Manchmal ist das Ballett eine Leidenschaft, die Leiden schafft. Bis jetzt hatte das Ballett Dortmund einen fabelhaften, hoch poetischen und zugleich modern-sinnvoll konzeptionierten „Schwanensee“ im Repertoire, den man immer und immer wieder ansehen konnte, ohne zu ermüden. Wie es sich für einen guten „Schwanensee“ ja auch gehört. Schließlich ist das wandelbare Stück in der Tanzkultur das, was „Lohengrin“ in der Oper ist. Der Schwan steht hier für Unschuld und Opferschaft, für Erlösung und Hilfe, auch für Liebe über den Tod hinaus. Die hinreißende Musik von Peter I. Tschaikowsky tut ein übriges. Xin Peng Wang, Choreograf und Ballettchef in Dortmund, hatte nun „Schwanensee“ als Gegenwartsdrama mit Spiegelmansarde in den weißen Akten in der Spielzeit 2011/12 premieren lassen, und das Konzept stammte von seinem Dramaturgen Christian Baier. Die Zusammenarbeit zwischen Wang und Baier war äußerst fruchtbar, nicht nur in diesem Fall. Seit 2008 entstanden ihre Meisterwerke wie „Krieg und Frieden“, „Der Traum der roten Kammer“ und der „Zauberberg“. Und jetzt? Letzte Spielzeit hat Baier das Ballett Dortmund verlassen, und anscheinend hat man sich um eine adäquate Nachfolge noch nicht einmal bemüht. Und so kommt ein neues Konzept vom „Schwanensee“ auf das Publikum zu, das diesen Namen eigentlich nicht verdient. Die gut eineinhalb Stunden lange Kostprobe beim Livestream der „Matinee“ heute vormittag aus dem Ballettzentrum vermittelt zumindest eindeutig diesen Eindruck.
Der neue Siegfried soll gleich mehrere Traumata haben, erfahren wir im Vorspann. Oha! Welche denn? Das erfahren wir leider nicht. Ob das Geburtstrauma nicht verkraftet wurde, oder ob nach Abschluss der Pubertät eine Psychose entstanden ist, ob sexueller Missbrauch, ob ein Minderwertigkeitskomplex oder schlicht ein übersteigertes Ego der Grund für die Erkrankung ist – egal. Hier ist es egal, so scheint es. Auch ob Paranoia oder Depression, manische Erkrankung oder langsame Auflösung der inneren Personalität eine Rolle spielen – offenbar ist das Wurscht.
Die Produktionsdramaturgin Carmen Kovacs, deren Mutter Tänzerin war, bringt es so auf den Punkt: Siegfried „hat eine Disposition“, er habe „Visionen und Wahnvorstellungen“, sei also „nicht ganz gesund“.
Das ist wohl etwas untertrieben. Wer wirklich Wahnvorstellungen hat und menschliche Schwäne sieht, wo keine sind, hat ein sehr großes Problem und gehört in ärztliche Behandlung. Zumal das Stück im Hier und Heute spielen soll. Eine „Disposition“ oder auch „Indisposition“ bezeichnet lediglich die Bereitschaft, krankhaft zu reagieren. Für eine ausgewachsene Erkrankung kann man die Vokabel nicht mehr verwenden.
Doch das wird nicht weiter hinterfragt. Die klassische Choreografie von Lew Iwanow in den weißen Akten soll bleiben, ungerührt von der Tatsache, dass sie Schönheit und Harmonie und keineswegs Wahnsinn zum Ausdruck bringt.
Aber ohnehin geht es hier wohl eher darum, eine Art Zirkuswelt auf die Bühne zu bringen, in der die Tänzer wie im Valiumrausch rein akrobatisch-technische Leistungen stilvoll und perfekt vollbringen, wo künstlerischer Ausdruck und echte Emotion aber eher rar sind.
Dafür spricht auch die Wahl von Iana Salenko (Staatsballett Berlin) und Dinu Tamazlacaru (ehemals Staatsballett Berlin) als Gaststars für die Premiere am 21. Oktober 23. Beide waren mal sehr gute Tänzer, aber die Salenko füllte schon bei der Rückkehr aus einer Schwangerschaft 2019, also vor der Corona-Pandemie, in Berlin kein Opernhaus mehr, und Tamazlacaru ist alles, aber kein Prinz mehr. Aus dem Alter ist er einfach raus, zumal er kein Nurejew ist, sondern nur ein fleißiger, strebsamer Techniker. Seine sensationell hohen Sprünge werden aber schon seit Jahren vermisst.
Und so verpatzten er und Iana Salenko denn auch den Höhepunkt der Matinee, indem sie die Schlusspose eines Pas de deux arg verwackelten. Salenkos Spielbein muss da zur Attitude erhoben gehalten werden – aber sie zappelte damit hin und her, als wäre es der Schwanz eines Tierchens.
Wäre ihr Vortrag ansonsten rollengemäß gewesen, man würde das verzeihen. Aber sie und Tamazlacaru schnurrten ihre Soli und Paartänze zu routiniert herunter, um noch glaubhaft etwas darzustellen.
Kleiner Tipp: Auf YouTube und auf DVDs / BluRays tanzt Svetlana Zakharova etliche Male den „Schwanensee“, mal aus dem Bolschoi, mal aus der Mailänder Scala mit Roberto Bolle – und da sieht man eine echte Weltballerina tanzen, im Unterschied zu Iana Salenko, die seit Jahren nur noch ihren Namen vermarktet und wohl kaum noch wirklich an sich arbeitet.
Da Körper und Seele die Instrumente von Tänzern sind, wirkt ihre Kunst unstimmig, wenn diese Instrumente nicht in gutem Zustand gehalten werden.
Dabei gibt es auch im Westen hervorragende Weltkünstler. Marianela Nunez vom Royal Ballet in London hat zum Beispiel eine fantastische Interpretation der Doppelrolle Odette / Odile aus dem „Schwanensee“ anzubieten – und sieht man Salenko dagegen, muss man weinen, aber nicht vor Glück.
Xin Peng Wang aber ließ sich offenbar auf das Werbenarrativ „große Namen füllen den Saal“ ein, um seinen dritten „Schwanensee“ irgendwie zu pushen. Warum er ihn ungewöhnlicherweise überhaupt zum dritten Mal inszeniert, erklärt er in der „Matinee“ ganz schlicht: „Um ihn besser zu machen!“
Ja, aber dann hätte Wang doch wissen müssen, dass gerade er sehr abhängig ist von einer guten Dramaturgie, denn das war er immer, sein ganzes Künstlerleben lang.
Was soll dann dieses bodenlos oberflächliche Konzept eines psychisch kranken Kunstsammlers? Siegfried soll in der neuen Version im realen Leben nämlich Kunst aus dem 19. Jahrhundert sammeln, dann die Schwäne aus krankhafter Nostalgie halluzinieren und sich nicht nur in Odette verlieben, sondern auch noch „in seine eigene Erleichterung“, wie es Carmen Kovacz formuliert.
Siegfried ist also ein haltloser Narzisst? Das sagt Kovacz nicht. Sie scheint unentschieden, wie genau die psychische Krankheit hier aussehen soll. Nun ja, wenn es gleich mehrere Traumata sind, die eine Rolle spielen…
Vielleicht sollte Kovacz doch mal ein paar Seiten von Sigmund Freud oder Margarete Mitscherlich lesen? Oder wenigstens Dostojewski?
Was man auf der „Matinee“ tänzerisch zu sehen bekam, war allerdings auch nur Enttäuschung pur. Salenko und Tamazlacaru nudelten ihre bekannten Tricks à la „Wir sind so schön, wir finden uns ja so schön“ herunter, und das Ensemble präsentierte einen keck-modernen Walzer von Wang, den es aber auch schon in der letzten Version vom „Schwanensee“ in Dortmund gibt.
Die berühmten vier kleinen Schwäne waren auch nur den Schritten und der Synchronizität nach, was sie sein sollten. Denn sie stellen den Nachwuchs in der Schwanengemeinde dar, und der soll sich der Choreografie nach besonders eifrig und bemüht zeigen. Darum rollen auch die Köpfe im Takt von einer Seite nach unten zur anderen.
Die Dortmunder Tänzerinnen aber konzentrierten sich vollauf auf die formale Gleichzeitigkeit, die zwar schön anzusehen war, aber mit dem Ausdruck von Hochmut angeboten wurde. Hochmütiger Nachwuchs? Im „Schwanensee“ sehr unwahrscheinlich.
Die nächste Enttäuschung bot der Tänzer Filip Kvacák als Siegfried. Er, der stets eine Augenweide an Ausdruck und Passion in Dortmund bot – auch in Probenkleidung – hat ein botoxstarres Gesicht bekommen, mit dem er mal gerade knapp lächeln, aber keinesfalls nuancierte Ausdrucksweisen zeigen kann. Wie schade! Was ist da nur los?
Und damit nicht genug. Der in Dortmund ebenfalls als Wang-Mitarbeiter bewährte Bühnenbildner Frank Fellmann, der für Wangs früheren „Schwanensee“ eine spektakuläre Spiegelmansarde schuf, hat sich dieses Mal in den Anblick eines Seerosenblattes von unten als Leitmotiv verrannt.
Überall wird es im Stück dieses stilisierte moderne Seerosenblatt geben, das auf den ersten Blick ausschaut, als sei es eine Qualle, die wiederum Ähnlichkeit mit einem Atompilz hat.
Dieses Motiv geistert nun also als Zeichnung durch die Aufführung. Auf großen Papierseiten, als bewegte Projektion, als Film. Viel Spaß damit!
Mit „Schwanensee“ hat es allerdings nicht viel zu tun, es sei denn, man nimmt an, Siegfried ertrinkt am Ende im See, weil er beim Baden mit den Beinen in die Fänge der Stängel der Pflanzen gerät. Aber auch dann muss das Blattwerk nicht als Leitmotiv auf der Bühne vorhanden sein. Wirklich nicht.
Symbole ohne Inhalt sind tote Kunst.
Eigentlich hatte man immer den Eindruck, Fellman würde das wissen. Aber anscheinend ist es doch nicht so.
Immerhin wird man wohl etwas aus diesem „Schwanensee“ lernen können. Bei der Premiere wird natürlich begeistert gejohlt werden, weil das Publikum von heute alles toll findet, wofür es Eintritt gezahlt hat. Aber im Laufe der Zeit werden sich die Reihen lichten, und kaum jemand wird große Lust haben, sich diese Produktion zwei oder drei Mal anzusehen, vermute ich.
Aber wenn der Ballettmeister und Charakter-Tänzer Cyril Pierre dann noch auf der „Matinee“ behauptet, ein Tänzer müsse, um seinen Beruf gut auszuüben, sehr egoistisch sein, dann muss man doch hellauf lachen. Meint er das ernst?
Denn das kann jede und jeder von sich sagen, gleich, in welchem Beruf sie oder er tätig ist. Egoismus ist wahrlich kein Privileg von Tanzkünstlern! Und es gibt, das wird Cyril Pierre wohl überraschen, tatsächlich auch Balletttänzer, die nicht vornehmlich egoistisch sind. Merkwürdig, dass ihm das noch nicht auffiel. Er ist lange genug im Geschäft, tanzte er doch noch unter dem Choreografen Roland Petit.
Apropos andere Choreografen als Wang: Warum hat man nicht David Dawson, der gerade eine überragende Schaffensphase hat, gebeten, einen neuen „Schwanensee“ zu machen?
Und warum muss Xin Peng Wang ausgerechnet in seinem Jubiläumsjahr – 20 Jahre Dortmund – und somit kurz vor seinem Ausscheiden auf eigenen Wunsch aus seinem Posten so ein riskantes Desaster anrichten?
Will er der erste Choreograf sein, der drei verschiedene Versionen vom „Schwanensee“ gebastelt hat? Ein seltsamer Ehrgeiz. Womöglich macht er hier den Fehler seines Lebens und verpatzt sich den guten Ruf, den er sich von Dortmund aus erarbeitet hat.
Nachgerade krampfhaft sollte wohl zum Abschied noch dieser Knüller fabriziert werden, obwohl die künstlerische Potenz von Wang seit Jahren sichtlich schwindet. Letzteres ist an sich legitim, denn nicht alle Künstler können noch im Alter brillant kreieren. Wang hat so viele geniale Ballette hervorgebracht – da darf er auch mal ein paar Jahre pausieren.
Statt dessen aber wird jetzt mit sehr viel Aufwand und wohl auch Knete ein „Schwanensee“ hingepfuscht, der weder vom Konzept noch von der Ausführung her überzeugen kann. Ich zumindest halte das für unmöglich.
Und so kann ich nicht wirklich raten, sich das fertige Werk anzusehen. Besonders Neugierige werden es aber trotzdem tun, und das ist ja auch gut so. Außerdem kann man es mit meinem Bericht über den früheren „Schwanensee“ in Dortmund vergleichen: https://ballett-journal.de/ballett-dortmund-schwanensee-wang/
Wer aber live ein wirklich enorm gelungenes Ballett über einen interessanten psychisch Kranken sehen will, dem sei das Stück „Nijinsky“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett empfohlen, es steht ab dem 15. Oktober 23 wieder auf dem Spielplan. Und es ist erschütternd, nicht berieselnd.
Gisela Sonnenburg
P.S. Wie prognostiziert, wurde die Premiere in Dortmund ein – teilweise womöglich inszenierter – Erfolg. Aber waren da noch alle bei Trost? Wie das Foto unten zeigt, tanzen die Schwäne hier auf dem Grund des Sees. Als wären sie Fische oder Krebse. Ob da jemand märchenhafte Schwäne mit märchenhaften Meerjungfrauen verwechselte? Intelligenzbegabte bleiben wohl besser fern.
www.theaterdo.de (Die Matinee steht dort bis zum 18.10.23 online.)