenden Zusatztitel „Pirouetten, Passionen, Platzl 7“ von Gaby Weber online gezeigt, zum Abschluss der diesjährigen Digitalen Ballettfestwoche aus München. Und tatsächlich öffnete sich eine Schatulle voller sehenswerter Erinnerungen, die anschließend im kleinen Kreis vor der Kamera fachkundig diskutiert wurden.
Der aktuelle Ballettdramaturg vom Bayerischen Staatsballett, Serge Honegger, leitete die Diskussion – und zeigte einmal mehr, dass er sich seit seinem Amtsantritt außerordentlich positiv entwickelt hat.
Kompetent und geistesgegenwärtig entlockte er seinen Gesprächspartnern – darunter die Ballettmeisterin Judith Turos und der Ex-Superstar vom BSB, Tigran Mikayelyan – interessante Details und Überlegungen.
So gestand Mikayelyan, der heute sehr erfolgreich im Bereich Fitness Coaching und Gesundheit tätig ist, erstmals, dass er bei der Münchner Premiere von „Illusionen – wie Schwanensee“ einen Riss im Wadenmuskel erlitt und ohne irgendjemanden zu informieren die Vorstellung mit einem – wie sich später herausstellte – zwei Zentimeter großen Loch in der Wade tanzte.
Den messerscharfen Schmerz, den er da ständig spürte – vor allem, wenn er auf flachen Fuß für die hohen Sprünge Schwung holte oder auch, wenn er wieder möglichst sanft zu landen hatte – wird er sein Leben lang nicht vergessen.
Eine ähnliche Verletzung quälte auch die Wiener Primaballerina Olga Esina bei einer „Schwanensee“-Premiere in Wien – im Interview mit dem Ballett-Journal erzählte sie davon. Tänzerinnen und Tänzer vollbringen mitunter solche übermenschlichen Taten, und bis heute ist wissenschaftlich nicht geklärt, wie der Cocktail aus Glückshormonen und Adrenalin, den das Ballett einzigartigerweise auszulösen vermag, zusammen mit angewandten Kenntnissen und eiserner Disziplin im Einzelnen wirkt. Fakt ist: Man kann nur staunen, bewundern, dankbar sein.
Doch zurück nach München. 2020 war ein derartiges Unglücksjahr für die Truppe – vor allem wegen der unvorbereitet eingetroffenen Corona-Pandemie – dass sie jetzt umso stärker glänzt, denn sie hat sich auf die digitalen Zeiten einzurichten gewusst.
Die erste Digitale Ballettfestwoche endete zwar gestern, aber man hofft darauf, dass weitere Schätze (oder auch die Wiederholung der schon gezeigten) künftige das weltweite Publikum erfreuen werden. Wenn wohl auch nicht so geballt in einer kurzen Zeitspanne.
Wie baut man so eine Truppe denn nun auf? – Mit unerbittlichem Drang zur Perfektion, der das eigene Handeln ebenso betrifft wie die äußeren Umstände.
Man macht seine Sache möglichst gut und verlässt sich keineswegs auf das Talent, das man mehr oder weniger dafür hat.
Konstanze Vernon konnte für sich resümieren: „Ich habe mir jede Entscheidung schwer gemacht, manchmal sogar zu schwer.“ Aber dafür musste sie auch nichts bereuen – sie stand dazu, gründlich abzuwägen und keine Kurzschlüsse zu fabrizieren.
Bis heute ist Vernon ein Vorbild, das man und frau nicht oft genug preisen können.
Dass die Schülerin von Tatjana Gsovsky nicht nur Tänzerin und Ballettdirektorin, sondern auch Choreografin und Professorin war, zeigt die Spannweite ihrer ballettösen Talente.
So haben wir sie auch in Erinnerung: viril, agil, überall sie selbst.
Ein nach ihre benannter Münchner Preis erinnert denn auch an ihre Grundtugenden.
Vor allem war sie auch hartnäckig. Das wussten ihre Mitarbeiter*innen ebenso zu schätzen wie ihr zehn Jahre älterer Ehemann Fred Hoffmann, der vom Film kam und mit dem sie zusammen die Ballettakademie München gründete. Er hielt Vernon den Rücken frei, sammelte Geld für die Heinz-Bosl-Stiftung, organisierte und repräsentierte als deren Stiftungsrat. Als er 2008 unerwartet starb, war das für die ganze Ballettszene Münchens ein herber Schlag. Besonders aber natürlich für seine Gattin, denn ihre Ehe war wirklich in der Essenz das, was eine moderne Ehe sein sollte.
Diese persönlichen Hintergründe fehlen in Gabi Webers Doku. Dafür sieht man Tänzerinnen und Tänzer, weitere Ballettdirektoren, man genießt Blicke auf und hinter die Bühne – und schnuppert beinahe Theaterluft.
Da war es nicht so schlimm, dass man vom anschließend gezeigten „Black Cake“ von Hans van Manen ein wenig enttäuscht war, denn mit den besten Stücken des Holländers (wie dem „Adagio Hammerklavier“) hält dieser als Partytanz im kleinen Schwarzen dargebotene tänzerische Schwatz eben wirklich nicht mit. Die Tänzer dann einfach nur minutenlang mit dem Sektglas in der Hand herumtändeln zu lassen, während Jules Massenets „Meditation“ dazu röhrt (immerhin die musikalische Grundlage für die berühmten „Thais“-Pas de deux von Roland Petit und Frederick Ashton) – das mag 1989 ein Gag gewesen sein, heute wirkt es herablassend und degoutant.
Die Zeiten ändern sich, mit ihr die Blicke auf Ballette. Nur wenigen Choreografien ist das vergönnt, was man Unvergänglichkeit nennt.
John Neumeiers „Illusionen – wie Schwanensee“ zählt zweifelsohne dazu, und so erinnerten sich sowohl Lucia Lacarra als auch Tigran Mikayelyan speziell an dieses Stück in München.
Ein anderes Detail – aus dem Podiumsgespräch des Abends – zeigte hingegen krass in die Zukunft des Tanzes. Serge Honegger scheute sich nämlich nicht, das Thema „Schmerz“ – und dabei war körperlicher Schmerz gemeint – anzusprechen.
Wenn Tigran Mikayelyan den Tänzerinnen und Tänzern mit seiner fachkundigen Hilfe rund 20 Prozent an Schmerz und Verletzungen ersparen kann, so ist das bereits ein großer Erfolg, so sinngemäß Mikayelyan selbst zu dem sensiblen Punkt.
Vielleicht sollte man hier mal anknüpfen und demnächst eine Debatte über die heutigen Ballettausbildungsmöglichkeiten eröffnen: Geht der Bühnentanz in die richtige Richtung oder sollte man sich über Korrekturen und Änderungen der Gesamtstruktur schon der Ausbildung Gedanken machen?
Wir sind gespannt, wie es weiter geht. Herzlichen Glückwunsch jedenfalls ans Bayerische Staatsballett – möge es auch die kommenden 31 Jahre mit allen Aufs und Abs bestens überstehen.
Ach so, ja – warum eigentlich sind Tänzer nochmal scheinbar wie Kinder? – Weil man fürs Tanzen im Ballett unbedingt viel Leichtigkeit im Herzen braucht! Darauf einen Walzer vom Feinsten…
Gisela Sonnenburg
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