Wenn Sie über die Osterfeiertage in einen Gottesdienst und auch in eine Ballettvorstellung gehen, fällt es Ihnen vielleicht auf: Manche kirchliche Rituale ähneln Teilen von theatralen Inszenierungen. Besonders stark ist das in der Choreografie der „Matthäus-Passion“ von John Neumeier zu erkennen, die bekanntlich auch als DVD/BluRay vom Hamburg Ballett zu haben ist, was wiederum sehr nützlich für die Feiertage ist. Dann erkennt man: Das Schreiten, der Kniefall, das Segnen, die Anbetung mit erhobenen Armen oder auch das Sühnen der am Boden liegenden Körper, auch das Hantieren mit Textilien anstelle eines heiligen Körpers – all das gehört zum katholischen Ritus etwa der Karfreitagsmessen ebenso wie zur sakral-profanen Choreografie der „Matthäus-Passion“. Wer mag, kann auch weniger geprobte Performances – wie die Nebenbei-Projekte von Friedemann Vogel, im Hauptberuf Erster Solist vom Stuttgarter Ballett – unter dem Aspekt der sakralen Einflüsse anschauen. Dazu weiter unten mehr. Aber nicht nur im Tanz, sondern auch in der Architektur gibt es Verbindungen zwischen Religion und Kunst.
Tatsächlich ist die Apsis der frühmittelalterlichen Kirche als das direkte Vorbild der Guckkastenbühne im Theater oder Opernhaus zu begreifen. Auch in Synagogen und Moscheen weisen Nischenräume Ähnlichkeiten zu kleinen Guckkästen auf. Und sogar in buddhistischen Tempeln gibt es apsidenähnliche Bauweisen. Das Prinzip, in einen geschützten Raum konzentriert hineinzusehen, liegt aber vor allem dem höfisch-bürgerlichen Theater des Abendlands zu Grunde. Es hat die offene Arena und das Amphitheater der Antike abgelöst. Die Auflösung der Rahmen- oder Guckkastenbühne ist von daher nicht unbedingt eine Vorwärtsentwicklung, sondern vor allem ein Zurückgehen auf antike Bühnenformate. Und wenn Stege und Brücken, Plattformen und Galerien eine Guckkastenbühne ergänzen, so ist das eine Ergänzung der Spielfläche mit Elementen aus älteren Welten. Der Sinn all dieser Auftrittsmöglichkeiten: Kommunikation.
Wenn die Tänzer auf die Bühne kommen, füllen sie diese mit ihrer Aura, aber auch mit ihrer lebendigen Interaktion. Untereinander und mit dem Publikum findet der kommunikative Austausch statt, über das zu Sehende, das zu Hörende, aber auch über Atem und die Atempausen. Wir haben es alle schon erlebt, dass es Momente auf der Bühne gab, zu denen das ganze voll besetzte Opernhauspublikum – rund 1500 Menschen – vor Berührung die Atemluft anhielt.
Die nonverbalen Mitteilungen, die wir uns machen, sind im klassischen Ballett überwiegend friedlicher Art. Die Empfindungen von Freude, Verliebtheit, Harmonie, Balance und Virtuosität, aber auch von Stolz und Würde, von Anmut und Erhabenheit strömen als emotionale Pfeiler des Balletts von der Bühne ins Publikum.
Die Bühne ist dabei der sakrale Raum, dem die Kunst entspringt, in dem sie stattfindet. Ebenso ist im Gottesdienst, in der Zwiesprache mit Gott, die Apsis der Ort der Entstehung der heiligen Gefühle. Dort, wo der Altar steht und das Kreuz die Ausrichtung nach Osten markiert, ist jener Raum definiert, den man als Bühne einer Kirche bezeichnen kann.
Die Gefühle, die im Christentum vermittelt werden sollen, sind von denen des klassischen Tanzes gar nicht so weit entfernt: Nächstenliebe, Harmonie, Ehrfucht, Dankbarkeit, Anbetung, Fürbitten, Vergebung.
Moderne Choreografen, die die Klassik zur Grundlage haben, erkennen sich da oft wieder. Sogar die antiballettöse Technik von Martha Graham und in weiten Teilen auch der Ausdruckstanz agieren mit diesem Gefühlskanon.
Nur die ausdruckslosen formalistischen Vorführungen, die sich auf einen puristischen Stil mit maximaler Ästhetik bei minimalem Inhalt reduzieren, verlieren diesen Vergleich.
Friedemann Vogel etwa, der im Februar 24 im Kleist-Forum in Frankfurt (Oder) eine neue Performance premieren ließ, glaubt, es habe etwas mit Heinrich von Kleists Essay „Über das Marionettentheater“ zu tun, wenn er steif und ohne jede schauspielerische Leistung puppenähnlich seine im Bühnenlicht ausgeleuchteten Muckis spielen lässt. „Die Seele am Faden / Soul Threads“ heißt das geförderte Projekt, das vorgeblich untersucht, „ob der Mensch oder die Marionette besser tanzen“ könnte. Besser tanzen? Besser machen? Mal wieder der Beste überhaupt sein?
Da bahnt sich eine glatte Fehlinterpretation von Kleists berühmtem Aufsatz an, und sie greift viel zu kurz, um wirklich interessant zu sein. Und leider sieht man mal wieder (nicht zum ersten Mal), dass es mit Friedemann Vogels Kunstverständnis nicht viel weiter als mit dem von sponsernden Autobauern sein kann.
Als interpretierende Künstler, also als Tänzer, hat Vogel vor allem beim Stuttgarter Ballett zweifelsohne Meriten. Aber seine Projekte, die er meist mit seinem Lebensgefährten Thomas Lempertz und weiteren Familienmitgliedern durchführt, damit diese auch mal am Ruhm von Friedemann Vogel mitverdienen, laufen künstlerisch auf denkbar niedrigem Niveau ab. Da heißt es üben, üben, üben – vielleicht wird’s ja irgendwann weniger oberflächlich als bisher.
Konkret zur Sache: Es geht bei Kleist nicht um ein plumpes „besser“, auch nicht um „höher“, „weiter“ oder „schneller“. Der Overkill von Komperativen und Superlativen ist eine Verkaufsmasche, die mit kulturellen Inhalten überhaupt nichts zu tun hat. Bei Kleist geht es um Poesie, Anmut und faszinierende Grazie – und darum, ob eine Marionette sie darum eignet, weil sie ohne Bewusstsein ist.
Bewusstsein bündelt Erfahrungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen – und ihre Reflexion. Gedankenkraft ist hier gefragt, als glatte Kontrastkraft zur körperlichen Leistungsfähigkeit. Denkt eine Puppe, ohne es zu wissen? Oder denken Menschen viel weniger, als sie es wissen?
Mit „besser tanzen“ hat all das nichts zu tun. Es geht bei Kleist um komplexe Hintergründe, nicht um einfältig messbare Erfolgskriterien.
Friedemanns Verwurschtung von Kleist ist allerdings wie geschaffen für all jene, die sich in einem Kulturbetrieb wohl fühlen, der zunehmend zum technischen Zirkus statt zur künstlerischen Veranstaltung wird.
Man darf sich dann nur nicht wundern, wenn der nicht kontrollierte Ausdruck dessen destruktiv und morbide ist. Und zwar ganz ohne selbst darum zu wissen.
Mangelndes, auch skeptisches Selbst-Bewusstsein statt immer nur Big-Ego-Selbstbewusstsein ist sicher ein großes Problem in unserer Tanzkunstszene.
Ostern könnte da helfen: Denn eine der entscheidenden christlichen Tugenden ist die Demut.
Der Gehalt der christlichen Saga spricht da für sich:
Die Schuld, die die Menschheit durch den Verrat und die Kreuzigung von Jesus Christus auf sich lädt, wird durch das Opfer dessen selbst gesühnt und getilgt. Der Auferstehungsmythos dient dem Ersatz von maßloser Rachsucht ebenso wie verdienter Bestrafung durch Versöhnung und Vergebung. Demütig schauen wir auf dieses geniale Konstrukt von Werten, das – anders als die Propaganda und Reklame der heutigen globalen Wirtschaft – den Menschen zu zivilisieren weiß, statt aus ihm wölfische Bestien der Gier zu machen.
Der entscheidende Unterschied zum Judentum – und auch zu anderen Religionen – liegt beim Christentum in seinem umfassend ausgedehnten Gedanken der Nächstenliebe. Insofern ist nicht nur Weihnachten, sondern auch Ostern ein Fest der Liebe. Feiern Sie es friedlich. Aber werden Sie nicht unkritisch.
Übrigens: Kulturkritik ist friedlich und keine Beleidigung. In diesem Sinne:
Frohe Ostern!
Gisela Sonnenburg
Die „Matthäus-Passion“ von John Neumeier wird 2025 wieder zu Ostern vom Hamburg Ballett aufgeführt werden (www.hamburgballett.de).
„Die Seele am Faden / Soul Threads“ mit Friedemann Vogel läuft heute abend noch einmal im Kleist-Forum, Frankfurt (Oder). Tickets: https://www.eventim.de/event/die-seele-am-faden-kleist-forum-frankfurt-oder-kleist-forum-18171870/