Und ewig lockt der Mann Mit der „Endstation Sehnsucht“ eröffnet das Hamburg Ballett die letzte Spielzeit mit John Neumeier als Ballettintendant – und begeistert alle Generationen und alle Geschlechter

Sehnsucht ist berühmt für Modernität.

Die „Endstation Sehnsucht“, nach einer Straßenbahnendhaltestelle benannt, ist gar nicht so romantisch, wie man dem Titel nach denken könnte. Weder auf John Neumeiers Foto von seinen Recherchen 1983 in New Orleans (siehe Programmheft vom Hamburg Ballett 2009) noch im Drama oder im Ballett. Faksimlie: Gisela Sonnenburg

Er hat alle Bücher von und über den US-amerikanischen Dramatiker Tennessee Williams – oder zumindest fast alle. Seit er ein Teenager war, hat ihn dieser Dichter schwer beeindruckt, ihm Gesellschaftsanalysen und Psychogramme angeliefert. John Neumeier kann sich mit Fug und Recht als Experte für den Südstaaten-Poeten Williams bezeichnen, dessen zahlreiche Gedichte es übrigens auch wert sind, studiert zu werden. Außer der „Glasmenagerie“ aus dem Jahr 2019 hat der Hamburger Ballettchef und Choreograf Neumeier – und zwar schon 1983 – ein fantastisches Tennessee-Williams-Ballett kreiert, eigentlich ein Ballett-Theater, das so hoch modern und top intensiv ist, so surreal-schräg und geisterhaft-entrückt, dass man gestern in der Hamburgischen Staatsoper glaubte, einer Uraufführung und nicht einer Wiederaufnahme beizuwohnen. Die Rede ist von „Endstation Sehnsucht“, einem Stück, das davon handelt, was Menschen einander antun, vor allem, was sie einer schönen, sensiblen Frau antun, wenn diese sich nicht wehren kann.

1947 wurde das nach einer Tram-Endhaltestelle benannte Psycho-Drama uraufgeführt, 1948 erhielt Tennessee Williams den damals bedeutenden Pulitzer-Preis dafür. Das Ballett-Theater-Stück von Neumeier entstand im Sommer 1983: und zwar sogleich, nachdem John Neumeier nach jahrelangen Bemühungen die Lizenz dafür aus den USA erhielt. Das war erst nach dem überraschenden Tod des Dichters Williams der Fall, denn dieser selbst hatte einer eher unbekannten Choreografin Exklusivrechte an der Vertanzung seiner „Endstation“ eingeräumt, und er hatte Neumeiers Gesuche stets abgelehnt. Ob da eine künstlerische Eifersucht des einen Tycoons auf den anderen eine Rolle spielte, ist unklar. Jedenfalls entstand dank Neumeiers Faszination eines der bedeutendsten Ballette nach einem amerikanischen Theaterstück überhaupt, und im Reigen der Neumeier-Werke ist es das große melancholische, düstere Werk, tragischer noch als seine „Hamlet“-Ballette oder sein Jahrtausendwerk „Nijinsky“.

"Endstation Sehnsucht" von John Neumeier

Blanche (Anna Laudere) kämpft in „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier trotz seelischer Wunden um ihre Würde – aber sie verliert. Foto vom Hamburg Ballett: Silvano Ballone

Trotz der dramatischen Düsternis sind die Bühnenszenen aber oft von Helligkeit und Licht geprägt, von jener schwülen Hitze und flirrenden Stimmung, die für die US-amerikanischen Südstaaten typisch ist. So auch die Schlüsselszene zu Beginn, in der wir Blanche zum ersten Mal begegnen.

Doch bevor der Vorhang sich hebt, sehen wir einen umgeworfenen Stuhl auf nachtblauem Grund; rechts befindet sich eine Lamellentür mit Antik Finish, wie sie zu einer alten Villa in Louisiana oder Tennessee gehören könnte. Verheißungsvoll dringt Licht durch ihre Ritzen.

Dann geht der Vorhang hoch, und die Szene und die Atmosphäre ändern sich.

Das Anfangsbild, das auch identisch mit dem Schlussbild sein wird, zeigt Blanche (hervorragend und mit ähnlicher Brillanz wie Vivien Leigh an der Seite von Marlon Brando im Film „Endstation Sehnsucht“: Anna Laudere) in heller, edler Kleidung mit Sommerhut und altem braunem Koffer auf einem Klinikbett sitzend. Über ihr kreisen zwei Ventilatoren. Hinter ihr schließt sich ein cremefarbener Vorhang, der die Welt von ihr fern hält. Der Rest ist Dunkelheit. Ob sie begreift, was auf sie zukommt?

"Endstation Sehnsucht" von John Neumeier

Anna Laudere als Blanche, Jacopo Bellussi hier im Foto als Arzt in „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Laut Libretto befindet sie sich in einer „Irrenanstalt“; keineswegs wird beschönigend „Klinik“ oder gar „Sanatorium“ formuliert. Die Realität ist brutal und tragisch, und Blanche hat ein Schicksal, das es ihr nicht mehr erlaubt, selbständig zu agieren. Es ist wohl kein Zufall, dass Tennessee Williams eine Schwester namens Laura hatte, die zum Objekt psychiatrischer Experimente wurde, so einer Lobotomie, einer nervenkappenden Gehirnoperation, die einem Menschen jegliche Persönlichkeit raubt.

Ob Blanche ähnlich behandelt werden wird, bleibt offen. Aber die Traumatisierungen im Erwachsenenalter, die hinter ihr liegen, erlebt sie immer und immer wieder, und Choreograf, Lichtdesigner, Bühnen- und Kostümbildner und Regisseur John Neumeier lässt uns – ohne uns damit auch nur im mindesten zu langweilen – an ihren stilvoll-ästhetisch, dennoch ergreifend inszenierten Flashbacks teilhaben.

Blanche sitzt neben ihrem Koffer und schwitzt. Mit einem vornehmen Spitzentaschentuch tupft sie sich das Dekolleté ab. Sie scheint ganz absichtlich in einen Tagtraum zu flüchten.

Erinnerungen an den Hochzeitstanz: Anna Laudere als Blanche DuBois mit dem eleganten Allan Gray (Jacopo Bellussi) als ihrem unseligen Bräutigam. Foto vom Hamburg Ballett aus „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier: Silvano Ballone

Zur sanften, fast impressionistischen, dennoch sehr ernsten Klaviermusik von Sergej Prokofjew („Visions fugitives“, op. 22), von Ondrej Rudcenko zart live gespielt, ändert sich das Licht, es wird lindgrün, ganz so, als befände sich Blanche in einem Garten. Und da ist er auch schon: der erste Mann. Dann ein zweiter, der unterm Bett hervor kommt. Und ein dritter Verehrer taucht auf, alle drei umgarnen und umwerben Blanche.

Zweifelsohne findet all dies nur in ihrer Fantasie statt. Ein Pas de quatre von höchster Qualität entspinnt sich. Die schönen, starken, gestreckten Beine von Anna Laudere stehen für ihre Erotik, für ihre Anbindung an die Welt.

Im Drama von Tennessee Williams hat Blanche ihren Job als Lehrerin verloren, weil sie ein Verhältnis mit einem Schüler unterhielt. Bei Neumeier gibt es diese Vorgeschichte nicht. Dafür tauchen immer wieder diese drei Liebhaber auf, und ob sie mal Realität waren oder ob sie reine Wunschfiguren von Blanche sind, ist nicht sicher zu entscheiden.

Einer der Lover kann singen. Kiran West, der eigentlich schon seit Jahren der Fotograf vom Hamburg Ballett ist, schlüpft erneut, wie schon 2011, in diese Rolle, die ihm so liegt. „Blanche! Blanche Baby!“ nennt er sie, und manchmal summt er einen Schmusesong, leise, aber penetrant genug, um Blanche jeweils aus der Fassung zu bringen.

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In der ersten Szene tanzt er mit den beiden Mitstreitern mit Blanche, als seien sie alle frei genug, der Liebe und dem Eros zu frönen, ganz wie es ihnen beliebt.

Die Lover haben übrigens Namen bzw. Bezeichnungen: „Shaw“ (wie der Dichter Bernard Shaw), getanzt von Nicolas Gläsmann. „Ein Soldat“, getanzt und gesungen von Kiran West, und „Kiefaber“, getanzt von Artem Prokopchuk.

Wieder bei sich und allein senkt Blanche den Blick – und sieht ihren alten Koffer. Sie öffnet ihn, sortiert Kleider und ein Bündel Fotos, das sie liebkost.

Eine Sirene erschallt. Sie erschreckt sich, beginnt zu zittern.

Stille. Blanche erlaubt sich, in ihren Gedanken in die Vergangenheit zu reisen, in ihr Elternhaus, ein nobles Anwesen, genannt „Belle Reve“ („Schöner Traum“ auf Französisch). Es ist der Tag ihrer Hochzeit.

Glocken läuten. Trompeten tröten. Es erschallt die Erste Sinfonie von Alfred Schnittke in der Aufzeichnung ihrer Uraufführung von 1974 aus dem sowjetischen Gorki.

Es ist anstrengende Musik, sehr modern, oft atonal, dennoch rhythmisch wogend, faszinierend, auch fesselnd, und in dieser Einspielung noch schwerere Kost als ohnehin. Aber John Neumeier wusste genau, was er tat, als er diese Klänge für das getanzte Psychogramm der Blanche DuBois auswählte.

Die Atmosphäre ist surreal. Paare tanzen anmutig herbei, festlich und hell gekleidet, Blanche ist die Gastgeberin und widmet sich allen mit Charme und Freude. Aber irgendwie ist alles wie in Watte gepackt, wie in einem Traum, in dem es hakt.

Blanche gibt sich Mühe, weiterhin freundlich zu sein, und sie tanzt mit den weiß gekleideten jungen Herren – ein letztes Mal vielleicht, denn es sind wohl auch Verehrer von ihr, zumindest in ihrer Vorstellung.

Doch mit ihrem Bräutigam stimmt etwas nicht. Er weicht ihr aus. Immer wieder.

Sie tanzen einen Pas de deux, doch Allan Gray, ihr Bräutigam, vorzüglich von Jacopo Bellussi getanzt und gespielt, kann nicht wirklich „Ja“ zu ihr sagen. Er hebt sie hoch, setzt sie ab und verlässt sie. Er tanzt einen weiten Bogen um sie herum, grüßt sie von weitem. Er hebt sie wieder und lässt sie wieder allein.

Am linken Bühnenrand, vor der Lamellentür dort, sitzt ein Jüngling. Ein schöner junger Mann, verkörpert von Lennard Giesenberg. Er wirft Allan heiße Blicke zu. Hungrige Blicke. Allan erwidert diese Blicke. Auch, wenn er mit seiner Braut tanzt.

"Endstation Sehnsucht" von John Neumeier

Jacopo Bellussi als Allan Gray und Lennard Giesenberg als sein Geliebter – zu sehen in „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Silvano Ballone

Dann finden die beiden Männer zueinander. Der Junge in Weiß umschlingt den schwarz gekleideten Bräutigam von hinten, es wird intim. Sie tanzen auch mal synchron, und zwar in vollständiger Harmonie. Sie verstehen sich wirklich gut. Aber eine Hochzeit, deren Bräutigam der eine Flirtende hier ist, kann nicht die richtige Gelegenheit für so eine Verführung sein.

Schließlich überrascht Blanche, nachdem sie die Gäste verabschiedet hat, ihren Ehemann beim Knutschen mit dem Jungen in Weiß. Letzterer flieht sogleich vor ihrem Zorn.

Blanche macht Allan eine Szene. Großartig. Sie breitet die Arme aus, weit und hoch, und sie stellt den starken Ballerinenfuß herausfordernd ins Tendu nach vorn, das Spielbein dabei gebeugt. Sie ist ein Adler, dessen Revier gestört wurde und der Rechenschaft fordert.

Ihr Mann hat dem nicht viel entgegen zu setzen. Zaghaft versucht er noch die Vergib-mir-Nummer. Dazu ist jetzt aber keine Muße. Blanche ist in Rage. Sie fühlt sich so betrogen. Ein Dialog ist nicht möglich. Plötzlich erschallt ein Schuss. Allan liegt am Boden.

Blanche stürzt sich auf ihn. Zerrt ihn hoch. Er fällt wieder hin. Sie kniet auf ihm, nimmt ihn in ihre Arme. Küsst ihn. Sie zieht ihn zu sich, beugt sich nach hinten, presst ihn fest an sich. Es hilft nichts. Wieder und wieder ertönt der Schuss, wieder und wieder stirbt der Mann, den sie liebt, auf den sie alle Hoffnungen setzte. Sein Körper bleibt schlaff bei ihr.

Plötzlich ist die gruselige Verwandtschaft da. In Trauerkleidung sitzen Opa und Oma, eine Tante und weitere Familienmitglieder im Halbkreis. Auch sie werden von Schüssen getroffen. Der Opa hat wohl einen Herzinfarkt. Blanche versucht, ihn zu retten. Umsonst. Er kippt vom Stuhl, der Stuhl fällt um.

Eine schwarz verschleierte Dame wippt nach vorne, immer stärker. Blanche kann sie gerade noch halten. Irgendwann kippt auch diese Frau tot vom Stuhl.

Eine weitere stirbt. Nur ein alter Mann, der General, anscheinend blind, überlebt, er steht auf, streichelt Blanches Kopf, tapert weiter, in die Luft tastend, durch sein Dunkel von der Bühne.

"Endstation Sehnsucht" von John Neumeier

Die schaurige Verwandtschaft trauert um sich selbst – und stirbt nach und nach… so zu sehen in „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier. Foto: Silvano Ballone

Diese gespenstische Verwandtschaft verweist auf ein Kindheitstrauma von Blanche. Die Familie ist hier kein Hort der Sicherheit, sondern ein Ort des Grauens.

Vielleicht ist der streichelnde Onkel ein Täter. Vielleicht ging es um etwas Anderes. Man weiß es nicht genau, aber man sieht, dass Blanche hier nicht sie selbst sein kann.

Ihre Schwester Stella, die auf der Hochzeit den Blumenstrauß von Blanche errang und dabei sogar richtig gern hinfiel, die vorher schon mit einem Schleier spielte, als sei sie die Braut, weil sie ganz versessen aufs Heiraten ist, ist vielleicht auch aus der Kindheit geschädigt. Sie heiratet nämlich den übersexualisierten Stanley, ohne zu bemerken, dass er Frauen nur benutzt – und zu ihnen nach New Orleans flüchtet Blanche, als sie keinen anderen Ausweg mehr sieht.

Charlotte Larzelere tanzt die Stanley hörige junge Gattin Stella und dreht voll auf: Sie ist ein heißes Girl, jung und lüstern, das allerdings Sex und Lebenssinn verwechselt. Larzelere macht ihren quirligen Job mit reichlich Spitzenschuhtanz aber so gut, dass sie sich bei diesem Rollendebüt als Solistin fest ins Gedächtnis brennt. Auf Blanches Hochzeit war sie noch weich und voller Erwartungen, gut erzogen und vielleicht sogar ein bisschen verklemmt. Aber mit Stanley ist sie ein lustvolles, leicht erregbares Wesen, das sich vom Gatten anfeuern und in Stimmung bringen lässt.

"Endstation Sehnsucht" von John Neumeier

Matias Oberlin und Charlotte Larzelere als Stanley und Stella, ein sexhungriges junges Ehepaar, in „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Es ist sicher keine gute Idee, als drittes Glied in der Kette zu diesem Paar stoßen zu wollen. Aber Blanche kommt auch nicht ganz freiwillig, sondern aus dem puren Elend heraus. Ihr Leben wird fortan von sozialen Zwängen diktiert – etwas, das sie zuvor nicht kannte und auch nie kennen lernen wollte.

Unsicher-zaghaft geht Blanche in kleinen Schritten eine Schräge vom Bühnenhorizont her  hinab, ihren Koffer in der einen Hand, in der anderen einen Zettel mit der Adresse, die sie sucht.

Stella und Stanley – Charlotte Larzelere und Matias Oberlin sind wirklich ein umwerfend erotisch verschlungenes Team – liegen mal wieder im Bett. Oh, Besuch kommt, Blanche ist schon da!

Sie ist ein Besuch, der kommt, um zu bleiben. Stella freut sich, die Schwester zu sehen, sie umarmen sich, sehen einander an. Doch schon steht in Blanches Fantasie die grauslige trauernde Verwandtschaft um die beiden herum. Wie Boten aus einer dunklen Welt. Wie Wärter, die Blanche das Leben vorenthalten. Das ist kein gutes Omen.

"Endstation Sehnsucht" von John Neumeier

Die gruselige Verwandtschaft stört geisterhaft das Treffen der beiden Schwestern Stella (Charlotte Larzelere) und Blanche (Anna Laudere) – in Blanches Fantasie. Foto aus „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett: Kiran West

Die Verwandten als lebende Leichen, als rachlüstern folgende Geister, sie sind stumme Schlüsselfiguren für Blanches Seele. Und erinnern an die monströsen schwarzen Figuren in Rudolf Nurejews Version vom „Nussknacker“, die die kindhafte Heldin darin nachts bedrängen.

Nur mit ihrer Sinnlichkeit, ihrer Vitalität, ihrer noch jugendlichen Sexualität kann Blanche den schaurigen Gestalten etwas entgegen setzen. Aber wie lange noch? Wie lange wird ihre Kraft noch ausreichen, um sich gegen die finsteren Attacken ihrer eigenen Erlebniswelt zu wehren?

Manchmal hält Blanche sich die Ohren zu, hört Stimmen, die sie nicht hören will.

Stella bemerkt nichts. Weder die Qualen ihrer Schwester noch, dass Stanley auf diese scharf wird.

Im Drama von Tennessee Williams ist es so, dass Blanche den polnischstämmigen Stanley wegen seiner Primitivität verachtet und versucht, die Ehe ihrer Schwester zu stören, indem sie Stella von Stanley entfremden will. Stanley bemerkt das und rächt sich an Blanche: Er zerstört sie systematisch. Zuerst findet er ihren Fehltritt als Lehrerin heraus und vergrault damit den neuen Verehrer, den Blanche in New Orleans hat. Dann vergewaltigt er sie auch noch, als Krönung seines Sieges über die vornehme Femme fatale.

Im Ballett-Theater von John Neumeier ist es anders. Hier war Blanche keine Täterin, sondern wurde schon mehrfach in ihrem Leben Opfer. Das Trauma, den Ehemann an einen Mann zu verlieren, und das bereits auf der Hochzeit, hat ihr dann den Boden unter den Füßen weggezogen.

"Endstation Sehnsucht" von John Neumeier

Anna Laudere hält sich als Blanche in „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier die Ohren zu, wegen des Lärms in ihr selbst. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Es mag sein, dass Tennessee Williams mit dieser desaströsen Hochzeitsszene nicht einverstanden gewesen wäre. Obwohl oder weil er selbst auch schwul war. Aber von Ballett verstand er ja auch wirklich nicht viel. Für Neumeier passt das geänderte Libretto sowohl zur Seelenlandschaft von Blanche als auch zu der verlogenen Gesellschaft, an der sie innerlich stirbt.

Für die Homosexuellen unter den Ballettfans in den 80er- und 90er-Jahren war die „Endstation Sehnsucht“, die im übrigen mit Marcia Haydée und Richard Cragun beim Stuttgarter Ballett uraufgeführt wurde, ein Kultstück.

Als es noch keinen gesetzlichen Schutz vor Diskriminierung gab, fanden sich viele Schwule privat in heterosexuellen Verbindungen wieder, mal nur aus Gründen des Anscheins, manchmal aber auch, um der Einsamkeit zu entgehen. Ihr Liebesleben aber drängte sie zu Männern – und Katastrophenszenen wie die von Blanches Hochzeit waren keine große Seltenheit, wenn sie auch oft erst nach vielen Jahren der Verheiratung offenbar wurden.

Heute erschüttert das Stück alle Generationen und Geschlechter, denn das Schicksal von Blanche ist zu anrührend und tragisch, um es zu ignorieren.

Für Neumeiers Blanche ist der Verlust des erwählten geliebten Mannes unumkehrbar und ein unwiderruflicher Verlust der Chance auf ein Lebensglück. Zugleich ist sie verunsichert über ihre eigene Wahl, zweifelt an ihrer Befähigung, sich den richtigen Partner zu wählen. Und hat sie überhaupt die freie Wahl gehabt, hat sie sie nach der Katastrophe noch?

Immer wieder erlebt sie dieses Trauma, sie tanzt auch immer wieder in Gedanken auf ihrer zuerst schönen, dann grauenvollen Hochzeit. Gerade weil sie ihr Unglück so schlecht verarbeiten kann, versucht sie dabei, sich in Träumen von einem wunderbaren Hochzeitsfest zu verlieren. Der Traum soll ihr Ersatz sein für das, was sie nicht bekommen hat.

Doch spätestens die gruselige, trauernde Verwandtschaft oder auch der in Weiß gekleidete homosexuelle Junge, manchmal auch Blanches sich abwendender Ehemann tauchen aus  ihrem Unbewussten auf und reißen sie aus ihrer Wunschvorstellung – die Welt der Blanche wird nicht mehr heil. Nicht mal in ihren Träumen.

"Endstation Sehnsucht" von John Neumeier

Ein Flirt unter Ungleichen: Jacopo Bellussi als Zeitungsjunge mit Blanche (Anna Laudere) in „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Silvano Ballone

Als ein Zeitungsjunge kommt und Ähnlichkeit mit Allan hat, verliebt sich Blanche sogleich in ihn, will ihn verführen. Anfänglich schmeichelt das der Eitelkeit des Jungen, und er lässt sich auf einen Pas de deux ein. Aber dann wird ihm die Nummer zu skurril, und er ergreift die Flucht.

Blanche ist gerade wegen ihrer starken Erinnerungen unendlich einsam.

Neumeier illustriert all das mit Tanz, in seiner ästhetischen choreografischen Sprache, und es ist großartig zu sehen, wie es funktioniert, die Tragik und Geschundenheit einer Seele mit Tänzerinnen und Tänzern szenisch umzusetzen.

Dass Neumeier dazu passende Musik finden konnte, ohne eine Collage erstellen zu müssen, grenzt an ein Wunder. Aber tatsächlich passt diese schräg-erschütternde Erste Sinfonie von Alfred Schnittke phänomenal gut auf das emotionale Geschehen. Sie entstand von 1969 bis 1972 und bildet einen Tanz der Musikstile ab. Jazz, Barock, Klassik, Atonalität – alles mischt sich, alles findet zueinander und voneinander weg. Zitate von Haydn bis Tschaikowsky sind eingebaut, verfremdet, überhöht.

Zirkushaft bunt bis apokalyptisch aufbrausend ist der Ausdruck.

Die Instrumentierung der Schnittke-Sinfonie ist höllisch genial. Dem tosenden Lärm von Trompeten und Posaunen, durchsetzt von Glocken und Streichern, folgen marschartig jazzige Passagen, die sich zunehmend aufheizen. All der Jazz verkörpert im Endeffekt die ganze Stadt, in der und an der Blanche scheitert.

"Endstation Sehnsucht" von John Neumeier

Blanche (Anna Laudere) kämpft und scheitert in New Orleans… in „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Diese Stadt New Orleans wird vom sehr individuell gestalteten Corps de ballet vom Hamburg Ballett getanzt. Heiße Jungs und flotte Mädchen gockeln und stolzieren da voreinander her, jede scheint jeden anzubaggern. Sie tanzen wild, sie marschieren aggressiv, sie geben keine Ruhe. Lauter vorwärts drängende Kreaturen machen sich den Platz streitig.

New Orleans ist berühmt für sein ausschweifendes Nachtleben, für die scharfe kreolische Küche, für den Jazz. Und für sein fast rücksichtsloses, wirbelndes Tempo.

Die Musik von Schnittke beinhaltet all das. Neumeier hat sein Libretto eng an die Musik angepasst und nur zwischen einzelnen Abschnitten Pausen eingelegt, die mit Stille und Gesten gefüllt sind.

Die Aggressivität, die unter den Menschen hier dominiert und die sich sogar in die Erotik mischt, die schließlich alle Beziehungen beherrscht, wird mustergültig hörbar.

Blanche jedoch versucht, sich mit mädchenhafter Blümchenbettdecke und Lampenschirm aus rosa Papier ein neues Heimatgefühl zu schaffen. Im Radio läuft Klassik – auch dieser Abschnitt gehört zu Schnittkes Sinfonie. Begeistert tanzt Blanche danach, schöpft Hoffnung. Das Vornehme ist ihr Fluidum, und die barock anmutende Musik macht ihr Mut.

Stanley schleicht heran. Macht sich auf ihrem Bett breit. Wählt eine andere Musik, eine andere Tonart. Er liebt es rau, wie den heißen Jazz, der auch zu Schnittkes Werk gehört. Auch Stanley beginnt zu tanzen…

Blanche kapiert gar nicht, dass sie in großer Gefahr ist.

Als Stanley vorher einen Boxkampf gewann, zeigte er ihr schon seine Muskeln. Sie bestaunte sie auch. Vordergründig flirtete er da nur mit seiner Frau Stella. Aber es war zu sehen, dass ihn auch Blanche anzog, schon damals.

"Endstation Sehnsucht" von John Neumeier

Matias Oberlin als Stanley nach dem Boxkampf: im Siegesrausch. Foto vom Hamburg Ballett aus „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier: Kiran West

Jetzt greift er sie sich, tanzt mir ihr. Nur knapp kann sie ihm entkommen. Dieses Mal noch. Verstanden hat sie die Gefahr aber immer noch nicht.

Mitch (getanzt von Edvin Revazov), der beim Boxkampf besiegte Kollege von Stanley, ist für Blanche eine Abwechslung. Er besucht sie, bringt Rosen mit. Er ist etwas steif und tollpatschig. Sie versucht trotzdem, charmant und verführerisch zu sein.

Und ewig lockt der Mann…

Ihr Pas de deux ist kein typischer Verliebtentanz. Beide sind eher verzweifelt auf der Suche. Und da passiert es, gerade, als sich das Gefühl von Nähe und Zuneigung einstellt: Die drei Liebhaber, die Blanche in ihrer Fantasie verfolgen, sind wieder da. Sie drängen sich dazu und dazwischen, sie besetzen Blanches Gefühlswelt, sie sprengen die Beziehung zu Mitch. Dieser wird daran irre, er ergreift schließlich die Flucht. Blanche ist ihm unheimlich geworden.

So wie Stanley seinen Sieg im Boxring mit einem pavianischen Solo auskostete, will er jetzt beweisen, dass er auch als Mann tierisch gut drauf ist. Matias Oberlin überrascht als glaubhaft-grandios gewalttätiger Macho, der erst beim Sport, dann im Bett der Schwägerin den Obermacker markiert.

Als er ein zweites Mal in das Zimmer von Blanche eindringt, wird sie ihn nicht mehr los. Er zwingt sie brutal in einen Tanz, umklammert sie mit seinen Scherenbeinen, wirbelt sie damit am Boden entlang, schleift sie, hebt sie aufs Bett, nimmt sie gegen ihren Willen von hinten, von vorn, fixiert sie unterhalb des Bettes, zieht ihr gestrecktes, schönes, starkes Bein hoch, sodass es aussieht, als sei es sein Penis. Dann rutscht er langsam auf sie herunter… ihr Mund öffnet sich zu einem stummen Schrei.

"Endstation Sehnsucht" von John Neumeier

Matias Oberlin zerrt als Stanley an Anna Laudere als Blanche – sie ist in großer Gefahr. Foto aus „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier vom Hamburg Ballett: Silvano Ballone

Dazu findet die Musik ihren finstersten Höhepunkt: grelle, dunkle Orgelakkorde, die das Getöse der Bläser und das Trommeln der Schlagzeuge, das wilde Glockengeläut und die spatzenhaft surrenden Violinen überragen und sogar zu unterdrücken scheinen. Als verkünde diese Orgel den Beginn des jüngsten Gerichts.

Es ist alle Qual der Welt in diesen Momenten zu sehen und zu hören.

Um eine Vergewaltigung so ästhetisch und dennoch erschütternd zu choreografieren und akustisch zu illustrieren, muss man ein Meister wie John Neumeier sein. Und seine Musikauswahl beweist:

Die Unfähigkeit zu aufrichtigen Beziehungen in der amerikanischen Gesellschaft illustriert keine Musik besser als die der Sowjetunion.

Nach dem sexuellen Demütigungsakt rollt sich Blanche unterm Bett zusammen. Und Stanley fühlt sich als Sieger, mal wieder.

"Endstation Sehnsucht" von John Neumeier

Matias Oberlin als brutaler Stanley und Anna Laudere als Vergewaltigungsopfer Blanche – so zu sehen in „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Im Drama von Tennessee Williams versucht Blanche, Stella ins Vertrauen zu ziehen. Doch die glaubt ihr nicht, dass ihr toller Mann ein Vergewaltiger sein soll.

Im Ballett-Theater von Neumeier versucht Blanche, allein mit dem Gefühlschaos fertig zu werden. Aber sie stand schon bei der Ankunft in New Orleans nicht weit vom Abgrund eines Nervenzusammenbruchs.

Erneut tauchen jetzt Erinnerungen von Blanche auf, aber dieses Mal kommt eine strenge, sehr reale Frau in Schwarz dazu, eine Pflegerin. Sie will Blanche einweisen. Diese wehrt sich, ergebnislos – der Arzt, der einen auf souverän macht und Blanche an Allan erinnert, kann sie schließlich dazu bringen, mitzukommen.

Dann sitzt sie da, die seelisch verletzte, gedemütigte, immer noch schöne Blanche, und es ist, als würde das Stück bald von vorn beginnen.
Gisela Sonnenburg

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