Der wilde Reiter oder Der Stern von Stuttgart „Verführung!“ Friedemann Vogel tanzt den „Bolero“ von Maurice Béjart beim Stuttgarter Ballett – dazu hier ein Interview mit ihm

Friedemann Vogel ist der Star

Unübersehbar erotoman: Der schöne Friedemann Vogel in „Bolero“ von Maurice Béjart – eine Jahrtausendpartie für großartige Tänzer, ob männlich, weiblich oder sonstwas – Hauptsache, schwer sinnlich! Foto: Stuttgarter Ballett

In der kommenden Premiere beim Stuttgarter Ballett gibt es – wiewohl diese ein Vierteiler ist – eine lang erwartete Sensation sowie eine kontinuierliche, satte Steigerung zu erleben. „Verführung!“ heißt der Abend denn auch – und in jedem Fall wird man dazu verführt, bis zur letzten Sekunde zu bleiben und dann wahrscheinlich erst mal tief durchzuatmen. Sehr tief. Denn Friedemann Vogel wird mit dem „Bolero“ von Maurice Béjart für ein absolutes Highlight der aktuellen Tanzgegenwart sorgen (siehe Interview weiter unten).

Dabei beginnt das Programm mit recht experimentellem Temperament: Das erste Stück ist eine Uraufführung von Katarzyna Kozielska namens „Dark Glow“ – wer oder was „dunkel glüht“, bleibt abzuwarten. Wahrscheinlich geht es um das Lebensgefühl ehrgeiziger junger Menschen. Immerhin tanzen die Primaballerinen Elisa Badenes und Alicia Amatriain in dem Werk ihrer hier zum dritten Mal choreografierenden Tanzkollegin mit – beide Stuttgarter Startänzerinnen zugleich auf der Bühne zu sehen, ist eine willkommene und gar nicht mal so häufige Gelegenheit für ihre Fans.

Die Musik dazu von Gabriel Prokofiev ist ebenfalls eine Uraufführung – der noch junge britische Komponist, der davon zehrt, der Enkel des genialen Sergej Prokofiev zu sein, arbeitete auch schon mit den vinyllastigen Methoden von DJs zu Orchester. Man muss wahrscheinlich technik- und fortschrittsgläubig sein, um die Kunst von Kozielska und Prokofiev wirklich genießen zu können. Empfindsame nehmen bitte Ohrenstöpsel mit oder gehen derweil einen Sekt trinken!

Der „Faun“ von Sidi Larbi Cherkaoui ist dann wieder ein unbedingt sehenswerter, sehr moderner Pas de deux zur bekannt-beliebten Musik von Claude Debussy. Die wunderbar zielsichere Hyo-Jung Kang tanzt hierin ganz ohne Spitzenschuh ganz lasziv mit dem starken Pablo von Sternenfels – endlich kommt Kang mal wieder zum Zuge! Im „Faun“ darf sie über die Bühne purzeln wie ein Kind, aber auch mit der Lüsternheit einer Erwachsenen agieren, mal mit und mal ohne hinterrücks verschränkt-verknotete Arme – eine sehr spannende Partie für jede klassische Ballerina, die mehr will. Der indisch-orientalisch angehauchte Esprit von Cherkaoui wird das wolllüstige Tänzerpaar zudem über alle technischen Klippen tragen…

Darauf folgt – ein Wechselbad der Gefühle ist das! – ein Stück von Marco Goecke, welches ebenfalls (wie der „Faun“) indirekt auf die Ballets Russes referiert, allerdings, um sich von ihren Vorbildern kräftig freizustrampeln: „Le Spectre de la Rose“, der Geist der Rose, den einst Mikhail Fokine nach der ohne Ballett schon damals etwas altertümlich schmeckenden „Aufforderung zum Tanz“ des ach so romantischen Komponisten Carl Maria von Weber zur Uraufführung brachte – und der seither Ballerini von Nijinsky über Nurejev bis zu Rainer Krenstetter aufblühen lässt – wird hier auf roten Rosenblütenblättern vor dunklem Grund in den üblichen Goecke-Kostümen (obenrum nackt oder scheinbar nackt, untenrum Hosen, hier mal blütenblättrige) und natürlich in der üblichen Goecke-Manier agieren. Also mit flatternden Armen, zittrigen Händen, ruckelnden Körpern und mit Sprüngen, als seien die Beine gefesselt. Mann und Frau sind hier, jeder für sich, vom Rosengeist erfasst bzw. stellen ihn dar. Mit androgyner, leicht zwanghafter Spielfreude. Ein ballettöses Loblied der Dekadenz ist das, ganz kess, ganz neckisch – und gerade richtig in AfD-Zeiten, weil deutlich gegen das nur gebärfreudige Becken gerichtet!

Friedemann Vogel ist der Star

Der Männer-Corps ist um ihn versammelt, da beginnt er zunächst ganz zart mit einer Handbewegung, um sich dann immer weiter zu steigern… Friedemann Vogel im „Bolero“ von Maurice Béjart. Foto: Stuttgarter Ballett

Und dann, ja dann endlich erscheint er, Friedemann Vogel, der eigentliche Stern von Stuttgart, in einer seiner absoluten und überhaupt nicht zu beanstandenden Glanzpartien: als Hauptakteur im erotisch-ekstatischen „Bolero“ von Maurice Béjart (1907 – 2007), der sich selbst und allen bedeutenden TänzerInnen, die diese Partie schon mit viel heißem Atem und viriler Ausdruckskraft tanzten, solchermaßen zur Unsterblichkeit verhalf. Im Folgenden ein Interview mit Friedemann Vogel zu dieser Rolle.

Ballett-Journal: Haben Sie schon Erfahrung mit dem „Bolero“ von Maurice Béjart? Was ist das besonders Schöne und was ist das besonders Schwierige daran?
Friedemann Vogel: Maurice Béjarts Bolero habe ich ungefähr 16 Mal getanzt: beim Stuttgarter Ballett und mit dem Ballet de Santiago de Chile. Jede Vorstellung ist aber anders und einzigartig. Das Schöne an diesem Stück ist sicherlich die sich immer steigernde Musik, die einen in einen tranceartigen, aber auch rauschhaften Zustand kommen lässt. Die Schwierigkeit besteht darin, dass man dermaßen gut vorbereitet sein muss, dass man sich fallen lassen kann und die komplizierten Abfolgen sich automatisch im Körper abspielen. Auch der Aufbau muss sehr gut durchdacht sein, damit es sich am Ende anfühlt wie ein „wild ride“ (ein wilder Ritt) – für mich und für das Publikum.

Ballett-Journal: Welche Gefühle weckt das Stück in Ihnen?
Friedemann Vogel: Trance, Ekstase, Rausch: Bolero ist ein Stück, das man jeden Tag tanzen könnte und bei dem man bei jeder Vorstellung neue Facetten in sich und im Stück entdeckt.

tanzt seit 1994 in Hamburg

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Ballett-Journal: Ist es ein seltsames Gefühl, etwas zu tanzen, das auch mit einer weiblichen Besetzung – vor allem mit Maja Plisetzkaja oder auch mit Polina Semionova – Furore machte?
Friedemann Vogel: Als ich das Stück zum ersten Mal tanzte – 2011 – habe ich mir als Vorbereitung verschiedene Aufzeichnungen angeschaut, um mich inspirieren zu lassen: Jorge Donn – zweifelsohne einer der ganz großen Interpreten dieses Stückes – Marcia Haydée, Sylvie Guillem, Richard Cragun und natürlich die Plisetzkaja. Dabei war es eigentlich ganz egal, ob die Hauptrolle von einem Mann oder einer Frau getanzt wurde. Dann musste ich an meiner eigenen Interpretation arbeiten. Bolero ist einfach ein Solitär und es ist wichtig, den eigenen Zugang zu finden. Man ist „ausgestellt“ auf dem Tisch und man kann nichts kopieren. Es muss authentisch sein und einem selbst gehören.

Ballett-Journal: Haben Rollen wie der „Onegin“, den Sie vorzüglich interpretieren, irgendwie auch mit solch einer Aufgabe wie im „Bolero“ zu tun?
Friedemann Vogel: Jegliche Rolle, die man erarbeitet und erlebt, bringt einen weiter – Onegin genauso wie Bolero. Gerade bei so einem Solostück kommen die Erfahrungen, die man in allen Rollen gemacht hat, zum Vorschein.

Ballett-Journal: Haben Sie sich mit besonderen Maßnahmen auf diese Partie vorbereitet?
Friedemann Vogel: Es gibt Aufschriebe von allen Schritten: das ist fast vergleichbar damit, eine sehr, sehr lange Telefonnummer auswendig zu lernen. Diese Aufschriebe muss man studieren! Dann muss der Kopf die Informationen und die Zahlen an den Körper weitergeben, damit man sich am Schluss im Scheinwerferlicht völlig gehen lassen kann.

Friedemann Vogel ist der Star

Auf zur Ekstase! Der „wilde Ritt“, den Friedemann Vogel verspricht, ist Weltkunst, und es ist eine absolute Sensation, wenn dieser Stern von Stuttgart ihn im „Bolero“ von Maurice Béjart tanzt! Foto: Stuttgarter Ballett

Ballett-Journal: Mit wem haben Sie die Einstudierung erarbeitet und wie verlief die Zusammenarbeit?
Friedemann Vogel: Zunächst mit Gil Roman vom Béjart Ballet Lausanne. Hier in Stuttgart ist Tamas Detrich mein Ballettmeister, der durch seine langjährige Erfahrung mit Béjarts Balletten das Stück in- und auswendig kennt. Eine unvergessliche Zeit hatte ich auch mit Marcia Haydée in Chile, als wir viel über Maurice Béjart gesprochen haben – was seine Vision war, was er sich vorgestellt hat, über diese Person auf dem Tisch. Da ich als Kind Marcia in dieser Rolle öfters erlebt hatte, war es ein tolles Erlebnis, mit ihr an dem Stück zu arbeiten.

Ballett-Journal: Ich danke Ihnen sehr für diese Antworten!
Gisela Sonnenburg

Lesen Sie hierzu bitte auch:

www.ballett-journal.de/die-totale-erotisierung/

Friedemann Vogel ist der Star

Alicia Amatriain tanzt in Stuttgart ebenfalls – alternierend mit Friedemann Vogel – den „Melodiepart“ im „Bolero“ von Maurice Béjart. Und begeistert auch! Foto: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Termine siehe „Spielplan“

www.stuttgarter-ballett.de

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