Wenn die Ballettdramaturgin Helena Sturm bei einer Matinee erklärt, worum es in einem Stück geht, hört man richtig gerne zu. Man tut es umso lieber, wenn David Dawson, der sicher einer der interessantesten lebenden Choreografen ist, im Zentrum dessen steht. Das Ballett Dortmund lockt denn auch zurecht mit viel Seelenglanz und Erhabenheit in seine Premiere am kommenden Samstag, den 13. April 24. Sie ist „Dawson“ nach dem schöpferischen Künstler selbst benannt, und sie ist mit zwei bekanntermaßen edlen Werken von ihm bestückt: „Metamorphosis“, das erste im Abendablauf, entstand brockenweise während der Corona-Pandemie. Es greift große menschliche Aspekte wie Hoffnung, Sehnsucht, Schicksal und Menschlichkeit auf, die während der Pandemie wie unter einem Brennglas kulminierten. Es jetzt zusammen mit dem zweiten Stück zu sehen, bedeutet sogar eine Dortmunder Weltpremiere. Das zweite Stück wiederum, „Affairs of the Heart“, ist ebenfalls noch jung, es stammt von 2022: Es geht darin um die Liebe, über die anschaulich anhand von Paaren und Solisten tänzerisch reflektiert wird. Stars wie Javier Cacheiro Alemán tanzen, und die mit getanzten Ausschnitten und Interviews gespickte „Matinee Dawson“ machte am Sonntagvormittag aus dem Ballettzentrum Westfalen heraus so richtig Appetit auf dieses neue Programm.
Als Livestream online übertragen, schwappte die gute Stimmung zudem aus Dortmund hinaus in die verschiedenen Ballettuniversen. Vorab leitete, auch vor der Kamera sichtbar, Ballettmeister Cyril Pierre mit Knowhow und Humor ein Training, damit die Tänzerinnen und Tänzer nicht unaufgewärmt in die öffentliche Probe gehen müssen.
Helena Sturm erklärt dann mit viel Kompetenz und ebenso viel Charme, was hier Sache ist: Dortmunds Ballettintendant Xin Peng Wang, selbst ein genialer Choreograf, schätzt David Dawson seit Jahren und lässt ihn nun – in seiner eigenen letzten Dortmunder Spielzeit – mit dem Ballett Dortmund seinen Einstand feiern.
Dawson, der als gebürtiger und ausgebildeter Brite einen Großteil seiner Karriere als Tänzer und später als Choreograf in Amsterdam beim Dutch National Ballet (Het Nationale Ballet) verbrachte, lebt mittlerweile mit seiner Familie in Berlin. Aber er ist als einer der meist angefragten Starchoreografen unserer Zeit so viel unterwegs, dass er erst im Juli diesen Jahres wieder nach hause kommen wird. Das ist der Preis des Ruhms in dieser Branche.
Ich darf einfügen, dass Dawson auch ein vorzüglicher Fotograf ist, dem es auf seinen Dienstreisen oft gelingt, die Städte, in denen er arbeitet, mit der Kamera prägnant und doch auf ungewöhliche Art einzufangen. Man ist gespannt, was ihm die Stadtarchitektur Dortmunds für Fotos entlockt.
Zumindest ist es allemal eine Ehre, dass Dawson seine beiden Ballettjuwelen von der Dortmunder Company tanzen lässt. In Dresden, wo er beim Semperoper Ballett unter dem bereits nach London gewechselten Ballettdirektor Aaron S. Watkin viele Jahre lang kleine und große Arbeiten kreierte, ist Dawson bereits bestens bekannt. Und auch in Berlin konnte man schon zwei tolle Stücke von ihm sehen. Dass er jetzt tief in den Westen der Republik reiste, um den erwähnten Stücken den letzten Schliff zu verleihen, dient dem hervorragenden Odeur des Ballett Dortmund ebenso wie dessen aufgeschlossenem Publikum.
Und: Mit den vornehmen, in die Länge und Weite strebenden Tendu-Posen, den ausgeprägten, manchmal drehkurvigen Port-de-bras-Linien und mit den elegant sich in die Höhe verlängernden Oberkörpern ähnelt das choreografische Standardrepertoire Dawsons ein wenig dem von Xin Peng Wang. Kurz gesagt: Dawsons Stil passt ganz vorzüglich zur von Wang geprägten Truppe.
Oder, wie es Sturm sagt: „Selbstbewusst das Brustbein nach vorne zu schieben und zu wachsen“, ist Kernbestandteil des Dawson-Stils, auch und gerade in Krisen, wie damals während der Covid-19-Pandemie.
Den Großteil der Einstudierung übernahm in Dortmund die lizensierte Dawson-Assistentin Christiane Marchant, die auch die erste Gesprächspartnerin Sturms in der Matinee ist. Sie darf zunächst von sich erzählen: Mit 7 Jahren sah sie eine Sendung („L’age heureux“, „Das Alter des Glücks“) mit den Ballettratten der Pariser Opéra. Also mit den Ballettkindern, die man in Frankreich „die kleinen Ratten“ nennt, weil ihre auf den Fluren schnell tapsenden Füßchen wie das Trabbeln von Ratten klingt. Die kleine Christiane beschloss jedenfalls: Ich möchte auch eine Ratte werden – und sie wurde eine, wenn auch nicht in Paris.
Nach ihrer Karriere als aktive Tänzerin unter anderem bei Maurice Béjart in Brüssel und bei John Neumeier in Hamburg begann die gebürtige Belgierin 1985 ein Studium von Germanistik und Italianistik in Venedig. Nebenbei gab sie Ballett-Training. Mit einem Diplom für die Sprachen in der Tasche, begann sie zwei Jahre später beim Hamburg Ballett eine Karriere im Bereich der Pressearbeit und der Übersetzungen. 1989 begann sie ein Ausbildungsprogramm zur Ballettlehrerin in den USA, das sie 1991 abschloss.
Es folgten verschiedene Stellen als Trainingsleiterin und Ballettmeisterin in Europa. Als Erste Ballettmeisterin in Antwerpen beim Royal Ballet of Flanders lernte sie David Dawson kennen. Er engagierte sie, ohne sie zu kennen, um als seine Assistentin zu arbeiten: „Du hast Augen, und du hast Erfahrung“, befand er als Qualifikation. Dieser Vertrauensvorschuss rentierte sich für beide – und Marchant arbeitete häufig als Dawsons Assistentin, übernahm auch Einstudierungen bei anderen Ensembles. Schließlich ging sie für ihn in die Freiberuflichkeit, um als seine Assistenz zur Verfügung zu stehen.
„Präzision als Markenzeichen von Dawsons Stil“ – auf diese Formel können sich die beiden Frauen einigen. Und mit dieser Präzision übte Marchant nun die zwei benannten Stücke in Dortmund ein, wobei für die letzten beiden Wochen David Dawson persönlich anreiste: um für den letzten Schliff zu sorgen.
Als die Proben Mitte Februar begannen, so Christiane Marchant, waren die Bäume im Park rund ums Ballettzentrum Westfalen kahl und nackt. Aber jetzt tobt dort der Frühling – und ein wenig ist es, als fruchte die eigene Tanzarbeit auch in der Natur.
Für die Tänzerinnen und Tänzer – auch Helene Sturm verzichtet wohltuenderweise auf den Schluckauf mitten im Wort, also auf das Gendern – hat Marchant nur lobende Worte: „Sie geben sich total hin.“ Ihre Arbeit mit ihnen beschreibt sie so: „Erstmal die Schritte zu lernen, dann die Musik dazu zu lernen, und dann immer weiter zu gehen.“
Und: „Wenn sie die Arbeit lieben, ist es leicht.“ Bei den Proben, so Helena Sturm, habe sie öfters das Wort „LIEBE!“ ausgerufen, um die Tänzer in die richtige Gefühlshaltung zu bringen. Marchant bestätigt: „David spricht sehr oft über die Liebe.“
Aber letztlich bedeutet die Arbeit hier vor Ort, dass die Tänzer eine neue Art lernen, sich zu bewegen. Und dabei könne ihnen schon mal das Herz überlaufen… Christiane spricht davon, dass Herz müsse „platzen“, aber im Deutschen sagt man eher, dass es überläuft vor so viel Gefühl.
Wie der derzeitige Probenstand das fasslich machen kann, zeigt ein Auszug aus „Metamorphosis“ mit Sae Tamura und Guillem Rojo i Gallego. Der Paartanz beginnt mit der Frau vorne links und dem Mann hinten rechts – und dass sie sich finden, ahnt man von Beginn an.
Denn Dawson ist ein Meister der Situationsdramatik. Die Spannung, die zwischen den beiden Individuen herrscht, muss von den tänzerischen Interpreten verkörpert und mit ihrer Persönlichkeit gefüllt werden. Sae Tamura, eine wunderbar starke, dennoch feinfühlige Tänzerin, steht hier wie eine Eins in der Choreo. Und Guillem Rojo i Gallego mit seiner edelmütiger Eigenwilligkeit vermag es, mit stringenten Bewegungen ihr ein geradliniges Input zu vermitteln. Ein fantastisches Tanzpaar!
Schließlich sind auch die choreografischen Eigenheiten hier typisch für Dawson. Blitzschnell gleitet Tamura unter den Händen von Rojo i Gallego über den Boden, in die Luft, wird empor gehoben, gedreht, gewirbelt, gezwirbelt, wieder zu Boden gebracht. In einer elegischen Spagat-Hebung sehen wir die Tänzerin kopfüber von allen Seiten; der Tänzer muss sie drehen, mit ihr gehen, als habe sie das Gewicht eines Wattebauschs. So fluffig sieht sie in der Tat aus.
Sehnsuchtsvoll schauen sie nach oben, eine erhobene Hand signalisiert die Bitte um Zukunft. Mal flüstert das Mädchen ihrem Galan etwas ins Ohr, dann wieder posieren sie mit Schritten der Gemeinsamkeit für ein positives Denken.
Schließlich trägt er sie von dannen, kopfüber ruht sie hoch über ihm. Transzendenz in Tanz gefasst – selten sieht man das in so schöner Vollkommenheit.
Dass ihr Tanz hier einen angenehmen Hauch von Béjart im Ausdruck hat, mag an der Schulung durch Christiane Marchant liegen. Und es passt ganz wunderbar zu Dawsons gedrechseltem Stil, dieses Stück expressive Plastizität.
Am Piano reüssiert live, mit Nachdruck und Zartgefühl, Ana-Maria Dafova mit der Partitur des Minimal-Guru Philip Glass. Aber der Hinweis von Helena Sturm, dass so ein Probenklavier im Ballettsaal nicht ganz den Klang des Flügels in der Akustik eines Opernhauses haben kann, wird durchaus goutiert.
Erst jetzt betritt auch David Dawson das Studio. Damit hat er ein optimal angewärmtes Publikum! Herzlich bewegter Applaus empfängt ihn.
Helene Sturm befragt ihn nach seinen Intentionen. Die Tänzerinnen und Tänzer, so meint, sie gehen für ihn an ihre Grenzen und finden sich neu in dieser außergewöhnlichen Bewegungsqualität. Aber was bedeutet Choreografie generell für den Choreografen Dawson?
Seine Antwort ist so ehrlich wie frappierend: „Ich möchte Dinge machen, die ich selbst ansehen möchte.“
Dieser Drang ist der richtige eines schöpferischen Menschen. Es geht nicht in erster Linie darum, Geld zu verdienen oder andere Menschen zu bespaßen oder sich bejubeln zu lassen oder die Langeweile zu vertreiben. Es geht darum, etwas in die Welt zu bringen, das man selbst vollauf befürworten kann.
Guter Geschmack gehört dazu, aber viel mehr auch noch das Wissen um die Präferenzen im Leben und in der Kunst. Was ist einem warum wichtig? Darum eben muss man es zeigen, und aus keinem anderen Grund.
Die subjektive Ehrlichkeit ist ein Qualitätsmerkmal, das gilt für die Kunst wie für die Kunstkritik. Andere Kriterien für Qualität gibt es natürlich auch, aber nur Technik, Ästhetik, Trendgeschehen reichen nicht aus.
Für David Dawson ist es auch bedeutend, „Dinge, die hilfreich sind im Leben, auch jenseits der Realität, zu zeigen.“ Das Wort „Schamanentum“ fällt nicht, aber wer jemals ein Konzept tänzerisch umgesetzt hat, wird wissen, warum es sich hier nah anbei befindet.
Dawson wollte schon während seiner Ausbildung zum Tänzer Choreograf werden. Das unterscheidet ihn von vielen, die eigentlich nur Tänzer sein wollen, und die dazu, weil sie im Anschluss an die Tänzerkarriere beschäftigt sein wollen, auch choreografieren.
Dawsons Drang zur schöpferischen Kunst ist echt, und das macht seine Kunst so authentisch.
Seine Vision ist das, was wir von ihm an Arbeit sehen können. Konzept und Bühnenumsetzung entsprechen einander, und auch die Musik ist, wie Helena Sturm bereits zuvor anmerkte, eng mit seinen Choreografien verwoben.
Jetzt will sie von Dawson noch wissen, ob es einen speziellen Moment gibt, etwa im Probenprozess, der für ihn besonders aufregend sei. Seine Antwort hier mag von ihrer Erwartung abweichen und sie überraschen, aber Dawson ist wieder echt und authentisch, unverstellt und glaubhaft: „Die Premiere! Die Premiere ist immer sehr spannend, weil man sieht, ob man es geschafft hat, was man wollte, nämlich die richtige Form für den Inhalt zu finden.“
Dass es bei Kunst immer vor allem um die Form-Inhalts-Beziehung geht, muss man Dawson also nicht sagen. Seine Bildung ist entsprechend, und auch Helena Sturm fiel auf, dass er bei der Probenarbeit auch mal in philosophisch-poetische Äußerungen verfällt.
„Creating is difficult“, zu kreieren ist schwer, sagt er zudem ganz offen, gibt also zu, dass die eigentliche handwerkliche Arbeit, die Transpiration als Choreograf eben kein Kinderspiel ist.
Und er führt aus: „Man hat mit Menschen zu tun, nicht mit Farben wie ein Maler oder mit einem Klavier wie ein Komponist.“ Natürlich sind lebendige Menschen ein Stück weit komplizierter als ein Tupfer Farbe. Und dann kommt im Ballett, zumal im durchorganisierten Staatstheaterensemble, laut Dawson der Zeitdruck dazu.
Nie kann man sagen: Lasst uns die Premiere um zwei Wochen verschieben, dann habe ich nicht das Gefühl, dass wir zu wenig Proben hatten. Aber immer müssen die Kreation und ihre ausgefeilte Einstudierung auf den Punkt genau an einem Abend premieren, der zumeist mindestens ein Jahr zuvor festgelegt wurde. Und wenn es nicht möglich ist, am Stück mehrere Wochen zusammen zu arbeiten, wird bruchstückweise kreiert oder einstudiert, mit größeren zeitlichen Lücken oder auch mit den Theaterferien dazwischen. Nicht eben einfach.
Nur der Zeitdruck als Journalist, aktuell und also sofort zu berichten, mag noch größer sein.
Was David Dawson aber sicher durch all diese Unwägbarkeiten trägt, ist seine „LEIDENSCHAFT“, wie er sie als deutschen Fremdwort im Englischen auf deutsch benennt. Sie trägt ihn durch die ganze Kreationsreise, und sie begleitet ihn auch von Kreation zu Kreation durch sein unstetes Leben als Choreograf.
„Leidenschaft“, „Sehnsucht“, „Schicksal“, „Liebe“ – Dawson sagt, er spreche zwar nicht gut Deutsch, aber er tue es, wann immer er es könne. Solche Schlüsselwörter aus der abendländischen Kulturgeschichte, die durch die deutsche Romantik geprägt worden sind, beherrscht er sehr gut, und man ist ihm dankbar, dass er sie als deutsche Originalvokabeln in den Ballettsälen der Welt bekannt machen.
Und noch ein erlesenes Bonmot hat David Dawson für uns parat: „Das Wissen in dir hilft dir immer.“ Er meint nicht das oberflächlich aufgeschnappte Häppchen-Wissen, sondern jene Kenntnisse, die man verinnerlicht hat und die man nachts, wenn man aus dem Schlaf geweckt wird, parat hat.
Dawson weiter, um seine Beziehung zum Ballett zu verbalisieren: „Ballett ist eine Sprache, und mit dieser kann man arbeiten.“ Schöner hätte ich es auch nicht sagen können.
Lassen wir uns kurz erinnern: Dawson hat viele kurze, lange und sehr lange Stücke geschaffen und ist als Jahrgang 1972 schon sehr weit gekommen. Und unter anderem erhielt er in Moskau den Prix Benois de la Danse, den bedeutendsten Preis im Ballett, den Ballett-Oskar, der leider seit der verhängnisvollen Spaltung der Tanzwelt in Ost und West seit dem Februar 2022 sozusagen als Ganzes historisch geworden ist.
Dawson hingegen kreiert ungebrochen weiter. Und das ist gut so. Sein Stil ist noch längst nicht erschöpft, und seine Neugier auf bedeutende, manchmal auch skurrile Themen entfacht immer wieder Flammen der Begeisterung in seinen Zuschauern.
Dawsons erstes bedeutendes Ballettstück ist bereits ein gutes Beispiel für die Haltbarkeit seiner Stücke. „A Million Kisses to my Skin“ („Eine Million Küsse auf meiner Haut“) entstand zu Bachs erstem Klavierkonzert im Jahr 2000 in Amsterdam. Dynamisch und in Posen, exaltiert und innig verschlungen zeigen darin zwei Paare, deren Protagonisten auch solistisch brillieren, was die Verliebtheit als Einbruch ins alltägliche Dasein mit ihnen macht. Aber geht es nur um die irdische Liebe? Oder befinden sich die Tanzenden im Paradies? In welcher Art von Garten Eden dann? Das Stück hat euphorisch-sportive Qualitäten und ist ein Renner bis heute, es verlor seit seiner Uraufführung keinen Funken Esprit.
Acht Jahre lang bastelte David Dawson dann an seinen Plänen zu einer modernen Version des romantischen Ballettklassikers „Giselle“; in Dresden, wo später auch seine magisch-modernene Version von „Tristan + Isolde“ und seine schwungvoll-ätherische Fassung von „Romeo und Julia“ premierten, feierte er ebenfalls viele Jahre lang Triumphe damit. Einer der Interpreten des Albrecht war damals Raphael Coumes-Marquet, und er ist heute auch ein lizensierter Coach, um Dawson-Stücke einzustudieren.
In Dortmund ist er für die Einstudierung des zweiten Stücks verantwortlich, „Affairs of the Heart“. Die „Herzensangelegenheiten“ sind betont der Liebe, also der erotischen Liebe, gewidmet, und fünf Paare zeigen die Vielfalt und die Möglichkeiten zur Horizonterweiterung, die die Liebe gewährt.
Es wurde im März 2022 im Abend „Passagen“ beim Bayerischen Staatsballett uraufgeführt, die Assistenten waren Marchant und Coumes-Marquet. Marjan Mozetich komponierte ein Konzert gleichen Namens („Affairs of the Heart“) für Violine und Streicher, und die Geige erklimmt darin höchst konzis ihre einsamen Gipfelwelten. Trauer mischt sich in die Klänge, aber auch jene Melancholie, die der Erotik sehr zuträglich ist.
Die großartige Kostprobe, den zweiten Satz dieses Konzerts, tanzten, mit nobler Anmut und aufregender Ernsthaftigkeit: Sae Tamura, Ekaterine Surmava und Daria Suzi von den Damen sowie Javier Cacheiro Alemán, Guillem Rojo i Gallego, Simon Jones, Márcio Mota und Maksym Palamarchuk von den Herren.
Es sind brillante Schritte einer utopischen Gesellschaft, die wir hier erleben, es geht ums Miteinander und auch um die verschlungenen Pfade dorthin.
Javier Cacheiro Alemán als Vortänzer erweist hierin einmal mehr seine sinnliche Ballettqualität, ausdrucksstark und angemessen gezügelt für die Stilisierung, in der Dawson schwelgt, als sei sie seine zweite Natur.
Am Ende des zweiten Satzes bleibt er mit Daria Suzi allein auf der Tanzfläche, und ihr Pas de deux strotzt nur so vor schwierigen Hebungen und Drehhebungen. Mann und Frau, Frau und Mann korrespondieren mit jedem Atemzug, mit jeder kleinsten oder auch großen Bewegung.
Der Abgang erfolgt mit einer schnellen Hebung, mit der es auf zu neuen Taten geht. Was für ein Hoffnung stiftendes Stück!
Und im Publikum sehen wir beglückte Gesichter: Die Tanzkunst wird vollauf verstanden. Kann es etwas Schöneres geben?
Gisela Sonnenburg
Weitere Texte zu David Dawson hier im Ballett-Journal.
Der Online-Stream ist noch bis zum 13.04.24 kostenlos abrufbar.
Fotos zur Premiere am 13.04.24: