Ein schneller Geheimtipp Kurzfristig gibt das Wiener Staatsballett bekannt, dass am Sonntag die Premiere der „Kameliendame“ von John Neumeier als kostenloser Live-Stream läuft

"Die Kameliendame" kommt als Livestream vom Wiener Staatsballett

Ketevan Papava (links) als „Die Kameliendame“ und Hyo-Jung Kang (rechts) als Manon Lescaut im Kreise ihrer Verehrer – so zu sehen mit dem Wiener Staatsballett in der Choreografie von John Neumeier. Foto: Ashley Taylor

Morgen um 18.30 Uhr haben Sie ein Date: ein wichtiges Livestream-Date. Verschieben Sie dafür alles andere, bringen Sie die Kinder, Neffen, Nichten und Enkel vorher woanders unter – oder lassen Sie sie kurzerhand am Kulturgenuss teilhaben. Mit dem Hund gehen Sie aber bitte rechtzeitig Gassi, und sollte Ihr Ehegespons Fußball sehen wollen, muss es das mit Kopfhörern im Nebenzimmer tun. Denn diese großartige Gelegenheit für Sie, unversehens für drei Stunden superglücklich zu werden, und das auch noch kostenfrei, wird sich so schnell nicht wieder bieten: Das Wiener Staatsballett und sein Gast-Choreograf John Neumeier gönnen uns online die Live-Übertragung der Wiener Premiere des legendären Erfolgsstücks „Die Kameliendame“. Wow, wow, wow! In der Titelrolle wird die langjährige Wiener Erste Solistin Ketevan Papava hoffentlich ernsthaft glänzen und berühren; ihr Armand ist der fein sophisticated wirkende Timoor Afshar, der in Stuttgart ausgebildet und herangezogen wurde und erst diese Saison nach Wien wechselte. Als Manon, die eine Art zweites Ich der Titelrolle verkörpert, wird die schwer anmutige Hyo-Jung Kang, die ebenfalls aus Stuttgart nach Österreich kam, brillieren. Mit dem edelmütigen Marcos Menha als Des Grieux an ihrer Seite wird sich auch dieses Paar unvergesslich in unsere Herzen tanzen. Der grantelige alte Herzog im Stück wird derweil charakterstark von Rashaen Arts verkörpert und der intrigante Vater Armands, Monsieur Duval, von Eno Peci. Ioanna Avraam, gebürtige Zypriotin, ist dazu als geschäftstüchtig-kokette Prudence besetzt. Und die kleine Kultrolle der kessen Olympia wird die bereits mit einem Förderpreis bedachte Elena Bottaro tanzen. Ganz ehrlich: Wer Ballettfan ist und sich das hier entgehen lässt, muss sich schelten lassen. Es sei denn, er oder sie hat ein Ticket für die Wiener Staatsoper zur selben Zeit. Es ist eine so gelungene Überraschung, alle, die nicht anreisen können, mit der Online-Show zu beglücken, dass wir dem Wiener Ballettchef Martin Schläpfer und seinem Gast John Neumeier für die Chance auf diesen erhebenden Event allerherzlichst danken! Wenn man bedenkt, dass sich die beiden Ballettheroen noch vor zehn Jahren nicht allzu gut verstanden, so ist diese Premiere zudem eine fantastische Besiegelung eines Pakts für Ballett.

"Die Kameliendame" kommt als Livestream vom Wiener Staatsballett

Der blaue Pas de deux ist der erste Liebestanz von Marguerite und Armand. So zu sehen beim Wiener Staatsballett mit Ketevan Papava und Timoor Afshar. Foto: Ashley Taylor

Auch die Öhrchen werden übrigens verwöhnt werden, so wie es sich darstellt. Denn unter dem Dirigat des versierten und vom Hamburg Ballett her gut bekannten Ballettdirigenten Markus Lehtinen wird die speziell orchestrierte Partitur von Werken von Frédéric Chopinerklingen. Als Pianisten sind Michal Bialk aus Hamburg und der illustre Igor Zapravdin aus Wien mit dabei. Zapravdin veranstaltet übrigens auch selbst Ballett-Galas in Österreich, und als Ballettrepetitor hat er genaue Kenntnisse der Befähigungen der einzelnen Wiener Tänzer.

Intime Momente wechseln in der „Kameliendame“ mit furiosen Ensemble-Choreografien.

Es lockt also ein großes Ball-Ballett, mit grandiosen Gruppenszenen, einerseits, aber auch ein Puzzle aus zart gemeißelten Soli und ätherischen Kleingruppen-Tänzen, die sich ins Gedächtnis brennen wie sonst fast nichts im Ballett.

Nicht zu vergessen: die humoristische Seite dieses Balletts. Vor allem im zweiten Akt darf man herzhaft lachen, so traurig und melancholisch sich dann das tragische Ende auch anbahnt.

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Sie wissen noch, dass es sich um eine der berühmtesten Liebesgeschichten der Welt handelt? Marguerite, die Titelfigur, lebt als mit Kamelien geschmückte Edelkurtisane in Paris um 1840. In der realen Epoche damals wurde gerade das romantische Ballett mit seinen weit fliegenden Tüllröcken in mehreren Lagen erfunden und zelebriert.

Aber es lebte eben auch ein junges Mädchen vom Geld seiner Liebhaber in extraordinärem Luxus – und diese später an Schwindsucht dahinscheidende Schönheit inspirierte den Dichtersohn und Schriftsteller Alexandre Dumas den Jüngeren zu seinem Roman „Die Kameliendame“.

Marguerite verliebt sich in den schwärmerischen jungen Armand, der indes über nicht genügend finanzielle Mittel verfügt, um sie auszuhalten. Kompromisse mit anderen Liebhabern mag er nicht eingehen, und so landet das Pärchen gemeinsam mit Freundinnen und Freunden beim sommerlichen Leben auf dem Lande. Aber auch hier gehen die Ersparnisse Marguerites irgendwann zur Neige, und eine Katastrophe nach der anderen schürt die emotional unterfütterte Handlungsdramatik.

Am Ende steht fest, dass sich die beiden so stark liebten, dass der bzw. die andere es nicht mal erahnen konnte. Doch da ist es zu spät – Marguerite stirbt den elenden Tod der Verarmung.

"Die Kameliendame" kommt als Livestream vom Wiener Staatsballett

Ketevan Papava und Adi Hanan in „Die Kameliendame“ von John Neumeier beim Wiener Staatsballett. Wow. Foto: Ashley Taylor

Bis dahin wird in Rückblenden und aus wechselnden Perspektiven ganz großes Ballettkino geboten.

Und man erinnert sich an die Premiere des Stücks vor zehn Jahren, also 2014, in Moskau am Bolschoi Theater. Svetlana Zakharova tanzte damals mit dem Hamburger Ballerino Edvin Revazov dank moderner Technik auch für die Zuschauer in Deutschland, denn auch 2014 gab es eine Live-Übertragung, und zwar in international ausgewählte Kinos.

Ich saß damals mit einer Freundin im Hamburger Kino „Passage“, das über köstlich bequeme Sessel verfügt. Und in den Pausen interviewte die energische Pressedame vom Bolschoi backstage die Hamburger Künstler.

Heuer dürfen wir gespannt sein auf das Pausenprogramm – oder auch in der Wohnung flanieren, auf den Balkon treten und den Mond anbeten.

Mondsüchtig wird man allemal mit der „K-Dame“. Denn die geballte Romantik und die intriganten Verquickungen von verschiedenen Interessenslagen sind knallspannend in Tanz verpackt.

"Die Kameliendame" kommt als Livestream vom Wiener Staatsballett

Manon (Hyo-Jung Kang) ist eine weitere faszinierende zentrale Figur in „Die Kameliendame“ von John Neumeier. Foto vom Wiener Staatsballett: Ashley Taylor

Da sind die berühmten drei großen Pas de deux der „Kameliendame“, sie sind nach den Farben des jeweils verwendeten Damengewands benannt: Der blaue Pas de deux, der manchmal auch lila schimmert, ist der Tanz der ersten Verliebtheit und des gegenseitigen Verstehens; der weiße Pas de deux, der raffinierteste Hebungen enthält, steht für das höchste Glück der auch erotisch geprägten Zuneigung; der schwarze Pas de deux schließlich zeigt dann die heftig wieder aufflammende Leidenschaft nach der Beendigung der Beziehung.

Ach, und zu seufzen gibt es viele Anlässe hier!

Für die Partie der Marguerite zum Beispiel ist schon eine gewisse Aura des Todgeweihten Pflicht. John Neumeier dazu: „Um Marguerite zu tanzen, muss die Tänzerin eine Form der Verletzlichkeit sichtbar machen können. Das hat nichts mit der Größe oder dem Alter, sondern mit einer Ausstrahlungskraft zu tun. Kann ich, welchen Schritt auch immer sie tanzt, glauben, dass sie bestimmt ist zu sterben?“

"Die Kameliendame" kommt als Livestream vom Wiener Staatsballett

Zwei Menschen im Liebestaumel: Ketevan Papava und Timoor Afshar auf der Probe zur „Kameliendame“ von John Neumeier. Foto vom Wiener Staatsballett: Ashley Taylor

Der sie liebende Armand muss damit umgehen können, muss ihr völlig passioniert ergeben sein, ganz so, als sei er bereit, mit ihr in den Tod zu gehen. Die starke Anziehung zwischen beiden muss sich uns Zuschauenden übermitteln – und dann auch seine Wut, als sie ihn verlässt, um ihn nicht unglücklich zu machen. Sie formuliert sich übrigens in einem genial-emotionalen „Wut-Solo“.

Dass insgesamt verschiedene Generationen und soziale Schichten in diesem Stück aufeinander prallen, verleiht ihm den Hautgout des Realismus, auch wenn Ballett, dessen oberstes Gesetz der Stil ist, niemals naturalistisch wie ein Theaterdrama sein kann (und normalerweise auch nicht sein soll).

Die mal opulente, mal sparsam einher kommende Ausstattung von Jürgen Rose unterstützt diesen halbrealistischen Impetus, der doch immer auch eine Menge Poesie atmet. „Die Kameliendame“ ist sozusagen ein parfümiertes Ballett. Mit einem Duftbouquet wie von Wildrosen und Lilien, Eukalyptus und Rosmarin.

"Die Kameliendame" kommt als Livestream vom Wiener Staatsballett

Eine dramatische Szene: Der Herzog (Rashaen Arts) sprengt die Party auf dem Lande. Foto vom Wiener Staatsballett: Ashley Taylor

Man hat es mit der „‘Giselle des 20. Jahrhunderts“ zu tun, wie die damalige Pariser Ballettchefin Brigitte Lefèvre es mal sagte. Und man hat es zugleich mit einem immer wieder jung und frisch wirkendem Werk zu tun, das auch beim gefühlt hundertsten Mal des Anschauens nicht welkt und immer wieder Spielraum für Entdeckungen bietet.

Die einstudierenden Kräfte waren Kevin Haigen, Janusz Mazon und Ivan Urban, die alle nur dafür vom Hamburg Ballett mit John Neumeier nach Wien gereist sind.

Wir werden morgen gedanklich hinreisen – und uns am mitreißenden, in vielen Gefühlsfarben schillernden Spektakel online laben. Vergessen Sie nicht, es auch so zu machen!
Gisela Sonnenburg

play.wiener-staatsoper.at

72 Stunden wird das Stück hier online sein.

ballett journal