Der kluge Berserker Alexei Ratmansky reinszeniert „Paquita“ beim Bayerischen Staatsballett – nach den Unterlagen aus der Sergejev-Sammlung

Alexei Ratmansky probt

Alexei Ratmansky probt mit ganzer Kraft – und verlangt von allen, sich selbst inbegriffen, bei jeder neuen Produktion die eigenen Grenzen zu überschreiten. Foto: Gisela Sonnenburg

Er stöhnt. Er hechelt. Er zieht hörbar die Luft ein, ist hoch erregt. Alexei Ratmansky, seit einigen Jahren Shooting Star der internationalen Choreografie, ist kein cooler Typ, wenn er im Ballettsaal probt. Vielmehr bringt er die Stimmung zum Brodeln – und leidet selbst reichlich mit. So kennt man ihn in Moskau, in New York, in Berlin: Als Berserker, der bei jeder Produktion von allen Beteiligten, sich selbst inklusive, verlangt, über die jeweiligen Grenzen zu gehen. Tänzer fordert er bis zur Erschöpfung, dafür lernen sie bei ihm auch mehr als anderswo. Und der Zuschauer, auch er wird gefordert, lernt, mit ironischer Distanz auf Ballett zu sehen – etwas, das noch immer ziemlich neu ist in den Zuschauerreihen der Behaglichkeit.

Von seiner Biografie her erinnert Ratmansky, 1968 geboren und von Pjotr Pestov in der Schule des Bolschoi in Moskau zum Tänzer gemacht, dennoch durchaus an das, was man im 19. Jahrhundert unter einem typischen Ballettmeister verstand: Er war Erster Solist und Choreograf – und wurde mit nur 36 Jahren Ballettdirektor am Bolschoi-Theater. „Ich wollte das Gesicht des Bolschoi verändern, modernisieren, neu erfinden“, sagt er.

Vier Jahre hielt er diesen Knochenjob durch, genoss vor allem die Zusammenarbeit mit den hervorragenden Tänzern des Bolschoi – und zog dann hinaus in die große Freiheit. Weit auf und davon, ließ er sich New York nieder, wo seine Frau, die auch oft als seine Assistentin arbeitet, und der gemeinsame Sohn, der vielleicht Musiker wird, sich als Weltbürger in Amerika verstehen. Er selbst zieht rastlos von Theater zu Theater, kreuz und quer durch die Ballettgeschichte, und dieses Jahr arbeitet er bereits zum dritten Mal in Deutschland. Beim Staatsballett Berlin studierte er seine Kreation „Namouna“ ein, eine Art Satire aufs klassische Ballett. Dann schöpfte er fürs Dresdner Semperoper Ballett die „Tanzsuite“, als filigranes Gegenstück zu seiner „Namouna“.

Ratmansky und Fullington

Alexei Ratmansky probt mit Doug Fullington im Ballettsaal in München. Foto: Wilfried Hösl

Jetzt macht er das, wofür ihn schon die ältesten Hasen der Branche am Bolschoi herzlich lieb hatten: er rekonstruiert mal wieder. Jahrezehntelang nicht gespielte Werke wie „Die Flammen von Paris“ und „Der helle Bach“ gab Alexei Ratmansky bereits dem Bolschoi Theater zurück, als penibel nachgeschöpfte, mit vielen virtuosen Highlights versetzte Juwelen im Repertoire des neuen Russlands. Und ob er nun ein Handlungsballett nach Shakespeare macht – Ratmansky kreierte fürs American Ballet Theatre einen „Tempest“ mit hochkarätiger Starbesetzung – oder ob ein abstrakt-komisches Ballett wie die „Tanzsuite“ in Dresden auf dem Plan steht: was Ratmansky auch anfasst, es wird bejubelt. Zumindest war es bisher so, mit Ausnahme seines „Lost Illusions“-Dekorationsballetts in Paris, von dem er mir selbst im Interview kritisch sagte, es sei an den zu aufwändigen Kostümen gescheitert.

Aber sonst? Sonst fliegen Ratmansky alle Herzen zu, wo immer er auf diesem Erdball gerade arbeitet, obwohl oder weil er einer der kühlen Intellektuellen im Geschäft ist. Tänzerische Satire und absichtliche Überzeichnung gehören dabei ebenso zu seiner Handwerkskunst wie die ganz ernsthaft-ehrbare Zitierung. So gleicht sein Stil einer Mischung aus Kennzeichen des Bolschoi mit den geraden Linien eines George Balanchine, versetzt mit einer Prise William Forsythe, mit dem er die Ironie und die Distanz zum großen Pathos teilt.

Was ist es denn nun, das den vielseitigen, heißblütigen Immer-noch-Jungspund so erfolgreich macht? Wer Ratmansky einmal coachen sah, versteht das Pfund, mit dem er wuchern kann: Er versteht seine Tänzer. Er versteht sie, sowie er sie tanzen sieht, und er hat eine unnachahmliche Art, sich in die Probenarbeit mit ihnen reinzuschmeißen und für sie vorzumachen, worum es ihm geht. „Seid nicht schüchtern“, sagt er seinen Tänzern, „schmeißt euch rein und zeigt mir, wie ihr es machen wollt! Wenn es total falsch ist, werden wir korrigieren. Aber erst mal: zeig euch!“ Denn, so erläutert er mir: „Ich möchte wirklich ihre individuelle Interpretation sehen.“ Mit dieser Methode, auf einzelne Ensembles und einzelne Tänzer einzugehen, liegt Ratmansky im Ballett natürlich genau richtig.

Fullington liest

Doug Fullington nimmt die Stepanov-Notationen mit zur Probe. Foto: Wilfried Hösl

Es geht ja eben nicht darum, irgendeine Leistung zu kopieren oder nachzumachen. Sondern darum, die persönliche Note eines jeden Tänzers, einer jeden Tänzerin, eines jeden Ensembles mit einer Choreografie zur Geltung zu bringen. Das ist im Grunde ein fast dialektischer Prozess, denn natürlich sind Ballettchoreografien keine zu paraphrasierenden Schlagwortsätze, sondern eher wie feststehende Granit-Inschrift

en, wenn man so will. Das Wunder Ballett macht, dass der Granit lebt – der Körper ist eben nicht aus Stein.

Wenn Ratmansky mit diesem Ur-Instinkt eines Ballettmeisters eine Kreation einstudiert – sei es eine ganz eigene oder eine historisch rekonstruierte – so hat man dabei stets das Aha-Erlebnis einer Aventuire, eines Abenteuers. Es handelt sich um die Power und Magie des Immerneuen, auch wenn es sich im Grunde um überwiegend altbekanntes Material handelt.

Ausgerechnet „Paquita“ guckte Ratmansky sich für München aus. „Paquita“, diesen disparaten Zweiakter von Marius Petipa (1818-1910), im übrigen auch noch dessen Erstling in Sankt Petersburg. Dort war das unbestrittene Genie Petipa zunächst mal nur ein aus Frankreich eingewanderter höfischer Angestellter, der auf eine mittelprächtig gut trainierte, künstlerisch aber ziemlich rückständige Balletttruppe traf. Allerdings hatte er, aus einer Tänzerfamilie stammend, von Beginn an große Ambitionen: „Mein Ziel ist es, den Tanz als eigenständige Kunstform zu etablieren.“ Was ihm gelang. Nach nur kurzer Zeit war das Zarenhaus regelrecht süchtig nach seinen Balletten, und bis 1905 hielt er sich als oberster Diktator des guten Geschmacks in Petersburg. Dann wollte das Publikum ihn nicht mehr er zog sich zurück.

„Paquita“, uraufgeführt 1847, ist ein opulentes Ballett mit einer rührenden Story. Die Musik stammt zwar von verschiedenen Komponisten, wie den Ballettbekannten Ludwig Minkus und Edouard Deldevez, ist aber dennoch insgesamt bezaubernd. Die Sache hat einen ganz anderen Haken: „Paquita“ zerfällt inhaltlich wie formal in zwei Teile, die so gar nicht miteinander korrespondieren wollen. Das kann auch ein Ratmansky vermutlich nicht ändern, zumal nicht in einer mit minimalistischen Details tiefgründelnden Rekonstruktion. Allerdings: Auch die brüske Zweigeteiltheit des Abends machte einen ganz bestimmten Sinn, am Ende dieses Berichts werde ich das näher erklären.

Zunächst steht die Rekonstruktion im Vordergrund. Ratmansky besorgt sie nicht selbst, sondern lässt sie sich von einem ausgewiesenen Experten auf diesem Gebiet erledigen: Doug Fullington aus Seattle (USA) war nie Tänzer, sondern studierte Musikgeschichte und wurde über Umwege Tanzhistoriker. Im Nebenberuf ist er Musiker und hat ein eigenes Vokalensemble. Als einer der wenigen weltweit, die die um 1900 in Russland entwickete Stepanov-Notation lesen können, in der Choreografien aufgezeichnet wurden. Fullington hat denn auch bereits gute Erfahrung im Rekonstruieren klassischer Ballette.

So half er Pierre Lacotte 2001 bei dessen Neuerfindung von Petipas „Tochter des Pharaos“, am Bolschoi-Theater premierte das Stück. Teilstücke von „Le Corsaire“ und „Giselle“ sowie aus „Dornröschen“ verdanken ebenfalls Fullington ihre Wiederauferstehung. Und seit 2000 agiert er als Forscher eines Projekts namens „Popular Balanchine“, das sich zum Ziel gesetzt hat, die guten alten Grundsätze des Vaters der Neoklassik – George Balanchine – zu reaktivieren.

Bei Fullingtons Rekonstruktion von „Paquita“ greift er auf Unterlagen zurück, die als „Sergejev-Sammlung“ bekannt geworden sind. Diese aus Russland stammenden Notationen lagern in der Harvard Theatre Collection. Allerdings kann Doug Fullington nur die nackten Schritte, das choreografische Gerüst herausarbeiten. Die praktische Umsetzung dessen mit Tänzern aus Fleisch und Blut muss er Ratmansky überlassen – dass dieser dazu hoch qualifiziert ist, hat er bereits bewiesen.

Ratmansky probt

Ratmansky auf einer Bühnenprobe in München. Foto: Wilfried Hösl

Das Bayerische Staatsballett macht indes ein Geheimnis aus den genau zu erwartenden Ergebnissen und hält auch die tänzerische Besetzung noch Tage vor der Premiere unterm Deckel. Man soll sich wohl auf ein Fest der Brillanz freuen – allerdings müssen die Besucher insofern gewarnt werden, als Petipas „Paquita“ keine ganz einfach zu verdauende Kost ist. Das Libretto stammt übrigens von Pierre Foucher und Joseph Mazilier, und letzterer war ein sehr erfolgreicher Tänzer, dann Ballettmeister und Choreograf an der Pariser Oper, der sich auch Stücke wie „Le Corsaire“ ausdachte. Die Uraufführung von „Paquita“ fand denn auch 1846 in der Choreografie von Mazilier mit der Musik von Edouard Deldevez an der Pariser Oper statt – ein Jahr vor Petipas Version in Petersburg. Das Libretto trägt indes auch in Russland noch starke französische Züge.

Der erste Akt von „Paquita“ ist vom Bühnenbild, vom Equipment und von der Inszenierung her stark an „Giselle“ (1841) angelehnt. Wir befinden uns aber nicht in Frankreich, sondern im von Frankreich besetzten Spanien, wo in einem mitfühlenden Saragossa die Gedenkstätte für die Opfer eines Massakers auf der Bühne zentral ist. Dort begegnet der jugendliche Held Lucien der Zigeunerin Paquita – sie verlieben sich. Da er aber aus adligem Haus ist, soll er eine Gouverneurstochter heiraten. Die Liebe zu Paquita scheint unter ungünstigen Sternen zu stehen.

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Wir hören hier schon förmlich die Einwände, die die Zeitgenossen Petipa gemacht haben, in der Art, dass „Paquita“ ein ziemliches „me too“-Produkt von „Giselle“ sei. Der Grundkonflikt erinnert in der Tat stark an das schon damals erfolgreichste romantische Ballett „Giselle“, und auch die Szenerie einer besetzten Region gleicht dem geografischen Tableau in „Giselle“. Wie dort und sogar noch stärker gibt es Pantomimen und Gestiken, und die romantisch langen Damenröcke erinnern ebenfalls an „Giselle“ sowie auch an die Bournonville-Stücke jener Zeit.

In „Paquita“ geht es jedoch bald deutlich temperamentvoller, außerhalb der Bühne auch blutrünstiger zu als in „Giselle“. Denn Luciens Rivale und ein Kollaborateur mit den französischen Besatzern planen Luciens Ermordung. Das Liebespaar unterdessen glaubt, wegen der Standesunterschiede nicht heiraten zu können. Doch letztlich stellt sich – anhand eines Medaillons, das Paquita seit Kindertagen aufbewahrt – heraus, dass sie eine Cousine ihres Geliebten ist. Sie überlebte als Kind das mit der Gedenkstätte auf der Bühne präsente Massaker, wurde aber entführt und von den Zigeunern groß gezogen. Jetzt, da als bewiesen gilt, dass sie von Adel ist, gibt es eine prunkvolle Hochzeit, die mit vielen Tanzeinlagen den in Tellerröcken gestalteten zweiten Akt ausmacht.

Die Ähnlichkeit des Hochzeitsakts zu Petipas Spätwerk „Raymonda“ (1898) ist sprichwörtlich: Der große Meister, der das klassische Ballett als russisch-französische Kunst, wie wir es kennen, maßgeblich prägte, man kann sogar sagen: erfand, zitiert darin sich selbst, nämlich seine gelungene Anfängerarbeit „Paquita“.

Ratmansky und Petipa

Alexei Ratmansky gibt immer sein Bestes – im Fall von „Paquita“ ist es auch seine erste Petipa-Rekonstruktion. Foto: Gisela Sonnenburg

Bedeutsam ist an „Paquita“ als Startpunkt des Petipa’schen Werks die Einführung seines neuen Stils durch den zweiten Akt. Diesen – seinen ureigenen – Stil setzte Petipa nicht nur in Russland, sondern durch Einstudierungen und Nachahmungen ballettweltweit durch. Er kulminiert in den Petipa-Balletten wie „Dornröschen“ und „Nussknacker“, und er ist gekennzeichnet durch präzise technische Raffinesse, gerade Winkellinien der Arme und Beine sowie eine hohe Dramatik im Ausdruck. Das Weiche, Lyrische der Romantik weicht einer eleganten Strenge – in Grenzen zwar und in vielen verschiedenen Spielarten. Aber: Den Beginn des eigentlichen klassischen russischen Balletts im Vergleich zum vorherigen romantischen Ballett bezeichnet „Paquita“!

Insofern guckte sich Ratmansky, dieser kluge Berserker, ein wirkliches Juwel aus, um es neu rekonstruiert auf die Bühne des 21. Jahrhunderts zu bringen. Toitoitoi!

Am 13. (Premiere), 16., 18. und 30.12. im Nationaltheater in München

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