„Es sind Meisterwerke!“ Dass es sich beim neuen Hamburger Ballettprogramm um zwei Meisterwerke von George Balanchine handelt, wurde Hausherr John Neumeier beim Premierenempfang nicht müde zu betonen. Vor allem aber sind es zwei selten getanzte Stücke, die zudem noch nie miteinander kombiniert gezeigt wurden. Premiere in mehrfacher Hinsicht also beim Hamburg Ballett! Und so verschieden die beiden Ballette „Liebeslieder Walzer“ und „Brahms-Schoenberg Quartet“ auch sind: Wenn sich der Vorhang hebt, scheint ein angehaltener Film wieder eingeschaltet, und dieses Gefühl hält an, bis zur letzten Schlusspose. Es gibt Nostalgie, Folklore, Walzer, Eleganz, Melancholie, Temperament, Ekstase zu sehen – und all das mit der für Balanchine typischen, subtilen Doppelbödigkeit. Die Solisten und das Ensemble vom Hamburg Ballett machen aus der kaleidoskopartig zusammen gesetzten Ornamentik der Körper einen Augenschmaus – und Markus Lehtinen holt beim „Brahms-Schoenberg Quartet“ aus der von Arnold Schoenberg orchestrierten Brahms-Partitur raus, was nur rauszuholen ist: Mehr geht nicht!
Zunächst aber spielt die Kammermusik auf. Da stehen, passend zu den Tänzern kostümiert, vier Sänger beim Flügel links auf der Bühne. Die beiden Herren tragen Frack, die Damen große 19.-Jahrhundert-Ballroben in Mauve-Nuancen. Johanna Winkel, Sopran, Sophie Harmsen, Alt, Sebastian Kohlhepp, Tenor, und Benjamin Appl, Bariton, machen einen feierlichen Eindruck und vermitteln die Spannung eines beginnenden Konzerts. Ein souveränes Pianistenduo (Mariana Popova und Burkhard Kehring) komplettiert das Quartett der Sänger – es ist, als habe man sie alle anlässlich einer Festlichkeit engagiert.
Der Bühnenraum zeigt einen geschmackvoll-eleganten Saal mit aufgemalten Gründerzeit-Reliefs im Wiener Stil. Seitlich rechts stehen seidene, altrosé-weiß gestreifte Biedermeier-Sofas. Die großen hellen Fenstertürbögen zum Horizont hin lassen draußen die blaue Stunde, also die Zeit der Abenddämmerung, erkennen. Zwei kleine Kerzenleuchter betonen die Heimeligkeit, aber ein großer, kostbarer Kristalllüster prangt von oben herab in der Bühnenmitte, erfüllt die Atmosphäre mit ehrbarer Feierlichkeit.
Die eigentlichen Sensationen aber sind – neben den speziell für diese Aufführung von Heinrich Tröger kreierten, hier sehr schön gelungenen Kulissen – die vier tanzenden Paare.
Standen sie zunächst in einer wie im Partnertanz erstarrten frozen position, zeigen sie alsbald auf intensive Weise ihre unterschiedlichen Beziehungen: in abgewandelten, von vielen Ergänzungen und Modernismen durchsetzten Variationen des Wiener Walzers.
Allen voran bezaubern und verwirren, betören und irritieren Silvia Azzoni und Alexandre Riabko mit ihren Pas de deux, die das heimliche Psychogramm einer Beziehung darstellen.
Verpackt in süßlich-niedliche Walzerschritte, ergibt sich ein Geschlechterkampf um Vorherrschaft und Unterordnung, aber auch um das Miteinander und um die Liebe selbst!
Die Partie, die Silvia Azzoni tanzt, wurde von Violette Verdy kreiert, einer der ganz großen Balanchine-Ballerinen. Im November 1960 wurde die Uraufführung vom New York City Ballet in New York getanzt – und Verdys Tänze waren von Beginn an die Herzstücke der insgesamt 33 Walzerlieder dieses Stücks.
Es ist ein quirliger, exaltierter, fast hysterisch fröhlicher Charakter, den sie hier gleichermaßen verkörpert wie persifliert. Geschmeidigkeit und Virulenz sind Trumpf. Die Weiblichkeit präsentiert sich wie ein prächtiges Ballkleid im nimmer endenden Drehschwung!
Als die gebürtige Französin Violette Verdy– die nach Beendigung ihrer Bühnenkarriere auch als Coach und Trainerin international reüssierte – das Stück mit der weltberühmten Primaballerina Lucia Lacarra (die heute das Victor Ullate Ballet in Madrid leitet) und mit deren erstem Gatten Cyril Pierre einstudierte, betonte sie die Katzenhaftigkeit, aber auch die Exklusivität des Tanzes: „Dance like cats chatting!“, „Tanzt wie kommunizierende Katzen!“ Und: „You are not Mr and Mrs Whatever, you are dancing spirits!“ („Ihr seid nicht Mr und Mrs Werauchimmer, ihr seid tanzende Seelen!“)
Mal so agil wie ein kleines Tier, mal so ergeben wie ein Engel – Silvia Azzoni leistet hier etwas, das an ihre Großtaten in Neumeiers „Die kleine Meerjungfrau“ erinnert: Sie ist mehr als nur sie selbst. Aber nichts wirkt imitiert oder simuliert, sondern alles kommt von innen, jede Geste, jedes Cambré, jeder Habitus, jede Sprungkombination, jede Verbiegung ihres zarten Körpers.
Und die Frauen müssen sich hier mächtig verbiegen und krummlegen, nach vorn, zur Seite, nach hinten, im Stehen, in der Hebung, sogar während der Drehungen. Da gibt es eine Tanzparzelle, in der Azzoni regelrecht kriechend bei ihrem Partner Unterschlupf sucht, alles im Walzertakt wohlgemerkt.
Man sieht: Es geht hier nicht nur um das große Wohlgefühl und um die angenehme Sehnsucht, die der gehobene Wiener Walzer verspricht.
Es geht vor allem um die Unfreiheit einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder in Schablonen und Schubladen presst.
Insbesondere die Frauen haben hier kein Quentchen Spielraum, sondern müssen sich fügen, fügen, fügen.
Der Text der Lieder – der zu 98 Prozent von Georg Friedrich Daumer stammt und ein überwiegend geringes Niveau hat – benennt das an einer Stelle auch fast unverhüllt.
Ansonsten aber geht es darin um Liebe und Nichtlieben, um Liebesqualen, Liebesglut, Liebeskummer.
Verblüffenderweise lässt Balanchine die acht Solisten aber gerade nicht offen über diese Thematik tanzen.
Sondern er präsentiert sie stets paarweise, manchmal auch à trois und in Einzelfällen auch solistisch, allerdings stets nur im Kontext eines Miteinanders. Und es sind offensichtlich alles Ehepaare – aber in Daumers Texten geht es dagegen nur ums Voreheliche, Heimliche oder auch um nicht näher benannte soziale Verhältnisse. Jedenfalls geht es darin nicht um Ehepaare.
Man mag sich fragen, ob Balanchine absichtlich den Text ignorierte (er konnte ja sicher sein, dass seine Zielgruppen im Publikum ohnehin kein Deutsch verstanden) oder ob er sich schlicht nicht darum kümmerte, weil für ihn nur die Musik und deren Atmosphäre wichtig war. Es ist allerdings auch möglich und sogar am wahrscheinlichsten, dass Balanchine mit dem Tanz genau das ergänzen wollte, was bei Daumer fehlt: Die Ehe als gesellschaftliches Resultat der Liebe, als ihre Manifestation und sogar als ihr Ersatz. Die Ehe als vorrangig vor Liebe und als Zielpunkt des Trieblebens.
Nur so machen diese getanzten Walzer hier Sinn!
Das heißt, knallhart: Die Ehe ist gesellschaftlicher Zwang, eine Konvention, mit der man sich abzufinden und die man mit Liebe und Sinn aufzufüllen hat. Wohin die wahren Gefühle gehen, bleibt unterschwellig und verborgen – und es quillt an allen Ecken und Enden aus diesen Erfolgsmenschen heraus, dieses Leiden am Gegebenen, an der Unwahrheit, am Trügerischen.
Aber umso ekstatischer drehen sie sich im Dreivierteltakt im Kreis!
Das trügerische Walzerglück – es täuscht und enttäuscht und hält doch aufrecht, denn es beseelt, zumal im Einklang mit der Musik, und es ist die totale Ablenkung von Qual und Sorgen: eine einzige Metaphorik für das Leben in arrivierten gesellschaftlichen Schichten.
Die Mauve-farbenen Kostüme der Damen – bombastische, bodenlange, mehrschichtige Röcke unter schulterfreien Oberteilen – stammen von Karinska, einer russisch-amerikanischen Künstlerin, die den Nerv des ebenfalls russisch-amerikanischen George Balanchine extrem gut traf und häufig für ihn kreierte.
Dass die Noblesse aber auch Fesseln birgt und das Leben an der Spitze der Gesellschaft letztlich emotional mindestens ebenso unfrei ist wie in den weiter unten angesiedelten Milieus – das lehren uns diese durchgeknallten, sich immer wieder nur im Kreise drehenden Balanchine’schen Walzer ganz gewiss.
Außer Silvia Azzoni und dem ihr ganz großartigen Halt gebenden Alexandre Riabko– der sie auch waagerecht so sanft und sicher und wackelfrei zu tragen weiß, als bestünde sie aus Gaze – bestechen aber auch die weiteren Paare mit tänzerisch-künstlerischen Eigenheiten, die man so vollkommen ausgeprägt wahrscheinlich nur beim Hamburg Ballett sehen kann.
Das ist ohnehin das große Plus dieser Aufführung: Man tanzt nicht Balanchine ganz langweiligwie vom Blatt, als sei die nackte Choreografie das Nonplusultra. Sondern man interpretiert Balanchines Schritte mit den Mitteln, die man zum Beispiel alsNeumeier – geschulter Tänzer des Hamburg Balletts zur Verfügung hat.
John Neumeier bestätigt denn auch, was man sieht: Der vom Balanchine-Trust autorisierte Coach Nilas Martins, gebürtiger Däne und einst Erster Solist beim New York City Ballet, hat keineswegs die Balanchine-Form auf die Künstler vom Hamburg Ballett aufgepresst. Vielmehr entwickelte er mit den einzelnen Ballerinen und Ballerinos gemeinsam ihre Interpretationen, half ihnen, sich die Tanzpartikel anzueigenen und sie zu ihrer Sache zu machen, sie mit ihrem eigenen, individuellen Lebensgeist zu erfüllen. Das macht die Sache hier so fantastisch, so rund, so ansehnlich!
Da ist es fast überflüssig zu erwähnen, dass man sich technisch auf höchstem Niveau bewegt. Synchronizität bedeutet hier wie aus einem Guss, ohne Verzögerung und ohne Präpotenz. Exaktheit heißt hier nicht nur mit Präzision, sondern auch mit winkelgleichem Charme.
Und Musikalität insbesondere in den schwierigen Drehhebungen und Zwischenposen scheint sogar wie Blut in den Adern der Solisten zu fließen – so organisch gestalten sie die artistisch-verzwickten Figuren.
Sara Ezzell und Matias Oberlin bilden darin ein besonders überraschendes, exzellent passendes Paar, sozusagen das Junior-Paar unter den noch erfahreneren Kollegen. Sara kam soeben vom Bundesjugendballett ins Hamburg Ballett– und begeistert mit unerwartet eleganten Linien, mit einem sehnsüchtig-weltentrückten Ausdruck, der so erlesen ist, dass er seinesgleichen sucht.
Matias Oberlin ist ihr ein würdiger Kavalier, ein Galan wie aus der Musterschule des guten Benehmens. Und doch spürt man passenderweise immer wieder den Widerstand, den auch dieses Paar insgeheim gegeneinander hegt. Da brechen die Wünsche auf, wenn man sich eine Sekunde ohne Umklammerung durch den Partner bewegen kann – und fast dringt so etwas wie Freiheit in die Sphäre!
Patricia Friza und Carsten Jung bilden schließlich das am meisten assimilierte Paar, wobei man sich fragt, wieso nicht Carolina Agüero diese Partie mit Jung tanzt. Friza ist gut, aber sehr einseitig, sie zieht hier die ganze Zeit die Leidensmiene, bietet ein fast masochistisches Abbild des Narzismus. Was zwar zur Rolle passt, aber den utopischen Charakter der Partie bei weitem nicht abdecken kann.
Hier hätte es einer First class Ballerina bedarf, und das ist Friza nun ganz sicher nicht. Mit Carolina Agüero aber hat Hamburg ja eine nachgerade mustergültige Primaballerina, die genau jene Poesie und Güte im Ausdruck hat, die hier im Balanchine-Walzer angemessen ist.
Ich habe ja den Verdacht, dass Patricia Friza nur deshalb vom Hamburg Ballett so gefördert wird, weil ihre Mutter mal eine berühmte Wiener Primaballerina war – und die Geschäftsführung vom Hamburg Ballett den guten Draht nach Wien, einem regelmäßigen und lukrativen Abnehmer von Neumeier-Choreografien, über das Herausstellen von Friza festigt.
Zwar ist Patricia Friza keine schlechte Tänzerin, aber viele Facetten fehlen ihr komplett. Sie ist kräftig, anmutig, leidenschaftlich, zielsicher. Aber Lieblichkeit, Poesie, Güte, Erhabenheit und vor allem Glanz – all dieses kennt ihre Kunst nicht. Und Arroganz und Stolz sind auch nicht dasselbe! Carolina Agüero hätte da viel mehr bieten können, das muss man mal ganz deutlich sagen.
Ohne entsprechende Partnerin kann auch Carsten Jung nicht so ganz aus seiner Haut, denn seine Choreo ist meistens auf die Dame an seiner Seite, in seinen Armen, abgestimmt. Aber er macht das Beste daraus, ist elegant, charmant, verbindlich, auch distanziert, wo er distanziert sein muss – und sein Augenspiel ist noch immer eines der Schönsten auf den Ballettbühnen dieser Welt.
Anna Laudere und Edvin Revazov schließlich können gar nicht enttäuschen, sondern bieten, wie eigentlich immer, eine rundum fesselnde, wenn auch sehr traditionelle Angelegenheit: Laudere ist die devote, sich ganz hingebende Partnerin, Revazov der starke Partner, der ihr Gelegenheit gibt, sich mit ihm oder gegen ihn zu definieren, je nachdem, wie es die Pose verlangt. Edvin ist eine Augenweide in jeder Sekunde, er weiß genau, was er tut oder lässt, und es ist, als würden sich die Gedanken seiner Kavaliersfigur stetig ins Publikum übertragen.
Das sind hier ambivalente Gedanken. Einerseits ist der junge Mann glücklich, so weit gekommen zu sein, dass er hier mit seiner schönen Frau tanzt. Aber andererseits fühlt er sich auch festgelegt.
Was ist das also für ein Lebensgefühl für einen Mann, wenn er alles hat und noch mehr haben kann, wenn er dafür aber seine Freiheit und seine Willenskraft einer Maschinerie opfern muss, deren Regeln er nicht gemacht hat und auch nie gemacht hätte? Ist er noch er selbst oder läuft er Gefahr, sich zum Sklaven seines von der Gesellschaft abverlangten Identitätsverlusts zu machen? Ist seine Frau ihm da eine Stütze oder gehört sie zum System der Unterjochung und sanften Tyrannei?
Das Leiden der Männer in diesem Balanchine-Ballett kulminiert in ihren formvollendeten Kniefällen, wenn sie damit ihre Partnerinnen verehren oder sie um Vergebung bitten, wofür auch immer. Aber offenbar sind sie nötig, diese Zeremonien der Harmonisierung – und nicht selten schwelt unter langjähriger Partnerschaftsfassade ein grenzenloser Hass aufeinander, noch öfter aber Untreue, Nachlässigkeit oder Lüge.
Die Frau an sich – sie ist hier eine Madonna und eine Hure in einer Person, aber auch sie hat keinerlei Freiheiten, sich offen auszuleben. Das Korsett der Balanchine’schen Walzertänze, so beschwingend es ist, schnürt die Emotionen eng ein, und so katapultieren sich die aufgedrehten Gemüter mit vielfachen Drehungen in den siebenten Himmel – ohne an das Morgen zu denken.
Gerade Anna Laudere verkörpert diese Momente en detail!
Was man Laudere dabei auch nicht anlasten kann, ist eine gewisse Überkontrolliertheit in den Linien, denen immer dann das Gefühl abgeht, wenn sie zum Selbstzweck verkommen. Das ist eine große Gefahr bei so stilisierten choreografischen Formen, gerade auch, wenn viel geprobt wird. Aber das Hamburg Ballett kennt auch diese Klippen und weiß sie zu umschiffen.
Und es gibt Posen zu entdecken, die andere Choreografen inspiriert haben. So ist die Über-Kreuz-Fassung der Arme als Liebessymbol, während der Mann kniet, später etwas verändert im „Roten Pas de deux“ von „Onegin“ von John Cranko wiederzufinden. Dort symbolisiert sie die ungetrübte Haltung und den Halt einer nahezu perfekten Ehe. Es wogen dort aber allerdings nicht lauter Walzerwellen um die Liebenden herum!
Alles in allem reißen diese Paare sehr mit, sie involvieren einen und machen viel mehr Mitteilungen, als es oberflächlich den Anschein hat.
Der erste Teil der „Liebeslieder Walzer“ endet mit dem sanften Erlöschen des Lichts, es wird Nacht. „Draußen“, im Bühnenhintergrund und Bühnenhimmel, kommen die Sterne zum Vorschein, man verlässt die Bühne, tändelnd, erschöpft, aufgeregt – je nachdem.
Ein faszinierend stimmungsvolles violettblaues Licht erfüllt den Raum hinter einem Gazevorhang. Stille. Um über alles nachzudenken – und die gewirbelten Eindrücke auf sich wirken zu lassen. Die Bühne, ein machtvolles Stillleben, wie in einem Museum.
Trögers Bühnenbild und das vermutlich von dem genialen Allround- und eben auch bewährten Licht-Künstler John Neumeier stammende Bühnenlicht bewirken eine meditative Aura, die in der Tat auch ohne Tanz ergreifend ist.
Auf diese Art kann man „Liebeslieder Walzer“ nur beim Hamburg Ballett sehen und genießen!
Dann kommen die Musiker wieder herein. Der Pianist bleibt lange stehen und schaut, zu uns mit dem Rücken gewandt, durch die großen Fenster in die klare Sternennacht.
Eine neue Nacht, ein neues Spiel beginnt.
Wieder kommen die Paare – es handelt sich um dieselben – herein, aber die Damen tragen jetzt dreiviertellange Tüllröcke, und es ist nicht ganz sicher, ob wir uns noch in der Realität oder in der Traumwelt etwa des Pianisten befinden.
Sie stellen sich auf, zu einem wie im Tanz entstandenen Posenbild, das wir als Silhouette schwarz auf violett sehen – sehr delikat!
Aber zu sehr ähnelt der Stimmungswechsel doch dem romantisch-klassischen Ballett, in dem die zweite Hälfte dem Jenseits, der Geisterwelt, dem Überirdischen gewidmet ist. Es kann sich hier nicht mehr um eine normale Ballnacht handeln. Sind wir bereits im Paradies?
Es sind die „Spirits“, die Geister, die Seelen der Tanzenden, die sich hier nun zu vorgerückter nächtlicher Stunde zeigen.
Und erneut entspinnt sich ein Miteinander und Walzertreiben, als sei es der letztmögliche Ball überhaupt!
Was ist das nur für eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder in Paarformen zwingt und ihnen wieder und wieder immer neuen Trubel abverlangt?
Man muss schmunzeln, denn als Allegorie auf die menschliche Gesamtgesellschaft ist gerade dieses auf den ersten Blick so elitäre Ballettstück sehr geeignet.
Tanzen wir am Ende alle immer nur Walzer, ohne es je zu bemerken?
Auch hier berücken die Hebungen und die innigen Umklammerungen der Paare, zumal die Damen immer mehr süße Sehnsucht nach immer mehr Innigkeit zu empfinden scheinen. Die Herren wissen dieses Verlangen zu schüren und begeistert zu begleiten.
Kapriziös und köstlich ist dieses Ballett, und der Sinn des Lebens scheint tatsächlich auf gewirbelte Walzerschritte zusammenzuschrumpfen.
Man muss dazu sagen, dass die Musik von Johannes Brahms in zweierlei Hinsicht sehr interessant ist: Zum Einen, weil sie die kryptisch-pathetischen Texte von Daumer auf ein höheres Niveau hebt.
Georg Friedrich Daumer war Religionsphilosoph in Nürnberg und wurde mit Schriften über das Findelkind Kaspar Hauser berühmt, den er auch ein Jahr lang in seinem Haushalt aufzog. Sozusagen im Nebenberuf schrieb er auch Lyrik – und versuchte darin, seine pietistisch geprägte Studentenzeit durch überstarke Betonung der Emotionalität zu verarbeiten.
Der bedeutende Philosoph Friedrich Georg Hegelwar übrigens Daumers Schulrektor gewesen, und womöglich rückte ihn schon das früh in die Nähe zur Philosophie und Theologie.
Seine größte Bedeutung aber hat Daumer, weil er den ersten Tierschutzverbandin Deutschland mitgründete. Seine Publikation „Über Thierquälerei und Thiermißhandlungen“ erschien 1840sogar anonym, weil die Brisanz der Thematik damals die Gemüter so stark erregte, dass Daumerals ihr Verfechter gesellschaftliche Ächtung befürchten musste.
Ein sensibles Gemüt und helfende Tatkraft beseelten diesen Mann aber in jedem Fall!
Seine Lyrik, die immerhin den leidlich verklemmten Brahms inspirierte, birst denn auch nachgerade vor schwülstigen Metaphern in Kombination mit beinahe volkstümlichem Niveau. Von der Qualität her ist er, das darf ich als examinierte Germanistin sagen, weit entfernt von Goethe!
Das bemerkte womöglich auch Brahms. Und gönnt seinem Publikum am Schluss tatsächlich ein paar Zeilen echten Johann Wolfgang von Goethe, ein Zitat aus „Alexis und Dora“, das im übrigen John Neumeier auch schon sehr inspiriert hat und jedem Kreativen so manches Mal aus der Seele spricht:
„Nun, ihr Musen, genug! … Heilen könnet die Wunden ihr nicht, die Amor geschlagen, / aber Linderung kommt einzig, ihr Guten, von euch.“
Die Schöpfung als Trostakt.
Da ist George Balanchine schon ein Stück weiter, aber zunächst noch ein paar Worte zu Brahms.
Johannes Brahms (1833 – 97) wurde in Hamburg geboren und ist der erste Künstler, der von der Stadt Hamburg zum Ehrenbürger ernannt wurde (1889).
John Neumeier ist übrigens der vierte Künstler, dem diese Ehrung widerfuhr (2007).
Allerdings war Brahms‘ Verhältnis zu den Hanseaten nicht ungebrochen; er hatte sich, als er als arrivierter Komponist, Pianist und Dirigent nach einigen Lehrjahren nach Hamburg zurückkehrte, eine größere Karriere mit besseren Posten dort erhofft, als er sie bekam.
Brahms stammte aus einer Musikerfamilie, sein Vater kam aus Heide in Dithmarschen, wo auch Johannes Brahms einen Teil seiner Jugend verbracht hat.
Die Prägung durch die weite Ödnis der dortigen Landschaft, die aus flachen Wiesen und Äckern besteht und ansonsten aus schier endlosem Himmelshorizont mit oftmals dramatischem Wolkenspiel – was viele Menschen melancholisch macht – ist in seinen Walzern definitiv erfahrbar.
Brahms‘ Walzer sind denn auch keine lustvoll-leichten Tanzohrwürmer wie die der Brüder Johann und Josef Strauß. Vielmehr stehen sie an der Schwelle zur Moderne. Romantisches Drängen mischt sich mit melodiösen Einbrüchen – das Piano tanzt zwar, aber es bleibt nicht immer im selben Sound.
Und die Sänger haben wirklich Schwieriges zu vollbringen, was ihnen in der Hamburgischen Staatsoper größtenteils vorzüglich gelingt. Denn zum Teil wiegen sich die Textzeilen charismatisch im Walzertakt und schmiegen sich nachgerade ans Metrum der Musik an. Dann aber hat man plötzlich das Gefühl, in die Leere zu treten oder in eine absurde Situation zu geraten, rein musikalisch! Da sind Synkopen unerwartet und manche Akkorde irgendwie nicht schlüssig. Und da das Ganze auch noch aufgeladen ist mit einer Dramatik, die sich an Ludwig van Beethoven ebenso geschult hat wie an Richard Wagner, wird man als Zuhörer ganz schön durch den Fleischwolf gedreht, um es mal drastisch auszudrücken.
Leicht und unbeschwert – das gibt es hier allenfalls passagenweise oder eben sowieso nur scheinbar.
Und da kommt George Balanchine und tritt auf den Plan – in seiner Rezeption sind diese „Liebeslieder Walzer“ ohnehin mit einem doppelten Boden bestückt. Und der Choreograf überrascht! Denn:
Balanchine stellt keinen einzigen Tänzer auf die Bühne, der die Daumer’sche Lyrik vom brennenden Unglück des nicht erwiderten Verliebtseins illustrieren oder gar gestenreich darstellen darf. Im Gegenteil: Mister B., wie er in New York genannt wurde, stellt nur Paare hin, die bereits fest verbandelt sind.
Bei Balanchine geht es nämlich schon gar nicht mehr um die Freiheit des Begehrens, um die Freiheit der Wolllust, um die Wahlfreiheit, was das Liebesleben angeht. Bei Balanchine geht es ums Überleben in einer Gesellschaft, die alles andere als sozial ist. Da finden sich die Paare nach sozialen Kriterien, auch nach finanziellen – und sehen sich dann vor die Aufgabe gestellt, ihre materiell begründete Beziehung mit Inhalt und Gefühl zu füllen.
Diese Bemühungen gelingen mal besser, mal weniger gut – worunter dann beide Beteiligten leiden, wenn auch nicht immer im gleichen Ausmaß. Aber Trennung ist in dieser Gesellschaft keinesfalls leichthin denkbar. Dazu sind die Vermögen bereits zu sehr verflochten… die Freiheit, einfach zu gehen und sich zu verändern, hat ein wirklich reicher Mensch eben in weit geringerem Maß als jemand, dessen Life-Work-Balance selbstbestimmt ist.
Die Sklaven des Geldes, die hier auftanzen, sie haben niemanden anderes als ihren Partner, dem sie trauen und vertrauen dürfen.
Wenn sie mal in der Gruppe oder als Pas de trois tanzen, dann ist das schon stets ein Wagnis. Schließlich kommt die amerikanische Gesellschaft bekanntlich aus dem Western Saloon – und die menschliche Gesellschaft an sich aus dem Neandertal. Freundlichkeit war da nicht immer garantiert.
Hier aber schaffen es die vier Paare, die soziale Mischung aus nachgerade paradiesischem Frieden und erotischer Spannung aufrecht zu erhalten.
Ist das realistisch? Oder schon utopisch?
Am Ende setzen sich die Damen eine nach der anderen vornehm aufs Sofa, die Herren positionieren sich dazu – und die Tänzer applaudieren den Musikern, während langsam das Ende eingeläutet wird. Eine sehr hübsche Pointe!
Und ist sie Utopie, diese absolute Harmonie? – Bedenkt man, wie der Abend begann und wie er sich entwickelte, muss man konstatieren: ja.
Dabei gab es getanzte Wegstrecken hier, die so schön und so elegisch sind, dass man sich fast in einem Traum oder einer lebhaften Erinnerung wähnt.
Die Gesamtatmosphäre dieses Stücks ist indes so schwül wie in einem parfümgeschwängerten Salon. Die Galane und die Diven hier stilisieren sich in ihrer echten oder geliehenen Vornehmheit zu Ikonen des Elitären – und dass ist kein Zufall.
George Balanchine (1904 bis 1983) war kein rein gefühlsmäßig gesteuerter Choreograf. Er kam aus Russland, aus Sankt Petersburg, war in Paris Choreograf der Ballets Russes unter Serge Diaghilev gewesen und fand in New York die Möglichkeit, mit privaten Geldern eine Ballettschule und Compagnien aufzubauen, die zunehmend vor allem der amerikanischen Kultur Auftrieb geben sollte.
Die „School of American Ballet“ ist denn auch bis heute als stehender Begriff weltberühmt und kultiviert den Balanchine-Stil. Dieser ist eine sozusagen entrümpelte, entschlackte, auf das Wesentliche konzentrierte Variante und Weiterentwicklung des Petersburger Waganowa-Stils, der die Grundlagen des klassischen Balletts im Training subsummiert.
Als Choreograf betrieb Balanchine diese Radikalisierung mit dem tänzerischen Stil von Marius Petipa, der für die höchste choreografische Klassik überhaupt steht. Man spricht von daher von Neoklassik bei Balanchine. Allerdings übernahm Mister B. keineswegs das literarische und dramaturgische Denken von Petipa, denn dafür hatte er schlicht kein Talent. Seine Handlungsballette sind denn auch eher nicht seine Stärken. Balanchine steht vielmehr für das abstrakte (sinfonische) Ballett oder auch für Themenballette, die, wie die „Liebeslieder“, keineswegs nur die Musik umsetzen, sondern sich ganz bestimmten thematischen Tableaus und ihrer Auslotung zuwenden.
Balanchine hatte zweifelsohne Visionen, aber er hatte auch einen guten Instinkt für das große Geld. Nicht wenige Ballette, die er schuf, sollen speziell die reichen New Yorker ansprechen. Auch die „Liebeslieder Walzer“ beschäftigen sich augenfällig mit einer Thematik der Reichen. Und es mag den Ladies der High Society in NYC geschmeichelt haben, wenn sie ihre Träume von Schönheit und Begehrlichkeit, aber auch ihre latenten Eheprobleme in so hochkarätiger Form ganz dezent auf die Ballettbühne gestellt sahen.
Der doppelte Boden, den Balanchine diesem Ballett verpasste, besteht aber gerade darin, einerseits diese etwas oberflächlichen Genüsse der reichen Damen und Herren zu befriedigen, andererseits aber auch die psychologische Verstricktheit und daraus resultierende Handlungsunfähigkeit von vermögenden Paaren darzustellen.
Und da ist dann eben nicht mehr alles eitel Sonnenschein, auch wenn das Ende hier wundersam versöhnlich anmutet und sowieso der ganze Walzertraum beinahe fernsehballettreif anmutet. Aber eben nur beinahe – die Risse und Abgründe von langjährigen Ehen werden immer wieder sichtbar und wirken wie kleine Pulverfässe aus Dynamit im Gefüge der geglätteten Walzerperioden.
Vergleicht man die Balanchine’schen Walzer etwa mit den Arbeiten von Jerome Robbins zu Frédéric Chopin– und da gibt es etliche Kreationen – fällt auf, wie stark Balanchine von der Form ausging, um zu Inhalten zu finden, während die meisten anderen Choreografen (so auch Robbins) von einem bestimmten Inhalt aus eine Form entwickeln.
Aber alles neu macht der Walzer! Hier dürfen Erinnerung und Wunschdenken gerne zusammenfallen, und wenn man sich vorstellt, dass es getanzte Operetten mit tragischem Hintergrund geben könnte, dann wäre Balanchine hier der erste Vorläufer dessen.
Wie ein ballettöser Till Eulenspiegel hält George Balanchine der Gesellschaft den Spiegel vor, er verzuckert und verniedlicht allerdings so stark, dass die meisten Zuschauer gar nicht bemerken, was für Tücken und Fiesematenten er dabei mit auffährt.
Es gilt das schöne Wort des Heiligen Augustus: „Wer Augen hat zu sehen, der sehe!“
Nach der Pause geht es dann ganz woandershin. Von der Welt der Galane in die Welt des Temperaments!
Und der Orchestergraben ist gut gefüllt, denn jetzt kommt das von Arnold Schoenberg 1937 im amerikanischen Exil orchestrierte Klavierquartett Nr. 1 in g-Moll op. 25 von Johannes Brahms.
Musikalisch ist es ein Schmankerl, ein vor Romantik, aber vor allem auch vor Temperament nur so strotzendes Werk. Für Schoenberg war es ein Kommentar des freien Amerikas zum damals von den Nazis bedrängten Europa, und Schoenberg bewunderte die kunstvollen Momente, die Brahms ersonnen hatte, sehr.
Das Werk besteht aus vier Sätzen, wobei jeder Satz für sich ein Mini-Konzert sein könnte. Dass die vier Teile zusammen gehören und gemeinsam Sinn machen, erschließt sich erst gen Ende des letzten Teils. Es zeigt sich: Alle Musik kann auch Folklore zurückgeführt, von Folklore abgeleitet werden. Das ist aber eine Erkenntnis, die hier nicht plakativ vorgeführt wird, sondern die sich nur im Rückblick erschließen kann.
Schon das ist natürlich unerhört modern für 1861, dem Entstehungsjahr der Klavierpartitur. Schoenberg setzte dann hier und da noch eins drauf und verdichtete, akzentuierte, machte fasslich, wo Brahms im Unklaren oder Unwägbaren blieb.
Das ist für Balanchines Art zu tanzen, sehr zuträglich.
Man muss Balanchines Tänze stets mit einem Höhepunkt der einzelnen Bewegungen ausführen. Der Rhythmus ist dabei klar gegliedert, und die einzelnen Abschnitte der Abläufe müssen zwar organisch und geschmeidig miteinander verbunden sein, aber jede Einheit sollte für sich akkurat sein – und deutlich auf den Höhepunkt zulaufen und dann, nach ihm, abebben, was die Bewegungsstärke angeht.
Dieses Spiel mit Spannung beherrscht das Hamburg Ballett wie wohl keine zweite Balletttruppe der Welt.
Das kommt den technischen Finessen im „Brahms-Schoenberg Quartet“ ebenso zu Gute wie seiner vielfältigen Palette an Ausdruck.
Allein das Bühnenbild von Heinrich Tröger ist dieses Mal etwas sehr simpel, wenn auch hintergründig gestaltet: eine Art Trauerwolke aus grauem und schwarzem Tüll hängt über dem Bühnengeschehen und weicht bis zum Schluss nicht von der Stelle. Hier hätte man sich etwas mehr Abwechslung gewünscht, etwas, das die sehr unterschiedlichen Stimmungen der einzelnen Sätze aufgreift und modifiziert.
Die Aussage der Kulisse aber ist nicht dumm: Demnach ist das Erwachsen von Hochkultur aus der Volkskultur Vergangenheit. Worüber man trefflich streiten kann – aber es ist sicher wichtig, diese Frage zu stellen. Die Pflege des vorhandenen Kulturguts ist indes so oder so wichtig.
Es beginnt mit dem Allegro.
Lucia Ríos, die im „Weihnachtsoratorium I – VI“ von John Neumeier mit unglaublich fröhlichen, jubelnden, ja tirilierenden Sprüngen zum Stückeinstand begeistert, darf auch hier als erste Botin der gehobenen Stimmung auf die Bühne kommen.
Und wie sie mitreißt! Holla, es ist ein Vergnügen, ihr zuzusehen!
Die Jungs, mit denen sie etwas später so synchron tanzt, als seien sie alle von einem Gehirn gesteuert und ein tanzender Organismus, unterstützen diesen guten Eindruck nach Kräften. Es sind:Jacopo Bellussi, Marc Jubete, Matias Oberlin und Mathieu Rouaux – und ihre feinen Linien lassen einen erahnen, worauf es in diesem Stück hinausläuft.
Weitere Damen ergötzen das Auge mit Feinheit und Leichtigkeit: Olivia Betteridge, Viktoria Bodahl, Sara Coffield, Sara Ezzell, Greta Jörgens, Hayley Page, Airi Suzuki und Priscilla Tselikova laufen im geometrisch stets stimmigen Ablauf rasch zur Hochform auf.
Die Kostüme von Judanna Lynn sind Hinweise auf das, was später noch so richtig kommen wird: Sie haben einen folkloristischen Einschlag. Goldbesatz auf Dunkelrot am knielangen Kleid tragen die Damen, die Herren hingegen strahlen in silbergrauer Garnitur mit bordeauxroten Applikationen und pludrigen Hemdsärmeln. Sehr ritterlich!
Anna Laudere und Edvin Revazov wiederum bieten Paartanz vom Feinsten, und ihnen scheint die Balanchine-Ästhetik ohnehin so sehr zu liegen, dass man glauben könnte, sie tanzen fest in New York beim NYCB. Dennoch geben sie ihre eigene Note mit an die Choreografie – und diese lobpreist das geliebte Leben in den höchsten Tönen, sozusagen.
Das Schlussbild dieses Satzes ist bereits so umwerfend, dass es bei der Premiere langanhaltenden Beifall erntet – mit Laudere auf Revazovs Schultern und den MittänzerInnen lieblich um sie und vor ihnen gruppiert.
Schon dieser Moment lohnt den Besuch der Aufführung!
Die zuständigen Gast-Coachs Maria Calegari (eine sehr interessante Frau, die nicht nur Erste Solistin in New York war, sondern auch malt und schreibt) und Bart Cook entwickelten die Leichtigkeit und Willenskraft der Tänzer gemeinsam mit ihnen, ohne irgendetwas ohne Sinnstiftung aufzuzwingen. Man erkennt sofort, dass hier gearbeitet und nicht nur geprobt wurde.
Und es geht noch weiter, und wie!
Im „Intermezzo“ tauchen zunächst drei pinkfarben gewandete kecke Girls auf, die einem Traum aus Frühling und Frivolität entsprungen sein könnten. Yaiza Coll, Nako Hiraki und Yun-Su Park brillieren hier wie drei Grazien der Fröhlichkeit: anmutig bis zum Anschlag und liebreizend wie blühende Kirschbäume.
Als dann Xue Lin und Christopher Evans das Flair der Liebe in diese Szenerie tragen, könnte man nachgerade ausrasten vor Glück! So präsent ist Evans, wie ein Prinz aus einem exotischen Märchen, und so feminin ist Xue Lin in seinen Armen, dass man gewillt ist, an eine Wunderwelt der Verliebtheit zu glauben.
Während er im Solo vorzügliche Sprünge und zigfache Pirouetten mit vollem Elan, aber federleicht ableistet, löst sie eine besondere und seltene Aufgabe ganz prima: Xue Lin tanzt serielle Pirouetten à la seconde auf dem Spitzenschuh – eine weibliche Variante der bei Jungs häufigen Pirouetten à la seconde, wobei das Spielbein ununterbrochen gestreckt oben gehalten werden muss. Wow!
Eine so ausgefallene technische Virtuosität ist mir vom dritten Satz, dem „Andante“, nicht in Erinnerung. Dafür aber Witz und Schalk, welche Balanchine wohlbedacht und nachgerade zärtlich in seine Ornamentik der Körper mit einzuflechten wusste.
Hélène Bouchet und Alexandr Trusch sind hier das Paar, um das es geht – und mit umwerfender Anmut handhabt Trusch seine Partnerin, ehrt sie und umwirbt sie, muntert sie auf, hebt sie, dreht sie, wirbelt sie herum.
In seinen Soli kommt die Folkore zunehmend mit rein: groß und kraftvoll sind die Sprünge, und Trusch präsentiert sie mustergültig und mitreißend, mit fast erschütternder Freude im Gesicht. Was für ein Pfundskerl!
Hélène Bouchets Füße sind derweil nach wie vor die schönsten nur denkbaren Ballerinenfüße!
Eine besondere Freude hingegen ist die zarte Giorgia Giani. Immer wieder läuft sie im „Andante“ über die Bühne, ein kleiner Irrwisch auf der Suche nach Lebensfreude – und wenn die anderen Girls in Reih und Glied tanzen, dann huscht Giorgia zwischen ihnen hindurch, und sie ist das Salz in der Suppe mit ihren niedlichen, aber gar nicht gekünstelten Laufschritten!
Vierzehn weitere junge Damen machen das Tanzglück hier vollkommen, bilden Bögen und bewegte Reihen, und weil sie fantastisch trainiert und gruppiert, also aufgestellt, sind, hat man den Eindruck, es sind eher 40 an der Zahl als vierzehn.
Der vierte Satz toppt dann allerdings alles! Balanchine lässt endlich die Katze aus dem Sack: All das Getändel im „Brahms-Schoenberg Quartet“ dient der Erweckung des Balletts aus dem Geiste der Folklore.
Das „Rondo alle Zingarese“ ist eine Paraphrase auf die ungarische Volkstanzkultur, auf den Czárdás.
Die junge Madoka Sugai, die bereits jetzt ein Superstar ist – dem Können nach – und Karen Azatyan, der ein brillanter Springer ist und dennoch manchmal Mühe hat, mit der furiosen Sugai mitzukommen, entfachen ein Feuerwerk, wie man es im klassischen und neoklassischen Ballett eigentlich nur noch aus „Don Quixote“ kennt.
Mit unglaublich raffinierten Schrittkombinationen beeindruckt vor allem Madoka Sugai, die blitzschnell und dennoch pieksauber bourriert, auf dem Standbein im Plié auf Spitze en attitude dreht, und das Ganze auch noch en manège ausführt.
Man möchte vor Begeisterung aufspringen und sie anfeuern!
Allerdings ist Balanchine nicht Petipa – und wo bei Petipa und vor allem bei Petipa in den Versionen von Rudolf Nurejew (etwa in dessen „Don Quixote“ oder auch in Rudis „Nussknacker“) manchmal so richtig die Sau rausgelassen wird, ist bei George Balanchine immer alles domestiziert, kontrolliert und stilvoll überformt.
Trotzdem springen hier die Funken!
Karen Azatyan ist ein Interpret par excellance für solche Sachen, und die quirligen, dennoch perfekten Figuren, die er springt, brennen sich einem unvergesslich ein.
Ach, und Madoka Sugai erfreut das Herz mit ihrer absolut lupenreinen Technik, die dennoch niemals kalt oder ausdruckslos wirkt, sondern mit der diese kommende Megaprimaballerina Lust und Leidenschaft zeigt wie kaum eine andere Tänzerin.
Die Schlusspose – sie liegt bodennah auf Zehenspitzen in seinen Armen – erinnert an die berühmte Cambré-Pose aus George Balanchines „Midsummer Night’s Dream“, was auf Selbstzitierung bei Mister B hinweist. Da sieht man Madoka doch gleich ganz als Titania, was in der Tat reizvoll ist.
Auch das Corps de ballet wird hier übrigens gefordert und ist hübsch anzusehen, und es ist nur schade, dass ein Talent wie Marcelino Libao– der nicht nur, aber gerade auch temperamentvolle Parts ganz vorzüglich tanzt – hier keine großen Soli hat.
Das ist der Nachteil, wenn es keine neue Kreation zu kredenzen gibt, sondern „nur“ eine Einstudierung: unter Umständen hätte das Hamburg Ballett noch mehr zu zeigen, als bei George Balanchine möglich.
Der Abend ist ja den beiden Größen Balanchine und Brahms gewidmet, und moderne Ballette zu Brahms sind in der Tat gar nicht mal so selten.
Am bekanntesten ist „Choreoartium“ von Léonid Massine von 1933, aber auch die „Initialen R.B.M.E.“ von John Cranko (1972) sind fester Bestandteil der Ballettgeschichte.
Die „Ungarischen Tänze“ von Brahms spielen hingegen vor allem im Laien-Ballett eine große Rolle, kaum eine Kinderballettschule kommt ohne sie aus.
Der umstrittene Ballettschöpfer Martin Schläpfer hat sich außerdem mit etlichen Werken an Brahms abgearbeitet, am gelungensten scheint mir „Ein Deutsches Requiem“ von 2011.
Vor allem aber würde man sehr gern mal wieder die „Regenlieder“ sehen, die John Neumeier 1983 für die Nijinsky-Gala IX kreiert hat. Nach einem von Brahms vertonten Gedicht des norddeutschen Dichters Klaus Groth– zu dem der immer leicht schwermütige Ton von Brahms gut passt – lässt Neumeier darin tänzerisch von der Kindheit Abschied nehmen.
Die hohe Neumeier’sche Kunst, Formen und Inhalte zu verbinden, ist nun mal auch von einem George Balanchine längst nicht im selben Ausmaß erreicht worden.
Das lässt sich bei dem Besuch eines Programms mit Choreografien von John Neumeier leicht überprüfen. Aber auch ein zweiter Besuch bei George Balanchine beim Hamburg Ballett wird sich lohnen: In der Ornamentik der Körper aus dem Zeitalter der Galanterie sind viele Details zu entdecken.
Gisela Sonnenburg