Herzenswünsche und ihre Erfüllung München erfüllt sich seine Träume: mit Nancy Osbaldeston zu Gast in „Der Nussknacker“ von John Neumeier beim Bayerischen Staatsballett

Unwiderstehlich: "Der Nussknacker" von John Neumeier

Unwiderstehlich: „Der Nussknacker“ von John Neumeier, hier von Nancy Osbaldeston als Gastsolistin beim Bayerischen Staatsballett in der Rolle der Marie und mit Jonah Cook als Ballettmeister Drosselmeier zu sehen. Wie schön! Und: Was für ein Spaß für Jung und Alt! Foto: Wilfried Hösl

Eigentlich ist es seltsam: Es gibt hier keinen Weihnachtsbaum und keine tanzenden Schneeflocken, keine Schlittschuhläufer und keine Mäuse, keine Zinnsoldaten und kein Kinderballett und vor allem kein Land der Süßigkeiten – und doch ist „Der Nussknacker“ von John Neumeier eine der beliebtesten Versionen dieses Tschaikowsky-Balletts, dessen ursprüngliches Libretto sich Marius Petipa nach einer Erzählung von E.T.A. Hoffmann für die Weihnachtszeit 1892 ausdachte. Aber das Stück ist, in Neumeiers Fassung, die 1971 in Frankfurt am Main uraufgeführt wurde, ein mehrere Generationen umfassendes Handlungsballett übers Erwachsenwerden ebenso wie über die Liebe zum Theater und zum Tanz. Welcher Ballettfan könnte da also widerstehen? Und nicht wenige Menschen, die entweder noch im Kindesalter oder bis dahin nur Opernfans waren, wurden von diesem unkitschigen „Nussknacker“ schon zum Ballett bekehrt. Das Bayerische Staatsballett unter Igor Zelensky gönnt sich und seinem Publikum nun mit der superzierlichen Nancy Osbaldeston vom Royal Ballet of Flanders eine hervorragend passende Gastsolistin für die kindliche Hauptrolle der Marie. Aber auch die Besetzungen mit Münchner Ballerinen und Ballerinos machen einen so ganz und gar glücklich, wie es sich für dieses zuckersüße, aber nie übersüßte Ballettstück gehört.

Es beginnt mit dem zwölften Geburtstag von Marie, die mit ihren Seidenschleifen im Haar und am Rücken sowie mit den geschnürten schwarzen Stiefelchen ganz dem Idealbild eines kleinen Mädchens zur Zeit der Belle Époque entspricht. Die Originalausstattung von Jürgen Rose, die das Interieur einer herrschaftlichen Villa dieser Zeit umfasst, ist generös und festlich – und ist fürs Ballett auch insofern passend, als sie die einfallsreichen, gar nicht steifen Schrittkombinationen betont und bestens aussehen lässt.

Marie tändelt an ihrem Geburtstag zunächst erwartungsfroh allein durchs Wohnzimmer. Und als ihr die Porzellanballerina im Regal auffällt, steigt sie aufs Sofa, um sich mit diesem tanzenden Figürchen zu beschäftigen. Ihre Kinderpuppe hat dagegen ausgedient – Marie interessiert sich jetzt doch mehr für andere Dinge!

Nancy Osbaldeston – gebürtige Britin und bis 2008 an der English National Ballet School in London ausgebildet – ist so zart und zierlich, dass man kein Problem damit hat, ihr die Zwölfjährige abzunehmen. Und wenn sie einen Flunsch zieht, dann wirkt das fast wie bei einem Kinderstar der frühen Hollywood-Farbfilmära. Ja, doch, sie ist eine andere Judy Garland – allerdings tänzerisch so ausgereift, dass es nur im Theater so sein kann, dass sie noch so kindlich wirkt.

Nancy tanzte bereits die feurigen „Rubies“ in den „Jewels“ von George Balanchine mit dem Bayerischen Staatsballett (BS) und hatte jetzt ihr Rollendebüt in München als Marie.

Heißa! Sie ist ja nicht nur klein und zierlich, sondern auch besonders quirlig – eine Traumbesetzung also für Marie, die hier als recht wilde junge Dame ihre heimlichen Wünsche ausleben darf.

Unwiderstehlich: "Der Nussknacker" von John Neumeier

Drosselmeier (Jonah Cook) entführt Marie (Nancy Osbaldeston) in die Theater- und Ballettwelt… na, da geht man doch gerne gedanklich mit! Foto vom Bayerischen Staatsballett: Wilfried Hösl

Als Drosselmeier, der in John Neumeiers Version ein Ballettmeister und Choreograf vom Königlichen Hoftheater ist, steht ihr Jonah Cook vom BS zur Seite: Es ist ungewöhnlich, dass ein so junger Principal diese Partie tanzt; Drosselmeier ist hier zwar kein altehrwürdiger Pate, aber ein schrulliger, skurriler, von seinen Theaterträumen besessener Künstler. Cook, wie Osbaldeston aus England stammend, aber bei der Londoner Konkurrenz, der Royal Ballet Upper School, ausgebildet, erfüllt diese Rolle ebenso mit Verve wie sonst die Liebhaber-Parts. Von den roten Haare, die hier wie eine Hommage an Ludwig II. von Bayern in Kräuselwellen gelegt sind, bis zu den stets bildschön gestreckten Füßen ist er eine Ikone des Balletts: streng und egozentrisch, aber stets elegant und anmutig.

Er schenkt Marie ein Paar Spitzenschuhe – aber auf diesen muss Marie erst noch lernen, gut zu tanzen.

Unwiderstehlich: "Der Nussknacker" von John Neumeier

Ein Spagatsprung wie mit dem Lineal in die Luft gezogen: Prisca Zeisel als Louise im „Nussknacker“ von John Neumeier beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Ihre Schwester hingegen, Louise – bravourös getanzt von der Wienerin Prisca Zeisel – ist bereits Primaballerina unter Drosselmeier am Hoftheater, und ihrem Verlobten namens Günther gefällt das sehr. Emilio Pavan – First Soloist in München (in der übersetzten Rangfolge einfacher Solist in Abgrenzung zu den Ersten und Halbsolisten)  – tanzt diesen Anführer der Kadetten mit dem gebührenden Charme, auch mit dem notwendigen Drive an Männlichkeit. Und einen goldigen Sinn für Humor hat er – Louise als seine Künftige wird es schwer haben, ihm den Schalk im Nacken auszutreiben.

Ach, Günther! Marie schwärmt ja so sehr für diesen schmucken Mann, obwohl er doch an ihre Schwester vergeben ist und sie zudem mit ihren nun gerade mal zwölf Jahren noch keine wirklichen weiblichen Reize hat.

Aber sie genießt es, mit Günther scherzhaft zu tanzen, von ihm emporgehoben zu werden und später, in ihrem Traum, da tanzt sie mit Günther sogar einen Pas de deux, der an Liebreiz und Brillanz nichts vermissen lässt.

Zunächst aber wird Geburtstag gefeiert. Mit Torte und Tanten, mit Freundinnen und Fotograf.

Es ist immer wieder verblüffend, wie viele Details John Neumeier sich hier ausdachte, um sein Publikum zu unterhalten, zu überzeugen und zu beschäftigen.

Jede der Figuren hat, ganz im Sinne Stanislawskis, eine eigene Geschichte. Da ist die kunstbeflissene Tante, die von Séverine Ferrolier köstlich gemimt wird, und die ganz verschossen in den weltentrückten Drosselmeier ist. Und da ist Jeanette Kakareka als liebende Frau Stahlbaum, also als die freundliche Mutti von Marie, die ihren werten Gatten (nett  Eund bücherliebend: Henry Grey) immer wieder maßregeln muss und dann später in Maries Traum die edelmütige altägyptische Tempeltänzerin abgibt. Da Jeanette außerdem auch noch eine Solistin im Hofballett tanzt, ist sie für diese Vorstellungen ganz schön ausgelastet – auch ohne Hauptrolle.

Die drei Kadetten – Maries Bruder Fritz und seine Kollegen – sind bereits im ersten Bild, auf der Geburtstagsfeier, ein Knüller: Dmitrii Vyskubenko als Fritz profiliert sich zudem hervorragend mit seinen tollen hohen Sprüngen – und überhaupt können die Münchner sich diesbezüglich wirklich nicht beschweren.

Als die Feier ihrem Ende zugeht, interessiert sich Marie außer für den titelspendenden Nussknacker, den sie als Geschenk erhielt, und den sie in den Armen hält wie einen kleinen Mann, sehr für ihre Spitzenschuhe. Ob sie jemals darin richtig wird tanzen können? Vorerst sehen ihre Versuche noch recht hilflos aus…

Mit dem Nussknacker im Arm schläft sie ein, glücklich und erschöpft von diesem Geburtstag an der Schwelle zum Erwachsenwerden.

Und in ihrem Traum weckt Meister Drosselmeier sie auf!

Unwiderstehlich: "Der Nussknacker" von John Neumeier

Marie (Nancy Osbaldeston) tanzt bald mit Meister Drosselmeier (Jonah Cook) in der Traumwelt des Theaters… Foto vom Bayerischen Staatsballett von „Der Nussknacker“ von John Neumeier: Wilfried Hösl

Mit seinem rosa gefütterten Umhang wirkt er wie ein Magier, und tatsächlich entführt er Marie in eine Welt, in die sie sich allein kaum hinein getraut hätte: ins Theater, auf die Bühne, wo eben noch eine Probe läuft. Das Stück, das geprobt wird, ähnelt den „Études“ von Harald Landers.

Marie darf über den Orchestergraben auf die Bühne krabbeln – und sogar, wenn man diese Szene schon Dutzende Male gesehen hat, muss man jedes Mal erneut darüber schmunzeln.

Nancy Osbaldeston mit ihrer geschmeidigen Körperkunst ist da erst recht ein Hingucker, aber auch, wenn sie auf Drosselmeiers Gebot hin mittanzen darf, entzückt sie bis zum Anschlag!

Der Paartanz mit ihrem Schwarm Günther, der hier als Primoballerino auftaucht, gleicht da dem Ausprobieren des für ein Kind ganz neuen Lebensgefühls als Paar.

Unwiderstehlich: "Der Nussknacker" von John Neumeier

Bravo! Prisca Zeisel und Emilio Pavan in dem berühmten Grand pas de deux im „Nussknacker“ von John Neumeier beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Aber auch Prisca Zeisel gibt mit Emilio Pavan ein begeisterndes Pärchen ab.

Frische, Akkuratesse, Lebendigkeit – für diese Qualitäten stand das Bayerische Staatsballett schon unter Ivan Liska, und dass Igor Zelensky als Ballettdirektor diese guten Traditionen weiterführt (wie auch die, Ballette von John Neumeier in München aufführen zu lassen), ehrt ihn und bereitet den Zuschauern sichtlich Pläsier!

Drosselmeier indes probt – streng, aber ganz in seinem Element – in seiner Verkörperung von Jonah Cook mit einem bezaubernden Damen-Corps sowie mit Prisca Zeisel im Solo. Und als eine der jungen Ballerinen von ihm gefeuert wird, weil sie manchmal zu langsam kapiert, kümmert sich Marie um sie und spendet Trost.

Aber ihr liebenswerter Herzenstraum geht noch weiter…

Drosselmeier präsentiert ihr nämlich eine richtige Vorstellung, eine Gala mit Kostümen und abwechslungsreichen Mini-Stücken, mit Folklore und Virtuosität – und der Grand Pas de deux ist natürlich auch dabei.

Eine festliche Stimmung und die dramatisch-gefühlvollen Musiken von Peter I. Tschaikowsky unter dem Dirigat von Robertas Servenikas geleiten zu den Höhepunkten dieses an vielen Stellen wirklich atemberaubenden Balletts von John Neumeier.

Mit der Solovioline verleiht David Schultheiß vielen Melodien ihre Extraportion Schmelz.

 

 

Für freiberufliche journalistische Projekte wie das Ballett-Journal, das Sie gerade lesen, gibt es keine  staatliche Förderung in Deutschland – und dennoch macht es sehr viel Arbeit. Wenn Sie das Ballett-Journal gut finden, bitte ich Sie hiermit um eine freiwillige Spende. Damit es weiter gehen kann! Im Impressum erfahren Sie mehr über dieses einzigartige Projekt, das über 500 Beiträge kostenlos für Sie bereit hält. Es wäre toll, wenn Sie das Ballett-Journal unterstützen könnten!

Auch das für den „Nussknacker“ traditionelle Solo der Zuckerfee zur Celesta, einem zur Zeit der Uraufführung neuen Trendinstrument, das ähnlich wie ein Xylophon klingt, gibt es natürlich – Marie darf es hier selbst tanzen, in Spitzenschuhen, und es ist ihr Triumph in dieser hochkarätigen Traumnacht, dass sie es so gut beherrscht.

Auch Drosselmeier tanzt manchmal mit, so die chinesische Variation – und er hat außerdem allerhand damit zu tun, in clownesker, manchmal auch in Slapstick-Manier die Tänzerinnen und Tänzer auf die Bühne zu rufen und sie Marie zu präsentieren.

Unwiderstehlich: "Der Nussknacker" von John Neumeier

Dmitrii Vyskubenko tanzt den Fritz in Neumeiers „Nussknacker“ – und begeistert mit supertollen Sprüngen! Foto vom Bayerischen Staatsballett: Wilfried Hösl

All die Divertissements, die diese „Gala“ ausmachen, illustrieren die Lust am Theater und an Kostümen, vor allem aber auch die Lust auf Tanz und die Vielfalt, in der sich modernes klassisches Ballett zeigen kann.

Prisca Zeisel und Emilio Pavan brillieren im elegant-raffiniert gestalteten Grand Pas de deux in den berühmten, von etlichen Nachfolge-„Nussknacker„-Inszenierungen anderer Choreografen zitierten bordeauxrot-gold-weiß gestalteten Kostümen. Priscas Spagatsprünge sind zudem wie mit dem Lineal in die Luft gezeichnet: glamourös!

Aber auch die anderen Darsteller sprühen nur so vor guter Laune und Präzision gleichermaßen.

Ein Highlight: Die mannshohen Bockssprünge von Fritz und seinen beiden Gefährten, die hier einen etwas anderen, wirklich peppigen Kosakentanz aufführen. Aber hallo, da springt Fritz seinen beiden Kollegen einfach in die Arme, und als sei das eine ganz besonders bequeme Lage, genießt er es, von ihnen waagerecht mit gestreckten Beinen auf den Armen gehalten zu werden, um mit der rechten Hand an der Mütze zu grüßen. Sehr zackig!

Nach einem munteren, fast überdreht wirkenden Finale findet indes auch dieser Theaterspaß sein Ende.

Drosselmeier führt Marie nachhause in ihr Elternhaus, wo sie noch ein paar Schritte tanzt und dann mit dem Nussknacker im Arm wieder einschläft. Die fürsorgliche Haushälterin findet sie, weckt sie und geleitet sie die Treppe ins Kinderzimmer hoch.

Unwiderstehlich: "Der Nussknacker" von John Neumeier

So fing alles an: mit einer kunterbunten Geburtstagsfeier im Stil der Belle Époque…  beim Bayerischen Staatsballett in „Der Nussknacker“ von John Neumeier. Foto: Wilfried Hösl

Meister Drosselmeier aber wirft ihr noch eine Kusshand zu – und als Magier der Theaterträume vollführt er ein letztes, mächtig wirkendes Port de bras.

Wer auch eine Porzellanballerina daheim stehen hat, weiß jetzt, wozu sie gut ist: um vom Ballett in seiner schönsten und anmutigsten Form zu träumen!
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg

www.staatsballett.de

ballett journal