
Hans van Manen, als Choreograf vor allem beim Nederlands Dans Theater tätig, welches er mit gründete, hier im Portrait. Foto: Sebastian Galtier
Er hat Glück gehabt, der liebe Hans, denn wäre er heute jung, so würde ihn die selige Ballettgemeinde nicht mal mehr fünf Minuten an einem Staatstheater choreografieren lassen. Dazu weiter unten mehr. Der Weg von Hans van Manen zum Ballett ist jedenfalls verschlungen, führte über eine Ausbildung zum Maskenbildner zum Theater – und dann durch Talent zum Ziel. Nach minimierter privater Tanzausbildung als Erwachsener schaffte er es bis in die Compagnie von Roland Petit in Marseille. Dort schulte er seinen Blick. Seit 1957 choreografiert van Manen, sein Vorbild George Balanchine aber bleibt von ihm unerreicht. 1960 war er Ko-Gründer vom Nederlands Dans Theater, später – bis 1987 – Ballettmeister bei Het Nationale Ballet. Rund 120 relativ kurze Werke schuf er – und im Juli wird er den 93. Geburtstag feiern. Fünf seiner Stücke bündelt das Stuttgarter Ballett nun (Premiere war gestern) zu einer mit dem pfiffigen Titel „Fünf für Hans“ versehenen Hommage.
Es ist zwar eher ein Abend mit „Fünf von Hans“. Aber wen interessieren heute schon solche Feinheiten? Wichtig ist, dass man hier einen gediegenen, neoklassischen Stil in halber Abstraktion, aber in stilistischer Vollendung serviert bekommt. Das heißt: Es sind zwar Inhalte erkennbar, aber keine individuellen Charaktere. Emotionen bleiben überwiegend draußen, die Körper sprechen durch stark stilisierte, oft überaus edle, auch raffinierte Bewegungen.
Sympathisch ist van Manens Vorliebe für gestisch ausdrucksstarke Posen. Und: Hier feiert der Pas de deux fröhliche Urständ. Denn das Dauerthema bei Hans sind die Liebesbeziehungen zwischen Mann und Frau.
Das bekannteste Stück von Hans van Manen macht jetzt den Anfang: „Adagio Hammerklavier“ wurde 1973 von Het Nationale Ballet in Amsterdam uraufgeführt.

„Adagio Hammerklavier“ von Hans van Manen: Drei Paare ergehen sich in elegischen Tänzen. Foto vom Stuttgarter Ballett: Roman Novitzky
Drei Paare ergehen sich in mehr oder weniger konventionellen, aber ungewöhnlich geschliffenen Exerzitien, zu Musik von Ludwig van Beethoven. Dessen Adagio aus der Klaviersonate Nr. 29 in B-Dur opus 106, die so genannte „Hammerklaviersonate“, gilt als furioses Meisterwerk, das trotz des langsamen Tempos dem Interpreten ziemliche Virtuosität abverlangt. Der neckische Titel versteht sich als Ersatz für „Pianoforte“, in Abgrenzung zu historischen Klavierinstrumenten.
Es folgen „Two Pieces for Het”, in dem Mackenzie Brown (die das Stuttgarter Ballett im Sommer leider verlassen wird) und Martí Paixà als Pärchen auf den zweiten Blick brillieren.
„Trois Gnossiennes“ gehören Friedemann Vogel und Elisa Badenes (in der Premierenbesetzung), das „Solo“ der jungmännlichen Kraft von drei tänzerischen Heroen zu Klängen von Bach.
Die „Frank Brigde Variations“ erfreuen dann alle, die die Musik von Benjamin Britten schätzen. Die Probleme von Frank Bridge sehen wir hier allerdings weniger, vielmehr tanzen fünf Paare ihr auch schon alltäglich anmutendes Liebesspiel.
Stil ist alles bei van Manen – und hier bekommt man fast eine Überdosis davon. Fraglich, ob es clever ist, einen ganzen Abend mit seinen kurzen Ergüssen zu füllen, zumal sie thematisch kaum Abwechslung bieten.
Aber Ballettintendant Tamas Detrich fiel wohl nicht mehr ein.

Mikhail Agrest, wie man ihn kennt und schätzt: ein souveräner, eleganter, kreativer Könner der Klassik und des Balletts. Foto: Daniil Rabovsky
Musikalisch führte nicht Mikhail Agrest als Dirigent durch den Abend, sondern Wolfgang Heinz. Dabei sollte es Agrests letzte Premiere als Stuttgarter Ballettmusikdirektor sein. Detrich hat nämlich seinen Vertrag nicht verlängert, was erneut für einen nicht sicher guten Geschmack des Herrn Ballettintendanten spricht. Denn Agrest ist als Koryphäe im klassischen und gerade auch im Ballettbetrieb international begehrt. Man muss vermuten, dass seine eigene persönliche Eitelkeit für Tamas Detrich wichtiger ist als eine sachlich richtige Entscheidung.
Agrests Vorgänger James Tuggle hatte noch eine Lebensstellung beim Stuttgarter Ballett. Aber der Wunsch der Chefs nach langfristigen Verbindungen ist heute wohl oft nicht mehr so stark.
Jetzt noch rasch die Erklärung, warum Hans van Manen so ein Kind seiner Zeit ist:
Wer heute nicht jahrelang schon im Kindesalter in einer staatlichen Drillanstalt zum Tänzer geformt wird und anschließend in Vollzeit in einer staatlich bezahlten Truppe dient, braucht sich als Choreograf gar nicht erst anzumelden. Es sei denn, er oder sie hat hochkarätige Protektion, etwa durch Verwandtschaft mit Superreichen, dann kann es eine Ausnahme geben.
Dabei gehen die eigentlichen Talente für Choreografie unserer Zeit unvermeidlich verloren. Denn das Schöpfen von Tanzstücken ist nicht dasselbe, wie sie möglichst perfekt zu tanzen.
In anderen Branchen kennt man den Unterschied zwischen Kreation und Vortrag. Orchestermitglieder werden nur in den seltensten Fällen Komponisten. Sänger werden es so gut wie nie. Schauspieler werden nur sehr selten Dramatiker oder Drehbuchautoren. Und nur im Jazz gibt es durch das starke Element der Improvisation eine Aufweichung der Linien.
Aber im Klassikbereich ist klar, dass, wer seit Kindesbeinen stundenlang an seiner Arbeit als Interpret schuftet, nicht genügend Freiraum im Kopf für professionelle Schöpfungen ausbilden kann.

Friedemann Vogel und Elisa Badenes proben Hans van Manen. Foto vom Stuttgarter Ballett: Roman Novitzky
Hans van Manen hatte – wie George Balanchine, John Cranko, John Neumeier, Maurice Béjart, Glen Tetley, Kenneth MacMillan und so viele andere – das Glück, zu einer Generation zu gehören, in der man noch die schöpferische Kraft der Choreografie als wichtig erachtete.
Insofern kann man immer von den Fossilen lernen.
Gisela Sonnenburg

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