Die Kunst des Liebens im Ballett Kurz vorm Erich-Fromm-Preis für John Neumeier und dem Florenz-Gastspiel vom Hamburg Ballett noch ein Mahler-Paket: von der Neubesetzung der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ bis zum „Lied von der Erde“ in der 217. Ballett-Werkstatt

Die Dritte, hungernde Journalisten und das Lied von der Erde

Eine neue Besetzung, eine neue tolle Interpretation: Hélène Bouchet und Carsten Jung im sechsten Satz der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Mit langen Schritten, irgendwie entrückt und doch zugleich ganz erdverbunden, schreitet die sinnliche, außergewöhnliche Primaballerina Hélène Bouchet in ihrem bordeauxroten Trikot mit Rückendekolleté die Rampe ab. Von rechts nach links, in Zeitlupe, erotisch und selbstbewusst. Sie wirkt anmutig, aber nicht zerbrechlich. Sie ist standfest. Ein Engel zum Dranglauben. Bumm, bumm, bumm, bumm – die vom Orchester noch kräftig untermalten Paukenschläge, mit denen die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ von John Neumeier nach zwei Stunden endet, scheinen von tiefstem Schicksal zu künden. Von Ewigkeit. Von den Grundgefühlen der menschlichen Existenz. Von den Sternen. Von Liebe und vom Verlassensein. Von Leben und von Tod gleichermaßen. Von Hoffnung wie von Transzendenz. Von Abschied auch. Aber ebenso von der Freude auf ein Wiedersehen, irgendwann, irgendwo – vielleicht in der Hamburgischen Staatsoper oder auf einer der vielen Tourneen, auf denen das Hamburg Ballett dieses berückende Großkunstwerk zeigt.

Die nächste Station damit ist übrigens Florenz, im Februar 2017 – bis dahin war Neumeiers „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ bereits in 64 Städten zu sehen.

Die fortan vom Hamburg Ballett benutzte musikalische Einspielung ist übrigens eine feinfühlige unter dem Dirigat des Neumeier-Freunds Leonard Bernstein mit den New Yorker Philharmonikern von 1961. Sie ist weicher, sozusagen zärtlicher und gefühlvoller als beispielsweise die puristische Interpretation von Pierre Boulez, und sie fasst die einzelnen Sätze der Sinfonie bewusst durch ähnliche Intonation wie mit einer Verklammerung zusammen. Leichter, more sophisticated und auch sublimer als Boulez kommt der Bernstein einher, der auch die folgende Aufführung vom Tonband aus begleitete:

Die jüngste Aufführung in Hamburg (am 29.1.17) war die 183. Vorstellung von Neumeiers „Dritter Sinfonie“, sie war mal wieder ausverkauft, ein Jubelsturm brach los danach – und nur selten nehmen sinfonische Ballette einen derart gefangen. Neumeier, der grandiose Zaubermeister des Balletts, er ist ja darin ein Könner und ohne jeden Vergleich.

Gerade er, der das Handlungsballett emanzipierte und vom Oberflächlichkeitsgesumse zur ernst zu nehmenden Theaterkunst machte (und nicht umgekehrt), weiß auch das abstrakte Ballett tollkühn als Zugriff auf die Seele des Zuschauers zu nutzen.

Dass der Intendant und Chefchoreograf vom Hamburg Ballett wie nebenbei immer wieder neue Ideale und Idealtypen im Ballett erschafft, spricht für die hohen synergetischen Effekte seiner Compagnie.

Beim Hamburg Ballett darf und muss man sich wirklich überraschen lassen, und sollte man etwas nicht auf Anhieb verstehen, so lohnt die intensive Auseinandersetzung umso mehr.

Das gilt auch für Ballerinen, die mal nicht dem gängigen Ideal von Magerkeit und Flachbrüstigkeit entsprechen. Nicht wenige Ballettfreunde (das weiß ich aus Gesprächen) warten darauf, dass sich in der Ballettwelt insgesamt eine sichtbare Differenz zur Mode und zur Bodengymnastik eröffnet. Magersüchtige gab es seit den späten Sechzigern schließlich zur Genüge – man will auch mal wieder Fleisch am Körper sehen!

Beim Hamburg Ballett trifft man denn auch tatsächlich relativ viele junge Frauen an, die schöne Kurven haben, die individuelle weibliche Formen in ihren Tanz einbringen können – und die so auch zu einem am Natürlichen orientierten Geschmack passen.

Die Dritte, hungernde Journalisten und das Lied von der Erde

Es müssen nicht alle dieselbe Figur haben, im Gegenteil. Die Vielfalt macht das vollkommene Bild. Wie beim Hamburg Ballett bei der 217. Ballett-Werkstatt. Foto: Kiran West

Auch die Männer dürfen vom „optimal-proportioniert-sein“-Klischee bei John Neumeier abweichen. Manche haben einen sehr langen Rücken, sind so genannte „Sitzriesen“ – was beim Tanzen aber ungeheuer elegant und auf eine interessante Art charakterstark wirken kann, etwa bei Jacopo Bellussi.

Ballerinen und Ballerini müssen eben nicht immer aussehen wie die Barbie und ihr Ken!

Sie dürfen Künstler sein, Menschen mit ausgesprochen schönen Körpern, aber auch von ihrer Individualität und Ausdrucksstärke geprägt.

Das macht den großen Charme und auch die Wandlungsfähigkeit dieser Truppe aus.

Es spricht zudem für die hohe Qualität von John Neumeiers Arbeiten, dass all diese Modulationen möglich sind und eben nicht nur ein- und dasselbe Körpermaß zur großen Kunstdarbietung führt.

Weshalb sich jede Neubesetzung wirklich lohnt, weil sie auch stets eine Neuinterpretation bedeutet.

So wie mit Hélène Bouchet, die in der Neubesetzung, wie eingangs beschrieben, statt Silvia Azzoni den „Engel“ tanzt: im fünften Satz und als Liebende zu Beginn und am Ende des sechsten Satzes.

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Hélène Bouchet kommt aus Cannes in Frankreich, tanzt aber schon seit 1998 beim Hamburg Ballett. Sie ist eine der wichtigsten Musen von John Neumeier – und eine wunderbare Femme fatale! Foto: Kiran West

Sehr lebendig, sehr lebensfroh, sehr frisch macht sie das – das Apollinische hat bei Bouchet gleichsam eine schwebend-sinnliche Note, ist nicht nur ätherischer Natur.

Aber auch Carsten Jung als Hauptperson der „Dritten“ überrascht. Ist er doch im ersten Satz angemessen stark bis zur Sturheit, intensiv und aggressiv wie ein Bär und so energiegeladen wie ein Pionier.

Aber: Jungs Ports de bras sind dabei so sanftmütig und lieblich, so fließend und fliegend, dass man schier ausrasten könnte vor Begeisterung. Unvergesslich, dieser Anblick: So ein souveräner Kerl mit einem Sixpack bis zum Anschlag – und dann diese anmutigen, aber sehr präzise durch die Luft wehenden Arme und Hände. Wundervoll!

Jung ist weniger der Außerirdische (wie Alexandre Riabko in dieser Rolle) als vielmehr der Anachronist aus der vergangenen Zeit. Der Urmensch an und für sich. Er verkörpert damit etwas, das in uns allen steckt: das Neandertalertum im besten Sinne. Er will zurück zu den Wurzeln, er sucht das Gute, das Haltbare, das Wertvolle. Und er erforscht die Moderne.

Manchmal aber wird er auch wieder zum kindhaft jungen Burschen, der erfasst wird von dem, was er sieht, von dem, was um ihn herum geschieht.

Aber ein Rest Zweifel bleibt in dieser Rollenfigur – es ist kein Allerweltstyp, der hier auf die Suche geht wie ein aus der Zeit gefallener Ritter.

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Carsten Jung vom Hamburg Ballett: Der gebürtige Thüringer tanzt seit 1994 in Hamburg und erhielt für seinen „Liliom“ (von John Neumeier) schon den Prix de Benois in Moskau. Ein Bär von einem Mann – und doch ganz sensibel! Foto: Kiran West

Dem harmonischen Anschein im „Sommer“, dem zweiten Satz, steht Jung denn auch viel skeptischer gegenüber als der „staunende Fremdling“, den Riabko in dieser Rolle verkörperte. Und wenn er im „Herbst“ auf ein Mädchen trifft – das Yaiza Coll mit entzückender Akuratesse und aufbegehrender Weiblichkeit tanzt – ist er noch stoischer als Riabko in diesen Momenten, die beinahe zu Lust führen.

So berühren sich noch nicht mal ihre Fußspitzen, als Jung und Coll einander minutenlang sitzend in die Augen schauen.

Die Missverständnisse zwischen ihnen scheinen vorprogrammiert, und der entscheidende Funke will nicht schlagen – und dennoch animiert die kleine Beziehung zwischen ihnen das verliebte Mädchen, also Yaiza Coll, zu einem wirklich ganz entzückend dargebotenen Solo voller kleiner Sprünge. Da fällt es schwer zu verstehen, warum unser „Held“ nicht darauf einsteigt, ihr etwa um den Hals fällt, sie in den Arm nimmt, mit ihr weiter hüpft…

Aber er bleibt zurückhaltend, voyeuristisch, tatenlos… er ist der zum Zuschauen Verdammte, hat sich selbst dazu verdammt.

Auch die erneute Begegnung mit Karen Azatyan, den er schon aus dem ersten Satz, dem atemberaubenden „Männerballett“ der „Dritten“, kennt, kann daran nicht viel ändern.

tanzt seit 1994 in Hamburg

Anna Laudere tanzt in der Zweitbesetzung der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ im vierten Satz, in der Erstbesetzung in dieser Saison war sie im dritten Satz zu sehen. Eine Primaballerina mit großer Strahlkraft! Foto: Kiran West

Anna Laudere tanzt in dieser Neubesetzung statt Hélène Bouchet mit den beiden Männern die „Nacht“, die Urzelle dieses ganzen Mahler-Balletts. Neumeier kreierte diesen vierten Satz ein Jahr vor den anderen Sätzen – und in Lauderes Interpretation bildet ein fast pantomimischer Monolog die Eröffnung. Sie scheint sich mit Anfeindungen auseinander zu setzen, sie wird von Sorgen und Ängsten gepeinigt, denen sie sich aber stellt und die sie mit energischen Schritten schließlich verscheuchen kann.

Aber dann tanzen die beiden Männer in ihr Leben – und obwohl Anna Laudere bzw. ihre Rolle zunächst Schutz bei den Jungs sucht, bleibt die Sehnsucht nach einem anderen Leben vorherrschend.

Die schönen langen Beine von Anna werden ihr selbst zum Thron, wenn Carsten Jung und Karen Azatyan sie heben und langsam über die Bühne tragen, während sie mit sanft gebeugten Beinen in der Luft zu stehen scheint. Ein Anblick, den man wirklich nicht missen möchte!

Am Ende stehen sie dann eng beieinander, die drei, wie eine menschliche Mauer im Wind des Lebens, und heben träumerisch gemeinsam die rechten Hände.

Zu den ersten „Bimm bamm“-Gesängen des Kinderchores aus dem kurzen fünften Satz löst sich diese Dreierbeziehung auf, Azatyan und Laudere gehen langsam ab, der „Held“ bleibt, sucht weiter.

Erst die himmlische Liebe des selbstvergessenen Engels weckt in diesem seltsamen Menschen das Innerste.

Wobei Hélène Bouchet es versteht, mit wenigen Blicken gleich zu Beginn ihres Solos eine Beziehung zum „Helden“ aufzubauen.

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Erst die Liebe eines himmlischen Wesens erweckt das Innerste in ihm zum Leben: Das liebende Paar Hélène Bouchet und Carsten Jung im sechsten Satz der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Jetzt, so scheint es, kann er aufatmen und all die Wege, die er für sich als falsch empfand und die er dennoch ging, vergessen.

Erreichbar ist dieses kindhafte Wesen für ihn aber noch nicht, noch steht er somnambul daneben – aber so neckisch, wie Hélène Bouchet auf einem Bein hüpft, sich dreht, wieder einen Schritt hüpft, sich wieder dreht, so vielversprechend sind sicher die Ideen, die ihm kommen.

Als er dann von ihr träumt, erscheint ihm dieses Himmelskind, dieses Wunderwesen Frau, erneut, dieses Mal ist sie reif, erwachsen geworden – und nach einem stimmungsvollen, ja erwartungsheischenden Solo weckt sie ihn mit ihrem Zeigefinger, als habe die Schöpfungsgeschichte eine neuzeitliche Göttin gefunden.

Ihr Pas de deux ist dann voller Anspielungen auf eheähnliche Zusammenkünfte, und gerade weil unser „Held“ zwischendurch immer wieder eine Hand von ihr nimmt und damit seine Schüchternheit, sein Fremdeln beweist und ihr ein Stück Selbständigkeit abverlangt, fasziniert und rührt die Szene.

Sein Leben lang hat er im Grunde diese Nähe gesucht – und sie endlich gefunden. Auch wenn er sich noch immer schwer damit tut, die Liebe als Meilenstein in seinem Leben zu akzeptieren.

Denn natürlich ist dieser „Held“ ein Außenseiter – und bleibt es auch im Liebesglück. Er war es, der sich im ersten Satz waghalsig gegen den militärischen Pulk der anderen stemmte, der sich aber zeitweise zu ihrem Anführer aufschwang und doch enttäuscht von ihnen wieder abließ.

Damals, im ersten Satz, begegnete ihm auch mit Konstantin Tselikov ein weiteres Alter ego.

Tselikov ist phänomenal in dieser Besetzung. Er tanzt hier den Part, den ursprünglich Max Midinet kreierte – und er interpretiert ihn noch ganz anders als Midinet, Kiran West oder Karen Azatyan.

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Konstantin Tselikov, toll als „General“ im ersten Satz, tanzt diese Saison in beiden Besetzungen in der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ – aber eben unterschiedliche Parts. Foto: Kiran West

Tselikov reckt sich in die Höhe, mit einem Elan und einer kantigen Zackigkeit, als fühle er sich zum Militär geboren. Sein Solo kurz vor Ende des Satzes birst nur so vor Bestrebung, vor Eifer, vor Elan. Auch wenn er damit allein ist – er macht sich solchermaßen Mut.

Und, ja, zum Sprung à la Midinet habe ich genau hingesehen und vor allem reichlich recherchiert. Ergebnis: Den Attitüden-Sprung gibt es hier nicht mehr wie auch manches andere nicht, denn John Neumeier ändert an dieser Figur fast bei jeder Neueinstudierung etwas. Mein Eindruck im ersten Essay zum Thema („Menschenmacht und Götterstaub“) war genau richtig: Im Laufe der Jahre verschob sich das Gewicht von einem einzigen „Volksverführer“ („General“) hin zu gruppendynamischen Prozessen.

Neumeier ist eben unglaublich dicht am Zeitgeist, er hat das Stück hier so verändert, wie wir Vorgänge, die zu Krieg oder auch zu Faschismus verführen, wahrnehmen. Früher setzte man auf eine Einzelfigur als Volksverhetzer. Heute wissen wir, dass oftmals viele Kräfte wirken und solche Dinge auch pseudodemokratisch vonstatten gehen können.

Dennoch macht „Konsti“ Tselikov außerordentlich viel aus dieser Rolle des „Generals“, auch wenn sie im Lauf der Jahre verkleinert wurde, und er bringt eine eigene Überzeichnung mit ein, die überaus überzeugt.

Man möchte diesen ersten Satz, kaum, dass er vorbei ist, gleich noch einmal sehen… aber da bahnt sich schon mit einer lieblichen Melodie der „Sommer“ an, das Leben ist nun mal keine Wiederholung auf Knopfdruck, sondern geht weiter, immer weiter…

Mit Mayo Arii und Jacopo Bellussi sowie Madoka Sugai und Aljoscha Lenz gibt es in dieser Besetzung auch im „Sommer“ zwei neue Hauptpaare; vor allem Madoka Sugai und Aljoscha Lenz beglücken mit geschmeidig und sehr anmutig ausgedrückten Liebesgefühlen.

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Madoka Sugai ist auch oft eine Überraschung wert, so in der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“, wenn sie ihrem Partner leicht und quirlig mit einer mehrfachen Tour en l’air in die Arme springt. Foto: Kiran West

Und da springt Madoka doch glatt mit quirligen Tours en l’air in die Arme ihres Partners Aljoscha Lenz, der sie sicher auffängt und gleich weiter in eine „Fisch“-Figur hinein leitet – ganz toll sieht das aus, leicht und verliebt und vertraut. Bravo!

Die Stimmung wird dunkler… die Jahreszeit wechselt…

Und auch im „Herbst“ wartet das Hamburg Ballett mit neuen Paaren auf: Xue Lin und Florian Pohl beweisen eine hohe Qualität miteinander; immer wieder stellt man in dieser Saison ja erfreut fest, wie schön sich Pohl, der nun kein Neuling in Hamburg ist, zu entwickeln vermag. Es berührt, wie ernst und energetisch und dennoch sehnsüchtig-freundlich er im Ausdruck geworden ist. Sehr schön!

Xue Lin wirkt noch zarter, als sie ohnehin schon ist, in seinen starken Armen – ihr gelingt eine filigrane Figurierung mit weichen, aber exakten Posen. Auch schön!

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Lucia Ríos tanzt in der „Dritten Sinfonie“ in dieser Besetzung mit Dario Franconi. Schön! Foto: Kiran West

Lucia Ríos und Dario Franconi sind ebenfalls eine neue, sehenswerte Paarkombination. Beide haben Temperament, und beide haben eine sehr sinnliche Art von Eleganz. Ha, und beide kommen aus Argentinien! Toll.

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Dario Franconi tanzt die Pas de deux in der „Dritten Sinfonie“ mit Latin flair – als Argentinier eine Ehrensache. Foto: Kiran West

Bleibt noch, Marcelino Libao zu erwähnen, der zwischen den beiden Mädels Patricia Friza und Yaiza Coll eine sehr galante, sehr gute (Sprung-)Figur macht.

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Macht zwischen zwei schönen Damen einfach eine gute Figur: Marcelino Libao, der in der „Dritten Sinfonie“ angenehm auffällt. Foto: Kiran West

Natürlich erfreuen auch Tänzerinnen und Tänzer wie Sara Coffield, Nako Hiraki, Greta Jörgens und Hayley Page sowie Aleix Martínez, Leeroy Boone, Lizhong Wang und Pascal Schmidt – aber immer alle anderen auch im Ensemble ausfindig zu machen, ist nicht ganz einfach, zumal choreografisch in Neumeier-Balletten oft mehrere Tanzaktionen gleichzeitig auf der Bühne passieren.

Man müsste in ein Ballett wie die „Dritte“ eben doch noch öfter gehen können…

Immerhin einige schöne Auszüge daraus sah man am Vormittag des letzten Sonntags (29.1.17) in der Hamburgischen Staatsoper, in der 217. Ballett-Werkstatt seit 1973.

Wer John Neumeier noch nie hatte chinesisch sprechen hören, der konnte das bei dieser Gelegenheit. Schließlich nimmt gerade Neumeier diese andere, immer wichtiger werdende Kultur ernst!

Mit plastischen Beispielen erklärte der schön erholt aussehende Ballett-Doyen die literarischen Vorlagen chinesischer Lyrik von „Das Lied von der Erde“, das der Komponist Gustav Mahler 1908 und 1909 schöpfte – und das Neumeier 2015 in Paris als sein gleichnamiges Ballett zur Uraufführung brachte.

So konnte der in Mahlers Texten als Übersetzer angegebene Hans Bethge kein Wort chinesisch, wie Neumeier mit völlig berechtigter Süffisanz anmerkte. Aber Bethge hatte, immerhin, französische Vorlagen, und diese übersetzte und bearbeitete er nochmals.

Ich erlaube mir folgenden Hinweis:

Nach der Maßstäbe setzenden Übersetzungsdebatte der Gebrüder Grimm im 19. Jahrhundert hätte hier Wilhelm Grimm das Wort gehabt: Er plädierte für Übersetzungen als mehr oder weniger freie Nachdichtungen, während sich sein Bruder Jakob für die lineare, also die Wort-für-Wort-Übersetzung aussprach. Dieses ist sozusagen der Urstreit in der Übersetzungsdebatte auch des 20. und 21. Jahrhunderts.

Die deutschen literarischen Romantiker, zu denen die Grimms, aber auch Persönlichkeiten wie die Schlegels, Ludwig Tieck, Novalis, Eichendorff, Achim von Arnim, die Brentanos und E.T. A. Hoffmann gehörten, beschäftigten sich viel mit den interkulturellen Zusammenhängen von Ideen und Dichtungen.

Und: Sie übersetzten auch aktiv selbst, und nicht immer beherrschten sie dabei, wie später Hans Bethge, die Sprachen, aus denen sie transformierten, etwa das Dänische. Daher hatte der Streit ums Übersetzen, den die Grimms sehr fruchtbar mit sachlichen Argumenten (aber mit heißen Herzen!) führten, auch praktische Gründe – und wiederum solche Folgen.

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John Neumeier, der auch hier schön erholt aussieht, kümmert sich auch um andere Kulturen als um die, in der er lebt. Foto: Kiran West

Im Fall Bethge kann Neumeier indes auf der Ballett-Werkstatt dank seiner soliden Vorbereitung einen aberwitzigen Fehler aufdecken: „Tao“ – John Neumeier spricht dieses Wort mit für meine Ohren sehr authentischer Dehnung der Vokale aus – kann soviel wie „Porzellan“ bedeuten. Muss es aber nicht! Weil das Chinesische, wie Neumeier sagt, eine ganz andere Syntax hat als etwa das Deutsche. So gibt es keinen Plural, und ein- und dasselbe Wort oder Schriftzeichen kann verschiedene Bedeutungen haben.

Bethge „übersetzte“ jedenfalls „Tao“ mit „Porzellan“. Und weil es im weiteren Kontext um einen Pavillon ging, wurde daraus ein Pavillon aus grünem und weißem Porzellan. Eine recht absurde Übersetzung war das, denn mit „Tao“ war ganz einfach nur der Besitzer des Pavillons gemeint, dessen Name Tao war.

In der Musik von Mahler oder auch im Ballett von John Neumeier stört diese Verwechslung indes merkwürdigerweise nicht. Die textliche Poesie darin ist ohnehin surreal-naiv, und wenn darin Lampen ausgehen, wird damit ebenso vor allem eine Atmosphäre oder eine psychische Befindlichkeit angedeutet wie mit dem Porzellanpavillon. Zum Glück sind da ja keine Bühnenbilder nach gebaut worden…

Seit Dezember 2016 befindet sich dieses Ballett auch im Repertoire vom Hamburg Ballett – und die Ähnlichkeiten dieses Tanzstücks zur „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“, dem bedeutenden Neumeier-Werk von 1975, waren das Thema der 217. Ballett-Werkstatt, welche Neumeier jetzt in Hamburg abhielt.

Er wollte das eigentlich schon im November letzten Jahres, war aber gezwungen – in knapp 44 Jahren zum ersten und bislang einzigen Mal – die Werkstatt wegen einer Erkrankung ausfallen zu lassen. Längst ist Neumeier, der bald einen besonderen Geburtstag feiern wird, wieder fit – und er erfreut das Publikum sowohl mit der Erläuterung seiner Kunst wie auch mit sozialem Engagement.

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Eine Impression von der Ballett-Werkstatt am 29.1.17 in Hamburg. Foto: Kiran West

Für beides, für sein künstlerisches Werk wie auch für sein gesellschaftliches Wirken, wird er im März in Stuttgart den mit 10 000 Euro dotierten Erich-Fromm-Preis erhalten: Endlich, möchte man sagen, denn vom SZ-Kommentator Heribert Prantl über die Violinistin Anne-Sophie Mutter bis zur Politikerin Gesine Schwan erhielten schon einige Persönlichkeiten diesen Preis, ohne so viel humanistische Kreativität bewiesen zu haben wie John Neumeier.

Andererseits ist es für die ganze Ballettwelt eine große Ehre, dass ein Abgeordneter aus ihren Reihen eine so allgemein gefasste Preisung erhält. Schließlich bleiben die Ballettleute allzu oft unter sich, werden auch zu oft aus gesellschaftlichen Vorgängen ausgeschlossen, was dazu führt, dass manche von der „Käseglocke Ballett“ sprechen. John Neumeier ist der beste wandelnde Beweis dafür, dass es auch anders geht – und dass man dem Ballett mit entsprechender Offenheit auch neue Aufmerksamkeit verschaffen kann.

Die Erich-Fromm-Gesellschaft begründet ihre Wahl übrigens mit Worten, die vorzüglich zu den beiden hier noch zu besprechenden Mahler-Sinfonie-Choreografien passen: „Es sind oft geplagte, verletzte, gescheiterte Menschen, die äußerlich gebrochen erscheinen, denen John Neumeier in seinen Choreografien eine große innere Würde zu verleihen imstande ist.“

Und weiter: „Mit seinem gesellschaftlichen und sozialen Engagement hat er Außerordentliches für die Sensibilisierung und für die Durchsetzung humanen Denkens im Sinne Erich Fromms geleistet – und tut es noch immer.“

Fromm war übrigens wie Neumeier Deutsch-Amerikaner, ein Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe, der im Jahr des Erscheinens von Freuds Traumdeutung, also 1900, in Frankfurt am Main geboren wurde. Er vertrat einen demokratischen Sozialismus, und sein berühmtestes Buch ist die populärwissenschaftliche Abhandlung „Die Kunst des Liebens“, die 1956 erstmals in den USA erschien. Sie endet mit einer Hoffnung:

„Der Glaube an die Möglichkeit der Liebe als einem gesellschaftlichen Phänomen und mehr nur als einer individuellen Ausnahmeerscheinung ist ein rationaler Glaube, der sich auf die Einsicht in das wahre Wesen des Menschen gründet.“

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Die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ in der zweiten Besetzung in dieser Saison. Interessant! Foto: Kiran West

Ob und inwieweit dieser Optimismus begründet ist, sei dahin gestellt. Aber in Bezug auf Ballett passen manche Passagen dieses Fromm’schen Hauptwerkes vorzüglich. Etwa diese:

„Man kann Konzentration nicht erlernen, wenn man sich kein Gespür für sich selbst erwirbt.“

Schließlich hat Fromm auch noch Tipps für Schlaflose im selben Büchlein parat: „Jede konzentriert ausgeführte Tätigkeit macht einen wach (wenn auch hinterher eine natürliche und wohltuende Müdigkeit einsetzt), während jede unkonzentrierte Tätigkeit schläfrig macht und andererseits zur Folge hat, dass man abends dann schlecht einschläft.“

Da wird nun auch nicht jeder zustimmen, vielleicht aber hier: „Konzentriert sein heißt, ganz in der Gegenwart, im Hier und Jetzt leben und nicht, während man das eine tut, bereits an das nächste denken, das anschließend zu tun ist.“

Schließlich etwas Wesentliches zum Thema Liebe: „Es versteht sich von selbst, dass Konzentration vor allem von Menschen geübt werden muss, die sich lieben.“ Denn: „Sie müssen lernen, einander nahe zu sein, ohne gleich irgendwie wieder voneinander wegzulaufen, wie das gewöhnlich geschieht.“

Erinnert das nicht frappant an die Nicht-Liebesgeschichte unseres „Helden“ in Neumeiers Ballett „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“?!

Da ist er wieder, der nicht perfekte Mensch, dem sich große Kunst gemeinhin widmen sollte.

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Xue Lin und Florian Pohl in der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ – eine sehr feine neue Partnerschaft beim Hamburg Ballett auf der Bühne! Foto: Kiran West

Neumeier erhält den Erich-Fromm-Preis aber auch für seine soziale Ader.

In der Ballett-Werkstatt berichtete der Chef vom Hamburg Ballett denn auch von der karitativen Hamburger Einrichtung „Leuchtfeuer“, die sich 1994 als Hospiz für Aids- und HIV-Erkrankte gründete und mittlerweile für Menschen mit schweren Erkrankungen, gleich welcher Art Krankheit es ist, sorgt. Die Ballett-Werkstatt war die jährlich statt findende Benefiz-Werkstatt mit verdoppelten Eintrittspreisen und Spendengelegenheit: 30 000 Euro kann John Neumeier darum dieses Mal an „Leuchtfeuer“ übergeben.

„Alle meine Mitarbeiter finden es wichtig, dass wir unsere Kunst nutzen, um anderen Menschen zu helfen“, so Neumeier, der im dunkelblauen Cardigan über hellblauem T-Shirt zur Navy-blauen Hose mit knallweißen Schuhen optisch etwas besonders Frisches ausstrahlte.

Leuchtfeuer, mit über 50 Angestellten und rund 70 Ehrenamtlichen längst keine kleine Einrichtung mehr, plant für 2018 die Eröffnung eines neuen Hauses mit 26 Wohnungen für Menschen mit chronischen Erkrankungen. Zehn Millionen Euro werden dafür benötigt; mit 9,3 Millionen Euro steht bereits ein Großteil der Finanzierung.

Natürlich ist es ehrenvoll, hier zu spenden.

Ich möchte aber darauf aufmerksam machen, dass auch andere Projekte – auch jüngere, vor allem auch viel kleinere – finanzielle Zuwendungen nötig haben. Vom Tierschutz über den Umweltschutz bis zur sozialen Fürsorge muss heute vieles von Privatgeldern aufgefangen werden, das früher vorwiegend staatlich finanziert wurde.

Und auch im Journalismus haben sich seit den 90er Jahren die Verhältnisse drastisch verändert.

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Gerade freiberufliche Journalisten sind heute in Deutschland – im Gegensatz zu denen in vielen anderen EU-Ländern – oft derart unterbezahlt, dass man im Grunde nicht selten von einem Ehrenamt mit geringer Aufwandsentschädigung sprechen muss.

Galt früher, in der alten Bundesrepublik, das Credo, dass eine Gesellschaft ihre Kritiker braucht, um sich zu verbessern, muss man heute feststellen: Journalisten und Kritiker werden in Deutschland immer öfter als unliebsam unterdrückt und abgetan.

Es gibt zum „Trost“ eine aberwitzige Anzahl ziemlich absurder Journalistenpreise, die bei genauem Hinsehen unseriös sind (wenn auch lukrativ), und die zumeist von einer lobbyistischen Vereinswirtschaft ausgeschrieben werden, um von kritischen Themen abzulenken oder um ein prekäres oder langweiliges Verkaufsthema, von Heizpellets bis zur fluoridhaltigen Zahnpasta, in den Medien zu pushen.

Das Jobangebot für wirklich gut arbeitende Journalisten schrumpft hingegen von Jahr zu Jahr. Die Werbung und das Marketing drängen in die redaktionellen Inhalte, sollen und wollen diese unterminieren und besetzen, damit immer mehr ungesunde, unsinnige und überteuerte Produkte auf dem Markt Erfolg haben können.

Und es kann ja nicht jede kritisierende Autorin, wie die Tanzjournalistin und Yogalehrerin Wiebke Hüster, mit einem Herausgeber der FAZ verheiratet sein.

Aber die Problematik, dass viele meiner Kolleginnen und Kollegen (aus unterschiedlichen Städten und Sparten) sich von ihrer Familie oder ihrem Ehepartner „durchfüttern“ lassen müssen, nur um ihren Beruf ausüben zu können, sollte eigentlich jeden aufrechten Demokraten beunruhigen.

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Die Alternative – nämlich kostenlos erhältliche Werbeinhalte, die von den Firmen, um die es in der Berichterstattung geht,  selbst hergestellt werden – kann aber auch kein Ersatz für profunden und angemessen kritischen Journalismus sein.

War der Beruf des Journalisten früher mal einer der gängigen Traumberufe – wie Arzt, Anwalt, Stewardess, Schauspieler und, oh ja, Ballerina – so ist er heute vielerorts bereits zu einer Dauerübung in Demütigung verkommen. Von allen hier genannten Berufen ist der freie Journalist in Deutschland der mit Abstand am schlechtesten bezahlte. Und er ist auch derjenige, der am meisten über seine eigene soziale Situation schweigt!

Da ist es kein Wunder, wenn immer öfter die bezahlte Werbung oder, wie etwa bei tanznetz.de, die Public Relation die News ersetzt. Was horrende Folgen hat. Denn Werbung, auch verdeckte, kennt nur ein Ziel: den Verkauf. Nicht die Informierung.

Man erlaube mir diesen Einschub hier, denn wenn man schon mal über gesellschaftliches Engagement spricht, dann sollte man bedenken, was für Tabus es heute auch bezüglich der neueren Lücken in dieser Gesellschaft gibt.

Es ist nicht mehr so wie 1994, 1998 oder 2001.

Und nun zurück zu John Neumeier in die Hamburgische Staatsoper an diesem Sonntagvormittag Ende Januar 2017.

Mit großer Klarheit, aber nie mit Selbstüberschätzung, und mit seinem für ihn typischen herzlichen Humor erläuterte der geniale Choreograf sein Werk.

Er hat ja zum Komponisten Gustav Mahler eine lange Beziehung. Diese begann 1965 im Ballettsaal in Stuttgart: Neumeier war dort Tänzer bei John Cranko als Ballettdirektor, und der britische Starchoreograf Kenneth MacMillan ritt dort ein, um sein Ballett zu Mahlers Sinfonie „Das Lied von der Erde“ zu kreieren.

„Ich kannte die Musik von Mahler vorher gar nicht“, gesteht John Neumeier – und er war sofort fasziniert. Tatsächlich gehörte Neumeier später zu jenen, die Mahler weiter bekannt machten.

Seine erste Choreografie zu Mahler-Musik schuf Neumeier, wie er erzählte, dann 1971, als er schon Ballettdirektor in Frankfurt am Main war. Der WDR-Journalist Manfred Gräser (in den 70er Jahren waren die Kollegen von der Presse noch hoch angesehen und gut bezahlt) schrieb für Neumeier ein Libretto für das Ballett „Rondo“. Dessen Mittelteil besteht aus dem Mahler-Lied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“.

Somit war die erste Mahler-Choreografie von John Neumeier ein inniges, aber vorsichtiges Herantasten an die vielschichtige Klangwelt des Spätromantikers.

Drei Jahre später choreografierte Neumeier dann in Stuttgart die „Nacht“, den vierten Satz der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“, für eine Gala zum Angedenken an John Cranko, der ein Jahr zuvor verstorben war. Der Pas de trois „Nacht“ mit seinem langen, musiklosen Vorspiel ist also die Kernzelle dieses großen bedeutenden Ballettabends, den die „Dritte“ darstellt – und ist auch für sich genommen legendär.

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Männerpaartanz aus der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ von John Neumeier, hier der erste Satz. Foto: Kiran West

1975, nochmals ein Jahr später, kreierte Neumeier die ganze „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“, als Ballettdirektor der Hamburgischen Staatsoper in Hamburg. „Ich musste hier im Haus gegen viele Widerstände kämpfen“, erinnert er sich. Was wohl auch mit der großen Orchestrierung der Mahler-Sinfonie zu tun hatte.

Aber prinzipiell war es im mittleren und späteren 20. Jahrhundert nicht überall akzeptiert, sinfonische Musik für Ballett zu verwenden. Und dann gleich Gustav Mahler! Kenneth MacMillan flüchtete deshalb hierfür aus London ins in dieser Hinsicht damals tolerantere Stuttgart.

Das MacMillan-Werk, das Neumeier selbst damals tanzte, flößte ihm übrigens größten Respekt ein. Er hält dessen „Lied von der Erde“ für genial, sagt das Genie – und wahrscheinlich war es dieser große Respekt, der Neumeier viele Jahre davon abhielt, sich das „Lied von der Erde“ selbst für eine Choreografie vorzunehmen.

Erst fast fünfzig Jahre nach seiner MacMillan-Tanz-Erfahrung damit fühlte er sich innerlich frei genug, es zu tun.

Und es entstand ein ungeheuer intensives, schönes Werk, das MacMillan noch um Einiges an Themenvielfalt und Gefühlsreichtum übertrifft.

Aber es geht hier nicht um diese beiden Ballette, sondern um Neumeiers „Dritte“ und Neumeiers „Lied“.

Eine „gewisse Ähnlichkeit in der Struktur“ erkennt der Choreograf in den beiden Sinfonien. Und in beiden Fällen seien die ersten Sätze sehr männlich geprägt. Beides seien zudem starke „Ich-Werke“ von Mahler, in denen dessen Befindlichkeit, seine damals aktuelle Situation zum Ausdruck komme.

Als erstes praktisches Beispiel ist der Anfang der „Dritten“ zu sehen: Die Musik beginnt, mit diesen eindringlichen Fanfaren, während der Vorhang hoch geht. Die Tänzer stehen und liegen und lauschen zunächst der heftigen, aufgeregten Musik.

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Der grüne Hügel gehört zum Stück und ist nicht wegzudenken – für Gustav Mahler, dessen „Lied von der Erde“ John Neumeier „vertanzte“, war die Natur auch in seiner Musik bedeutsam. Foto von der Ballett-Werkstatt: Kiran West

Auch im „Lied von der Erde“ wird zu aufgeregter Musik gestanden, gelegen, beobachtet.

Alexandr Trusch liegt und tanzt hier mit seiner unnachahmlich virtuosen Art auch bei den einfachen Bewegungen auf dem stilisierten grünen Hügel. Diesen rollen später fünf andere Tänzer über die Bühne, als handle es sich dabei um ein Gefährt in einem surrealen Traum.

Die Atmosphäre dieser „Begegnung eines Mannes mit sich selbst“ überträgt sich auch ohne Kostüme, in Probenkleidung, ganz exzellent.

Mit Karen Azatyan tanzt Trusch einen Pas de deux, so nobel und so intensiv, als sei es eine Vorstellung.

Aber auch Marc Jubete, der im übrigen gerade in Toronto den Erik-Bruhn-Preis für eine Choreografie erhielt (herzlichen Glückwunsch!) fällt hier mit großer Feinheit im tänzerischen Vortrag auf.

An dessen Ende fängt Trusch Karen Azatyan auf – und steht mit ihm auf den Armen da, als gehöre dieser zweite Körper zu ihm. Die Selbstbegegnung, die Auseinandersetzung der Figur mit sich selbst, sie ist durch die Verdoppelung des „Ichs“ auf zwei Tänzer sichtbar.

Für den Prolog, so Neumeier, suchte er damals Musik für eine Art Rahmenhandlung. Und er entdeckte die Klavierfassung, die Mahler vom „Lied der Erde“ erstellt hatte. Die Natur, „die für Mahler fast so etwas wie ein Heiligtum war“, sollte darin sichtbar werden. Und auch, so Neumeier: „Meine Liebe zu dieser Erde, zu diesen Menschen, zu allem, was mir diese Menschen bringen.“

Darum kommt Hélène Bouchet hier mit vegetativ inspirierten Bewegungen in das Stück. Neumeier: „Ich möchte sie nicht ‚die Natur’ nennen, aber Sie dürfen das!“

Das Moment des Gebens, des Nährens wird dann von einer Trinkschale („Tasse“) symbolisiert, von der Ballerina Xue Lin getragen und Alexandr Trusch am Ende des Prologs zum daraus trinken überreicht.

Neumeiers Spätwerk, MahlersSpätwerk

Alexandr Trusch auf der grünen Wiese – wie ein Mahnmal für die Gegenwart der Vergänglichkeit. So zu sehen in den Vorstellungen von „Das LIed von der Erde“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Das „Lied von der Erde“ gilt nicht nur Neumeier als persönlichstes Werk Gustav Mahlers. Der Komponist hatte den Tod seiner kleinen Tochter zu verkraften, war auch aus Gründen des Antisemitismus in Wien gefeuert worden und hatte die Diagnose einer Herzkrankheit erhalten. Die konnte man damals noch gar nicht gut behandeln.

Als ein Freund ihm dann das Buch von Hans Bethge mit der ursprünglich chinesischen Lyrik schenkte, konnte Mahler die verschiedenen Stimmungen darin gut auf sich beziehen.

Da ist dieser Mann, der gerne Wein trinkt und der zudem gern auch dichterisch die Freuden der Betrunkenheit preist – mit einer ganz leisen Selbstironie. „Das Trinklied vom Jammer der Erde“, heißt darum der erste Satz vom „Lied von der Erde“.

Aber da ist auch, im zweiten Satz, „Der Einsame im Herbst“, der in John Neumeiers Ballett dann schlicht „Der Einsame“ heißt.

Und hier gab es ein absolutes Highlight zu sehen, das ursprünglich für die Debüt-Werkstatt eine Woche zuvor geprobt worden war und dann aus zeitlichen Gründen in der Mahler-Benefiz-Werkstatt landete. Es passte aber so vorzüglich ins Mahler-Programm, dass man es schwer vermisst hätte, zumal es auch tänzerisch eine definitive Erbauung war:

Giorgia Giani und Jacopo Bellussi – ganz hervorragend von Laura Cazzaniga gecoacht – mit ihrem Paartanz aus „Der Einsame“!

Bellussi, hoch gewachsen und von edler Gestalt, beginnt mit einem Solo, zum Publikum mit dem muskulösen Rücken stehend. Er entwickelt langsam, aber sicher, das künstlerische Profil eines Mannes, der über sich nachdenkt und sich einfühlsame Gesellschaft herbei sehnt.

Eine bessere Partnerin als die dann zu ihm kommende Giorgia Giani kann er sich aber gar nicht wünschen! Geschmeidigkeit und Grazie bei den Hebungen, Drehungen und Arabesken prägt denn auch den Vortrag der beiden; sie wirken bald völlig ineinander versunken, ohne dabei egozentrisch zu werden. Ganz große Klasse!

Arabesken, Drehungen, Hebungen – die Galanterie des Tanzes der beiden machte einfach glücklich.

Die aus Italien stammende brünette Nachwuchsballerina Giani, die schon in ihrer Zeit beim Bundesjugendballett auffiel, besticht ja ohnehin mit ihren wunderschön geführten, wohl geformten Beinen, mit eleganten Fußstreckungen, mit besonders lieblichen, zudem positionssicheren Ports de bras und auch mit einer Kopf- und Blickarbeit, die zumeist bis aufs letzte „i“-Tüpfelchen stimmt.

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Giorgia Giani tanzte zuvor im Bundesjugendballett und ist jetzt eine der neuen Hoffnungen beim Hamburg Ballett. Denn Talent und Fleiß schließen sich ja nicht aus… Foto: Kiran West

Ihr Ausdruck im Mahler-Neumeier-Pas de deux ist denn auch mehr als nur tröstlich: Mit Giorgia Giani wird die Liebe einmal mehr zu einer so utopischen Kraft, wie es für die Ballette von John Neumeier kennzeichnend ist. „Die Kunst des Liebens“, wie Erich Fromm sie zum Buchtitel ernannte, hier ist sie sichtlich auch der heimliche Leitfaden im Ballett.

Mit solchen Jungballerinen muss man wirklich keine Sorgen um die Zukunft des Balletts machen!

Giorgia Gianis an Lynn Seymour erinnende, bildschöne Spitzenschuhfüße sind übrigens immer einen Extra-Hingucker wert, obwohl der Nachwuchsstar auch als Ganzkörperpersönlichkeit natürlich unbedingt sehenswert ist. Sie ist zierlich, sehr zierlich, fast puppenhaft, aber nicht zu dünn und auch nicht kantig gebaut.

Sondern, wie ein Freund von mir sagen würde: „augenscheinlich handschmeichlerisch“.

Giani tanzt zudem zwar selbstbewusst, aber so unprätentiös wie hingebungsvoll – und ist damit auch ein wohltuendes, wandelndes Gegenbeispiel zum international grassierenden Hang zu übergroßer Selbstverliebtheit.

Mit Bellussi harmoniert sie aufs Feinste – und die Melancholie des Herbstes erfuhr somit eine erhebende Interpretation.

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Jacopo Bellussi stammt wie Giorgia Giani aus Italien und tanzt mir ihr superbe im melancholischen „Herbst“ aus der „Dritten Sinfonie“. Foto: Kiran West

Einen „Herbst“ gibt es indes ja auch in der „Dritten Sinfonie“. Darum gab es dann auch diesen zu sehen. Die Hauptperson darin tanzt in diesem dritten Satz allerdings wenig, ist aber als Beobachter und als stummer Spieler auf der Bühne.

„Das ist wie im Leben!“, sagt Neumeier, der sich bei der Uraufführung des Stücks von mancher Seite vorwerfen lassen musste, die Hauptfigur würde zu wenig tanzen. „Ich beobachte selbst auch viel, ich lese, ich sehe fern, ich beobachte meine Freunde, wie sie sich benehmen – ich bin doch nicht immer in Aktion.“ Nee. Das kann selbst John Neumeier nicht, obwohl man es ihm noch am ehesten zutrauen würde.

Aber: „Er ist die Hauptperson, auch wenn er sich nicht dauernd herumschmeißt“, das bezieht sich auf den „Helden“ der „Dritten“. Die Vokabel vom „sich herumschmeißen“ ist „Ballettisch“ und stammt aus der Probenarbeit. Sie erklärt sich hier hoffentlich selbst!

Ein anderes Thema erklärt sich nicht von allein: Der Tod von Jeffrey Kirk, einem Neumeier-Tänzer, der unter anderem auf der DVD „Die Kameliendame“ von 1986 in der Rolle des Des Grieux unsterblich wurde.

Jeffrey starb an Aids, und so enthält die Benefiz-Werkstatt mit ihrer Sammelaktion für „Leuchtfeuer“ jedes Jahr auch das letzte Stück, das Jeffrey mit Neumeier kreierte, zur Erinnerung an ihn: Es ist ein Pas de deux aus „Des Knaben Wunderhorn“.

„Wo die schönen Trompeten blasen“, heißt das Stück nach einer Volkspoesie, das klingt fröhlich, aber es ist ein Tanz des traurigen Abschiednehmens.

Ein Tanz für Jeffrey Kirk: Anna Laudere und Edvin Revazov sehr rührend in "Des Knaben Wunderhorn", auf der 217. Ballett-Werkstatt in Hamburg. Foto: Kiran West

Ein Tanz für Jeffrey Kirk: Anna Laudere und Edvin Revazov sehr rührend in „Des Knaben Wunderhorn“, auf der 217. Ballett-Werkstatt in Hamburg. Foto: Kiran West

Anna Laudere (in weißem Kostüm) und Edvin Revazov (in Militär-Oliv) tanzen dieses Ade eines jungen Pärchens – er wird offenkundig in den Tod auf dem Feld ziehen – so rührend und lyrisch, als sei es soeben erst erschaffen worden. Da erblüht die Liebe noch, da sind zwei Menschen füreinander bereit, aber der Keim des Trennungsschmerzes ist in dieser Interpretation von Beginn an spürbar. Schließlich liegt sie auf dem Bauch und versucht, seine Beine mit ihren runden Armen zu umfassen, ihn zu halten. Umsonst. Er tanzt noch einen Kreis um sie, nachdenklich, wie ausprobierend – und dann geht er, und ihre Kraft reicht nicht aus, um ihn bei sich festzuhalten. Sehr schön und sehr traurig!

Und noch ein Datum gab es zu erinnern: Am 1. Januar 1927, also vor 90 Jahren, wurde Maurice Béjart geboren (als Sohn eines Philosophen), jener Choreograf, mit dem John Neumeier eine lange Freundschaft und teilweise auch Arbeitsbeziehung verband. Béjart starb im November 2007, aber zu seinem 70. Geburtstag hatte Neumeier für ihn einen Männer-Pas de deux von großer Schönheit kreiert.

Old Friends – Opus 100 for Maurice“ heißt das Stück, das zudem das 100. Choreografische Werk Neumeiers ist. Zwei Männer in schwarzen Abendanzügen (frivolerweise ohne Hemd) zeigen darin eine Freundschaft: zwei Menschen, die sich unterstützen, einander verstehen, sich heben, sich drehen, miteinander was durchmachen.

Wann immer dieser Tanz getanzt wird, rastet das Publikum aus vor Begeisterung, zumal die Musik mit zwei Songs von Simon & Garfunkel und einem von John Neumeier eingeflüsterten Text ebenfalls rührt.

Alexandre Riabko und Ivan Urban tanzten „Old Friends“ nun auf der 217. Ballett-Werkstatt, mit großem Zuspruch der Zuschauer.

Maurice Béjart würde es sehr freuen…

Und auch das letzte Stück, „Der Abschied“ aus dem „Lied von der Erde“ vereinnahmte mit viel Emotion. Hélène Bouchet, Alexandr Trusch, Karen Azatyan und das Ensemble tanzten diesen jüngsten Mahler-Wurf Neumeiers, als sei erst gestern die Premiere gewesen.

Dabei standen seither schon wieder drei neue Repertoire-Stücke auf dem Spielplan beim Hamburg Ballett, zwei weitere kommen dann in Kürze dazu, und die Wiederaufnahme der wunderbaren Tschechov-Neumeier-Adaption „Die Möwe“ steht auch noch im Februar an.

Die Dritte, hungernde Journalisten und das Lied von der Erde

Alexandre Riabko und Ivan Urban in „Old Friends – Opus 100 for Maurice“, das John Neumeier für den Choreografenfreund Béjart kreierte. Foto von der Ballett-Werkstatt: Kiran West

All dieses will natürlich auch schön geprobt sein, und zwar in mehreren Besetzungen, das heißt: dass die Tänzerinnen und Tänzer in Hamburg derzeit durchschnittlich geschätzt um die acht bis zehn verschiedene Partien unter der Haut haben. Ein Pensum, das unglaublich ist – und die Hochachtung vor dieser Compagnie nur noch mehr in die Höhe schraubt.
Gisela Sonnenburg

Wieder am 10., 11. und 12.2.17 in Florenz in der Opera di Firenze

Hier bitte mehr über „Das Lied von der Erde“ in der Choreografie von Kenneth MacMillan:

www.ballett-journal.de/stuttgarter-ballett-hommage-a-macmillan-outlook/

Und hier mehr zur „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ von John Neumeier in der Erstbesetzung:

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-dritte-sinfonie-mahler/

www.hamburgballett.de

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