Das ewig junge Liebespaar „Romeo und Julia“ von John Cranko gibt es wieder beim Stuttgarter Ballett, traumhaft besetzt mit Alicia Amatriain und Friedemann Vogel. Für Kenner lohnt zudem ein Vergleich mit der Version von Rudolf Nurejew

Romeo und Julia in Stuttgart

Ein Herz und eine Seele auf der Bühne: Alicia Amatriain und Friedemann Vogel als „Romeo und Julia“ von John Cranko beim Stuttgarter Ballett. Foto: Stuttgarter Ballett

O Romeo, o Julia! Niemand wird euch je überflügeln in der Ungestümtheit eurer Liebe, in diesem Drängen auf Erfüllung, in der gegenseitigen Zuneigung und auch nicht in dem abgrundtiefen Schmerz über den viel zu schnellen Verlust. Als John Cranko 1962 das Ballett „Romeo und Julia“ des sowjetischen Komponisten Sergej Prokofjew in Angriff nahm, ahnte er vielleicht noch nicht, dass er damit seinen Durchbruch als weltbedeutender Choreograf haben würde. Aber der beliebte Theaterstoff, den William Shakespeare vor 1597 kreierte, steht an sich schon für Erfolg und ist auch als Ballett in höchstem Maß wirksam. Die schwungvoll-rhythmische, modern-anspruchsvolle Musik, die bereits 1935 im Auftrag des Moskauer Bolschoi Theaters entstanden war, hatte es allerdings viele Jahrzehnte nicht leicht – die Uraufführung des Balletts fand denn auch erst 1938 in Brno statt, und als Galina Ulanowa 1940 in Leningrad die russische Erstaufführung tanzte, bestand sie darauf, dass bei den Proben andere Musiken als Prokofjew benutzt würden. Aus Rache am von ihr zunächst ungeliebten Komponisten forderte sie Prokofjew laut dessen Erinnerung bei der Premierenfeier zum Tanz auf – und trat ihm beständig auf die Füße. Heute ist das kaum vorstellbar, Tänzer wie Orchester wie das Publikum lieben Prokofjews ungewöhnliche Ohrwurm-Melodien und natürlich auch die kräftigen Taktschläge in der Partitur. Mit Alicia Amatriain als Julia und Friedemann Vogel als Romeo nahm das Stuttgarter Ballett das Cranko-Juwel nun wieder in den Spielplan auf – und niemand war überrascht, als die Zuschauer sich zu begeisterten Ovationen hinreißen ließen!

Romeo und Julia in Stuttgart

Das Publikum jubelt nach der Vorstellung am 6. Dezember 2018 von „Romeo und Julia“ in Stutttgart. Foto vom Schlussapplaus: Boris Medvedski

Alicia tanzt die Julia mit der notwendigen Dramatik, aber auch mit der nötigen Stille. Sie ist kein kleines Mädchen, aber sie rührt vorzüglich mit der naiven Haltung einer jungen Dame, die erst langsam entdeckt, welche Kraft die Liebe in ihr zu entfalten vermag.

Und ihre Arabesken sind jede für sich bereits eine Liebeserklärung an das Leben!

Nur ihr Make-up könnte vielleicht im Sinne der Rolle dezenter sein, eine gewisse Natürlichkeit steht der Julia sicher gut zu Gesicht. Aber ihr Tanz macht ohnehin alles andere vergessen – musikalisch, geschmeidig, ausdrucksstark ist sie eine Julia wie aus dem Bilderbuch.

Ebenfalls passgenau tanzt und spielt ihr Bühnenpartner Friedemann Vogel. Was für ein Romeo! Er kann wild und keck sein, aber auch ernsthaft und tiefsinnig. Und wenn Friedemann springt, verlässt er scheinbar die Realität und nimmt uns mit auf einen kurzen Ausflug in ein anderes Universum. Ach, Romeo und Julia – wie sehr könnten diese beiden eine andere, eine bessere Welt brauchen!

Das Liebesdrama um zwei Kinder aus verfeindeten, mächtigem Veroneser Familien im Zeitalter der Renaissance hat aber auch bis heute nichts von seiner Brisanz, seinem Glanz, seinem emotionalen Drive verloren. Und doch ist es zugleich ein Mahnmal des Friedens und der Toleranz, zeigt es doch, wie schrecklich falsche Machtstrukturen die schönste und wichtigste Energie der Menschheit zerstören.

Alicia und Friedemann nun sind auch in diesem Stück ein perfekt eingespieltes Team, und seine Hebungen ihrer schlanken Figur gehören zum Schönsten, was die Ballettwelt zu bieten hat.

Begeisternd aber auch Louis Stien als Mönch, der als Komplize der verbotenen Liebe wirkt und Julia auch das Gift aushändigt, das sie in den Zustand des Scheintodes versetzt. Das Miteinander von ihm und Alicia Amatriain schlägt in den Bann, inklusive der originellen, komplizierten Paartanz-Hebungen.

Eine Überraschung ist Alexander Mc Gowan als Paris. Er, den Julias Eltern ihr als künftigen Gatten präsentieren, verkörpert hier den edelmütigen Adligen, und Mc Gowan er ist von Kopf bis Fuß die Noblesse in Person. Ein wirklich feiner, vornehmer Mann! Wow, in so Einen würde sich Julia normalerweise vielleicht sogar verlieben. Doch er wird ihr zu spät vorgestellt – da hat sie ihr Herz schon Hals über Kopf an Romeo vergeben.

Romeo und Julia in Stuttgart

Die berühmte Balkonszene hier mit dem Kuss der Liebenden: Alicia Amatriain und Friedemann Vogel in „Romeo und Julia“ von John Cranko beim Stuttgarter Ballett. Foto: Stuttgarter Ballett

Und noch ein junger Virtuose dreht hier voll auf: Martí Fernández Paixà stirbt als Mercutio, Romeos schalkhafter Freund, den unglaublichsten aller Theatertode – er selbst stellt seine tödliche Duell-Verletzung zunächst noch als übermütiges Schauspiel dar.

Das Ensemble des Stuttgarter Balletts ist hoch motiviert und tanzt die vielen kleinen und größeren Partien mit Verve.

Gerade der Lilientanz der acht Freundinnen von Julia ist immer wieder sehenswert, ist er doch fast ein Ballett im Ballett, denn die jungen Mädchen feiern in ihrem Tanz in Julias Schlafzimmer mit den weißen Blumen die Unschuld, die sich auf die Zukunft freut.

Romeo und Julia in Stuttgart

Der erste Applaus nach Stückende gilt dem Liebespaar „Romeo und Julia“, alias Friedemann Vogel und Alicia Amatriain. Foto mit wunderschönem Theater-Mond: Boris Medvedski

Die Ausstattung von Jürgen Rose – nach seinen Originalentwürfen – zaubert mit wenig Aufwand viel Stimmung.

Musikalisch wurde man dieses Mal nicht von James Tuggle am Dirigentenpult erfreut, sondern Mikhail Agrest bürstete als Gast die Partitur von Prokofjew hier und da gegen den Strich, was zu ungewöhnlichen Effekten führte.

Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Staatsoper Stuttgart auch Prokofjews Oper „Die Liebe zu den drei Orangen“ im Repertoire hat, und zwar mit ganz vorzüglichen Aufführungen, die eine nähere Beschäftigung mit diesem interessanten sowjetischen Komponisten sehr erleichtern.

Romeo und Julia in Stuttgart

Auch der Gastdirigent Mikhail Agrest wird bedankt und dankt seinerseits den Künstlern und dem Orchester: nach „Romeo und Julia“ am 6.12.2018 beim Stuttgarter Ballett. Foto: Boris Medvedski

Und noch eine Anregung: Ballettkennern sei ein Vergleich der in Deutschland sehr oft getanzten Version von „Romeo und Julia“ von John Cranko mit der von Rudolf Nurejew ans Herz gelegt. Diese ist als DVD erhältlich, in einer Aufnahme von 1995 mit dem Ballet der Pariser Opéra, mit Manuel Legris als Romeo.

Das Faszinierende an Nurejews Fassung ist nicht nur sein prägnanter Stil, sondern auch die Tatsache, dass er sichtlich alle wichtigen Inszenierungen dieses Balletts seiner Zeit kannte und choreografisch erkennbar zitiert.

Man findet Anklänge an John Crankos Version ebenso wie an die des Bolschoi-Großmeisters Yuri Grigorovich und an die Fassung von Anatolij Schekera, der in Kiew als Ballettdirektor und Choreograf wirkte. Schekera ist zu Unrecht im Westen wenig bekannt – er lebte von 1935 bis 2000 und schuf 1971 einen „Romeo“ (also ein „Romeo und Julia„-Ballett), das mit nachgerade naturalistischer Musikalität aufwartet.

Vor allem aber zitiert Nurejew auch die beiden westlichen Versionen von „Romeo und Julia„, die neben Crankos Kreation bis heute weltbekannt und weit verbreitet sind, nämlich die von Kenneth MacMillan und die von John Neumeier.

MacMillans Tanzstück premierte 1966 und betont die erotisch-erhöhenden Aspekte der Liebe.

John Neumeiers Fassung erlebte 1971 in Frankfurt am Main ihre Uraufführung und premierte 1974 in der bis heute gültigen Hamburger Version. Sie besticht von allen „Romeo„-Balletten am stärksten mit szenischer Reichhaltigkeit, ist hierin doch jeder Tänzerin und jedem Tänzer, sogar unter den Kinderdarstellern, eine ganz bestimmte Rolle zugedacht. Dieses filmisch-realistische Vorgehen lässt die Geschichte an vielen Punkten des Handlungsfadens in ganz neuem Licht erscheinen.

Rudolf Nurejew wiederum ließ seine stärker auf die Hauptpersonen konzentrierte Kreation 1977 beim London Festival Ballet mit sich selbst und mit der damals blutjungen Patricia Ruanne in den Titelrollen uraufführen.

Erst 1984 wurde sie – unter Rudis Regie – erstmals an der Pariser Opéra einstudiert.

Trotz vieler tänzerischer „Anleihen“ bei den genannten Fassungen schuf Nurejew ein eigenständiges Werk, das sowohl Bezug auf seine eigene Biografie nimmt als auch den psychologischen Liebessturm, der Romeo und Julia erfasst. Nurejew gießt all dies in eine würdevoll-glaubhafte, dennoch hoch stilvolle Form, die das Spiel mit Modernismen im klassischen Ornament ausgiebig exerziert.

Trickreiche Raffinessen und technisch anspruchsvolle Verspieltheiten prägen Rudis Tanzdesign ja ohnehin stets.

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Heiße Leidenschaft: Romeo (Friedemann Vogel) an der Brust von Julia (Alicia Amatriain) in Crankos Ballett beim Stuttgarter Ballett. Foto: Stuttgarter Ballett

Und wenn das Liebespaar in den Pas de deux zunächst betont klein gehaltene Arabesken kanonisch zeitversetzt zelebriert, um später synchron mit schnellen Arabesken und Laufschritten zu überzeugen, dann sieht man, wie die Bindung dieser beiden Menschen wächst, wie sie sich entgegen kommen können, weil sie sich lieben.

Noch ein Beispiel dafür, wie sehr sich hier die Vergleiche lohnen: „Der Tanz der Ritter„, der bei John Cranko ein imposantes, demonstratives Repräsentieren der Capulets, also der Familie Julias, ist, wozu kleine Kissen wie Insignien der Macht im Reigen empor gehalten werden, wird bei Neumeier von den Eltern Julias sowie ihrem Cousin Tybalt als Dreiertruppe mit einem modernen Grand battement begonnen – es ist ein weit ausholender, das Bein diagonal nach vorn hoch werfender Ausfallschritt.

Bei Nurejew beginnt der Clan der Capulets den „Tanz der Ritter“ mit eben diesem Grand battement, um dann in weitere Standposen zu münden.

Aber auch ein Männertanz mit breiten Schwertern ist bei Nurejew enthalten, und an anderer Stelle ist die Hintergrund-Kulisse einem riesigen Kelim-Teppich gewichen.

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Noch eine Verbeugung: Alicia Amatriain und Friedemann Vogel mit dem Ensemble vom Stuttgarter Ballett nach „Romeo und Julia“. Foto: Boris Medvedski

Nurejew, der tatarischer Abstammung war, identifizierte sich sehr mit dem Symbolgehalt der orientalisch gemusterten, burgunderroten Teppiche der Nomaden, die auf ihnen ihre Kinder zeugten, sie dort gebaren und die dort auch Abschied vom Leben nahmen. Auf Rudis Grab liegt denn auch ein Mosaik, das einen solchen Kelim imitiert.

Tod und Liebe gehören auch in „Romeo und Julia“ zusammen, nur deshalb rührt uns ihre Geschichte so. Sie bleiben das ewig junge Paar – traurigerweise.

Aber die Gesellschaft, der diese Liebenden entwachsen, duldet keine Liebe, die stärker ist als sie selbst. Was wäre wohl aus den beiden geworden, wenn sie nicht verfeindeten Clans entstammen würden? Was wäre, wenn sie geheiratet, eine Familie gegründet und irgendwann auseinandergegangen oder gestorben wären? Wären sie dann auch unsere Helden geworden? Hätten sie es dann geschafft, ihre Clans zu versöhnen?

Übrigens lässt von den genannten „Romeo„-Choreografen allein Yuri Grigorovich die Politik ein friedliches Ende finden – die Capulets und die Montagues, die beiden verfeindeten Familien, versöhnen sich bei ihm angesichts des Todes ihrer Kinder. In einer Aufnahme von 1990 wirkt es so, als sei diese Situation auf das Ende des Kalten Kriegs gemünzt: Ost- und West-System scheinen sich hier einander zuzuneigen.

"Giselle" died the last time with Staatsballett BerlinVon Cranko über Neumeier bis Nurejew aber geht es am Schluss allein um die Nöte der Liebenden – und um ihre erbarmungswürdigen Liebestode. Wer da nicht aufgewühlt mitweint, hat wohl kein Herz.
Boris Medvedski / Gisela Sonnenburg

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