Wenn die Götter neidisch werden Gewerkschaftskampf und Nacho Duatos Bach-Ballett „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ beim Staatsballett Berlin

Vielfältigkeitsapplaus

Nach heftigem Szenenapplaus dann auch ein großer Jubel beim Schlussapplaus: Das Staatsballett Berlin mit Polina Semionova (mit maskenweißer Gesichtsbemalung) nach der Premiere von Nacho Duatos „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ in der Komischen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

VIELFALT STATT EINFALT

Vielfalt ist das Gegenteil von Einfalt. Um das zu beweisen, schuf der spanische Meisterchoreograf und aktuelle Ballettintendant Berlins, Nacho Duato, sein aus 23 Szenen collagiertes Ballett „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“. Es ist sein bislang schönstes, elegantestes, auch witzigstes Werk und entstand schon 1999 im Auftrag der Stadt Weimar, die sich damals für ein Jahr als Kulturhauptstadt Europas feierte. Im Mittelpunkt der Tänze steht die Figur des Komponisten Johann Sebastian Bach, dessen Musiken den diffizilen, beziehungsreichen Bilderbogen Duatos auslösten. In der Komischen Oper Berlin premierte das Stück jetzt mit dem Staatsballett Berlin, im energetisch passenden Bühnenbild des Architekten Jaffar Chalabi und mit den vom Choreografen zusammen mit Ismael Aznar ersonnenen smart-frivolen, modisch-aufregenden Kostümen.

Polina in Berlin

Polina Semionova und Michael Banzhaf: Muse und Johann Sebastian Bach in Nacho Duatos „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ in der Komischen Oper Berlin. Foto: Fernando Marcos

Als Stargast poetisierte Polina Semionova, im tragenden weiblichen Part, als Muse, Todesengel, Sinnbild der Liebe gleichermaßen, den zweiteiligen Abend. Um mit dem ergreifenden Schlussbild anzufangen: Das Ensemble tanzt ekstatisch zuckend in einem überdimensionalen Industrieregal am Bühnenhorizont, da überquert Polina im geschlitzten schwarzen Flamencorock, mit aufgemalter weißer Halbmaske im Gesicht, diagonal die Bühne. Sie geht, sie schreitet, sie hat all den Tanz des Abends hinter sich gelassen. Aber welche Aura geht von ihr aus! Kein Hochmut, keine Ignoranz, keine Weltentrücktheit trübt ihre Präsenz. Klar und sicher, dennoch behutsam und sensibel wirkt sie – und strahlt all jene Kraft noch einmal aus, die in den vorangegangenen knapp zwei Stunden (inklusive Pause) Herz und Hirn gleichermaßen beschäftigte.

SAGENHAFTER TONSETZER

Das Stück um den barocken Tonsetzer Bach, der von 1685 bis 1750 lebte, hat es aber auch in sich. Die soghafte Wirkung von unterschwelliger Androgynität und Sexualität, ausgedrückt im Spiel der Fantasie im Kopf des Komponisten, umfasst all seine Hirngespinste, Ängste, Sorgen, Kümmernisse, vor allem aber auch seine Lust und Freude am gelingenden Experiment. Bachs ungehemmter Spieltrieb, seine obsessive Faszination von barock implodierenden melodischen Läufen in rhythmischer Verflechtung sind da illustriert. Das ausgezeichnete Programmheft hilft hier zu verstehen: Bachs selbst entworfenes Siegel zeigt, dass auch er ein Allround-Künstler war, und die Kommentierung seines Lebenslaufs macht klar, wie ungewöhnlich das Barockgenie zu seiner Zeit war.

Kann man so eine Persönlichkeit ohne Kitsch auf die Bühne bringen? Wieder ein Beweis des Abends: Bach, in bewusst verhaltener Intensität und gleichermaßen mit Intimität getanzt von Michael Banzhaf, tanzt sich trotz Barockkostüm mit Perückenzopf zeitlos schwebend durch sein eigenes Leben und Wirken, unter Verzicht auf klassische äußere Handlungsszenen und dafür unter steter Einbeziehung der inneren Handlungsabläufe. Vulgo: Es ist, als spräche Bach laut zu sich selbst, ein rhetorischer Monolog über sein Leben und seine Schaffenskraft erfüllt uns, doch statt aus Worten ist diese Rede aus allerfeinstem Tanz gewebt.

Die Premierenvorstellung war in allen Szenen so stark durchgearbeitet und mit soviel auf den Punkt gebrachtem Elan präsentiert, dass sie dem glich, was man Vollkommenheit nennt. Es ist etwas, das man fühlt und das einen erfüllt – gnadenlos schön und erhebend. Die Götter, und zwar alle rund 30 000, die es laut seriöser ethnologischer Erhebung derzeit weltweit in den verschiedenen Religionen geben soll, könnten hier neidisch werden, denn so ein hoher Perfektionsgrad ist auch in der Kunst wirklich selten.

Cello

Bach spielt mit dem Cello – einer der witzig-erotischen Höhepunkte des Balletts „Vielfältigkeit“ in der Komischen Oper Berlin. Foto: Fernando Marcos

Ein erster Höhepunkt bot sich in der dritten Einzelszene: Zur Cello-Suite sitzt und spreizt sich die Duato-versierte Giuliana Bottino als Cello auf dem Schoß des Komponisten. Er bespielt sie, neckt sie, sie reckt und streckt sich, sie wirft die schönen Beine hoch, beugt den fast busenlosen Oberkörper ohne Gegengewicht nach hinten, sie steht auf. Eine wandelnde Note der Grazie! Sie und Banzhafs Bach tanzen mal wie ein Liebespaar, mal wie Schöpfer und Kreatur, mal sind sie Herrchen und Frauchen, dann wieder Herrchen und Hündin. Neckisch, lieblich, aber auch ein bisschen streng, dabei aber immer hochgradig geschmeidig wirkt dieser Tanz, von Anmut durch und durch getränkt. Welch Genuss.

Was ist Schönheit, allgemein gesehen? Ballett? Nur Ballett? Von Nacho Duato? Ja. Man kann nicht anders. Man muss es lieben.

EINFALT STATT VIELFALT

Zuvor jedoch zeigten sich Vielfalt und Einfalt in noch ganz anderer, viel lebenspraktischerer Art. Die Besucher der Premiere erhielten, wie derzeit die meisten Besucher des Staatsballetts Berlin, vor dem Eintreten in den Kulturtempel Flugblätter verschiedener Gewerkschaften an die Hand.

Flugblatt

Miriam Wolff (rechts), ehemals Tänzerin an der Komischen Oper Berlin, setzt sich heute mit ver.di für die Künstlerbelange der Balletttänzer ein. Hier in Aktion beim Flugblattverteilen vor der Komischen Oper. Foto: Gisela Sonnenburg

Fazit der Lektüre und Recherche: ver.di muss sich derzeit gegen ein unbotmäßiges Mobbing wehren. Den Schaden tragen viele Tänzer davon. Deren Verträge könnten gerechter, auch leistungsbezogener und vor allem für sie selbst motivierender sein. Da verlangt ver.di mit vorgelegten Konzepten nichts Unmögliches, sondern sinnvolle Nachbesserungen, die Schieflagen verhindern sollen. Über 80 Prozent der Berliner Staatsballetttänzer sind Mitglieder bei ver.di. Sie wollen nicht unbedingt mehr Geld. Sie wollen auch mehr Mitsprache bei Pausenregelungen und solchen Dingen. Doch die Stiftung Oper in Berlin verweigert ver.di schlichtweg die Verhandlungen, mit einer Ignoranz, die schon an Peinlichkeit grenzt. Die bereits mit zwei anderen Gewerkschaften, die allerdings kaum Mitglieder im Staatsballett haben, ausgehandelten Gehaltserhöhungen für Tänzer, seit Januar 2015 fällig, werden bislang sogar einfach einbehalten. Ganz so, als seien sie ein Geiselpfand. Das ist brutale Einfalt – ein Skandal.

Hund

Auch Hunde kämpfen für die Tänzer vom Staatsballett Berlin, bitten um mehr Rechte für die Künstler: ver.di-Hündin Lotti half beim Flugblattverteilen vor der Komischen Oper in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Problematisch ist im Kontext, dass der Geschäftsführende Direktor des Staatsballetts Berlin, Georg Vierthaler, diverse Posten, die einer Arbeitnehmervertretung entgegen stehen, in Personalunion in sich vereint. Der 1957 im Bayerischen geborene Vierthaler, kein Jurist, sondern Betriebswirtschaftler, ist nämlich nicht nur beim Staatsballett Berlin beruflich aktiv, sondern zugleich auch Generaldirektor der Stiftung Oper in Berlin. Zu diesem Posten heißt es bei der Stiftung: „Dem Generaldirektor kommt in diesem Gremium eine sehr wichtige Rolle zu. Er vertritt die Stiftung nach innen und außen, führt die Geschäfte und hat große Entscheidungskompetenz, gegen sein Veto kann der Stiftungsvorstand keinen Beschluss fassen.“ Soweit, so machtvoll.

Aber: Vierthaler bekleidet mit diversen Ehrenämtern noch weitere einflussreiche Jobs. Er ist Vorsitzender des Landesverbandes Berlin des Deutschen Bühnenvereins, er ist außerdem ehrenamtlicher Richter beim Bühnenschiedsgericht sowie am Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg. Es ist anzunehmen, dass er auch Kontakte in die Beraterszene hat. Und eben falsche Beratung abbekam, die ihm noch nicht mitteilte, dass auch Künstler in Deutschland das Recht auf freie Gewerkschaftswahl haben und dieses zu respektieren ist.

Immer wieder versuchen honorargeile Anwälte und Consultants, mit absurden, auch dreisten Ideen die Rechte von beruflich leichthin  Auszubeutenden zu unterlaufen. Die Chose „Staatsballett Berlin“ riecht geradezu danach, dass in der Chefetage der Stiftung Oper in Berlin unter der Devise „Sparen, bis es quietscht“ wirklich idiotische Ratschläge erteilt wurden.

ver.di

Auch Peter Schrott verteilt für ver.di vor der Komischen Oper in Berlin Flugblätter – und diskutiert gern über Arbeitsrechte von Balletttänzern. Foto: Gisela Sonnenburg

Ich frage mich manchmal, wieso nicht Journalisten als Berater von Kultureinrichtungen gebucht werden. Meine Berufsgruppe – die im übrigen dank subtiler Drangsalierung durch Wirtschaft und Politik so stark in Verruf kam, wie es der Fall ist – scheint mir dafür durchaus geeignet. Journalisten sind meistens keineswegs so betriebsblind wie angebliche Eliteanwälte oder PR-Agenturen. Deren Strategien zielen nämlich zügig auf kurzfristige Geldmacherei des Beratenen, was im Kulturbereich schlicht lächerlich ist.

Flugblattrezipientin

Sie findet Vielfalt auch auf dem Flugblatt: Eine Passantin und Besucherin der Premiere ist von der Aktion von ver.di für die Balletttänzer begeistert. Foto: Gisela Sonnenburg

Denn je stärker sich Theater aufs Spiel der Künstlerentmachtung einlassen, umso eher befördern sie ihren eigenen Untergang: als staatlich unterhaltene Einrichtungen. Privattheater sind dann kleiner und künstlerisch längst nicht so potent – aber vielleicht ist es genau das, was manche Machtmenschen wirklich wollen. Weniger Kunst und mehr Geld – soll so die Zukunft heißen?

GRÜNES LICHT FÜR STREIK

Noch ist beim Staatsballett Berlin in den Vorstellungen nichts vom brodelnden Arbeitskampf zu spüren. Einen kurzen Warnstreik gab es aber schon. Der nächste Streik könnte dann auch das Publikum betreffen – und bei allem Verständnis für die Tänzerrechte wäre es faktisch traurig, wenn der Vorhang nicht hochgehen würde. Die Schuld daran trüge der genannte Herr Vierthaler – sachlich ist die Ausgrenzung der von den Tänzern zu Verhandlungen beauftragten Gewerkschaft ver.di schon jetzt nicht mehr haltbar. Das Publikum müsste also, wenn es das Tänzerwohl im Blick hat, grünes Licht fürs Streiken geben!

Vielfältigkeit

Ensemble und Paartanz: Modelle von Schönheit und Liebe in Nacho Duatos „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ in der Komischen Oper Berlin. Foto: Marcus Renner

Umso wichtiger ist womöglich die genaue Beschreibung der superben Premierenerlebnisse. Der Abend gliedert sich in zwei von der Pause unterbrochene Teile. Die „Vielfältigkeit“, die den ersten Teil benennt, strotzt akustisch nur so vor Streicher-, Cembalo- und Klaviermusiken. Die Musik kommt zwar vom Band, aber mit hervorragenden Aufnahmen, die die Bandbreite der möglichen Bach-Interpretationen zeigt, von klassisch-schlicht bis zu fast romantischer Lesart: von Glenn Gould (mit seinen berühmten „Goldberg-Variationen“) über Dirigate von Nikolaus Harnoncourt und Gustav Leonhardt bis hin zu Interpretationen von Ton Koopman und Paul Nicholson.

Aber entscheidend sind die optischen Rhythmen. Die Szenarien sind grundsätzlich einfach und doch kompliziert, vor allem aber abwechslungsreich: Bach, ob zart oder auch aufgeregt, zeigt sich mit diversen Gruppen von Tänzern, in einem feinsinnigen getanzten Fantasmus. Die Kreation als Sujet des Balletts – eine ergiebige Konstellation. Hinzu kommt die Schnittstelle von historischem und modernem Tanz. Elemente des höfischen Tanzes aus dem Barock mischen sich mit klassischem Ballett und mit abgewandelten Posen, mit Arabesken und Attitüden im Sitzen, im Halbstehen, im Getragenwerden. Schnelle, kleine Sprünge und weit voran gleitende Ausfallschritte ergeben eine sinnbildhafte Ästhetik. Da wird geglaubt und gerungen, ums Gute, ums Schöne.

Aber Bachs Ideen verselbstständigen sich auch manchmal, und dann hat Michael Banzhaf Pause von der Bühne. Das „Musikalische Opfer“ zum Beispiel, eine sechsstimmige Fuge, die musikgeschichtlich und technisch eine Novität im Barock darstellt, wird schmissig von Xenia Wiest und Alexander Shpak bebildert. Als witzig-erotischer, knackig-präziser Pas de deux. Am Ende trägt er sie von dannen, als sei sie ein kleines Möbelstück. Hocker spielen ohnehin mitunter mit: Als Skulptur oder als Sitzgelegenheit.

EIN HIMMELREICH DER LIEBE

Zwei Jungs (Kévin Pouzou und Federico Spalitta) in Reifröcken tanzen dann so feingliedrig und zeitgleich synchron, dass sie sich in einer Art Himmelreich der Liebe zu befinden scheinen. Es ist wunderschön, ihnen zuzuschauen, wie sie mitunter Hand in Hand, meist aber mit einer spannungsgeladenen Distanz zwischen sich ihre weit ausholenden Körperetüden absolvieren. Das folgende Damenduo, bestehend aus Ilenia Montagnoli und Elena Pris, hat dafür raffiniert-komplizierte Schrittkombinationen – es handelt sich um eine vielschichtige, nicht ungebrochene Frauenbeziehung. Auch toll.

Ein weiterer Höhepunkt ist ein Pas de trois, der mit einem Solo von Polina Semionova beginnt. Mit dem Geigenbogen in der Hand, spielt sie eine Fechterin, eine Liebhaberin, eine feurige Kämpferin – und wirbelt über die Bühne, so wild und tollkühn wie eine Jeanne d’Arc. Natürlich verströmt sie dabei aber auch dieses unwiderstehliche erotische Flair, das nur Polina hat! Sie endet liegend am Boden, mit dem Kopf zum Publikum, auf dem Rücken gelagert, die Beine halbhoch gebogen. Eine autonome Frau!

Elisa und Rishat

Elisa Carrillo Cabrera und Rishat Yulbarisov bilden in beiden Teilen von „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ ein schönes Tanzpaar… in der Komischen Oper in Berlin. Foto: Marcus Renner

Diesem Allegro folgt ein Adagio im Paartanz: Elisa Carrillo Cabrera und Rishat Yulbarisov (der als Publikumsdarling in „Dornröschen“ die furiose Travestie-Fee Carabosse tanzt) zeigen elegantes Ineinandereindringen, metaphorisch gesagt. Viel Innigkeit, viel Ehr!

Keck à la baroque dagegen die sechs Damen aus dem „Konzert für vier Cembali“, die in langen ausgestellten Röcken mit modern gestrapsten Oberteilen und frei gelegten Bauchnabeln ein weiteres Modell von Sexiness praktizieren. Kurzweilig und anregend, aber auch besonders akkurat gearbeiteter Gruppentanz!

Und es wird wieder Zeit für Banzhafs Bach und seine Lieblingsmuse Polina: Im geschlitzten Flamencorock ist sie immer ein Hingucker, und zusammen zeigen sie, was getanzte Sanftmut ist. Aber dann – läuft sie ihm, der sie mehr und mehr einfangen will, einfach davon. Frauen sind ja so rätselhaft!

Pas de 3

Bach und seine Fantasien: Michael Banzhaf, Arshak Ghalumyan (links) und Rishat Yulbarisov (rechts) in „Vielfältigkeit“ in der Komischen Oper Berlin. Foto: Marcus Renner

Ein Pas de trois mit Arshak Ghalumyan und Rishat Yulbarisov zeigt Michael Banzhafs Bach dann in Aktion mit seinen eigenen Erfindungen, die für ihn Vehikel sind und gleichermaßen Menschen. Er kann sie benutzen und umgarnen, sie erheben und erniedrigen. Gedanken sind nun mal nützliche Sklaven…

Pas de trois

Noch einmal der Pas de trois: Banzhaf (rechts), Ghalumyan (links), Yulbarisov (mittig)vom Staatsballett Berlin in der Komischen Oper. Foto: Marcus Renner

Die Ohrwurm-Melodie des Menuetts g-dur aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach, mit dem schon Generationen von Klavierschülern getriezt wurden, erfährt dann eine überraschende Umsetzung: Als Schattensilhouetten tanzen drei Damen hinter einer weißen Wand, und erst für das Gegenstück in Moll kommen sie dann in einen Lichtkegel im schwarzen Raum. Ein schönes Bild für die Spiele im Licht und im Schatten, die das Lebens so bietet.

Banzhafs Pas de deux mit Polina Semionova als Bachs zweiter Frau leitet dann langsam zum Ende des ersten Teils hin. Erotisch aufgeladen, in den Hebungen und Drehungen von Vertrauen und Zuversicht trotz Verantwortung und Ernsthaftigkeit geprägt: ein wunderschöner, elegischer Ehe-Paartanz, den Semionova in einem kleidsamen, stoffgefluteten, rauschenden Barockkleid absolviert. „Vielfältigkeit“ erinnert ja tatsächlich auch an „viele Falten“. Allerdings ist dieses Wortspiel in der englischen Übersetzung des Stücktitels nicht virulent: „Multiplicity“ bezeichnet philosophisch-theoretische Phänomene und hat mit textilen Ideen nicht mehr viel zu tun. Und hier geht es eindeutig um die Vielfalt von Beziehungen oder auch um die vielgestaltige Ausformung einer Idee – der Liebe – durch den Komponisten Bach.

stören

Erst stören sie die Liebe, dann werden sie sanftmütig: die Mittänzer vom Ensemble in „Vielfältigkeit“ von Nacho Duato in Berlin. Foto: Marcus Renner

Doch die Beziehung zu seiner Frau wird gestört: Von rechts marschiert eine Reihe Tänzerinnen und Tänzer ein, verdrängt das private Glück zu Gunsten weiterer beruflicher Tätigkeiten. Bach hatte in der Tat viel zu tun, musste immer wieder als „Musik-Lakai“ den Fürsten und Herrschern dienen, war vertraglich zu zahlreichen Kompositionen verpflichtet und oftmals auch zu solchen, die er wohl lieber delegiert hätte. Wirklich autonom waren Künstler im Barock nicht – und das Ansehen sogar eines Genies wie Bach litt im absolutistischen Zeitalter unter den sozialen Verhältnissen.

Am Ende der „Vielfältigkeit“ weicht die anfängliche Aggression der Gruppe einer gewissen Sanftmut, im Adagio-Tempo ersetzt das Komponieren zu einem Teil das Leben an sich. Vorhang.

Der zweite Teil, die „Formen von Stille und Leere“, spinnen das Thema weiter, entheben es aber dem reellen Bezug und versetzen Bach in ein blaues Licht, das Meer und Himmel, Geistgefilde und Einsamkeit darstellen könnte. Cécile Kaltenbach und Mikhail Kaniskin formieren einen zarten Pas de deux, dann beginnt eine Orgel-Toccata zu rauschen, und sieben Jungs zeigen mit vogelartigen Sprüngen auf der Stelle in wunderschönen Männerkleidern (dunkel, mönchisch wie Kutten anmutend, aber tailliert) mit pinkfarben leuchtendem Futter, welchen Spaß nicht-eindeutige Männlichkeit bereiten kann. Man sollte das Tragen von Kleidern zur Pflicht fürs starke Geschlecht erheben!

Der intersexuelle Drive setzt sich fort, als ein Junge sein Mantelkleid fallen lässt und in Badehose weiter tanzt. Solistisch. Wie entrückt. Kommt er zu sich selbst oder vergisst er sich? Während die Orgel weiter dröhnt und donnert, verfällt er in Ekstase, geht darin zu Boden. Was für ein Stück ehrliche Selbsterfahrung wird hier zelebriert.

Der inneren Logik des Stückaufbaus folgend, kommen dann sieben junge Damen auf die Bühne. Und leben sich ebenfalls mit Orgel-Orgasmen aus. In kleineren Grüppchen schieben sie sich vor und zurück, laufen auf Zehenspitzen, üben Paarbildung. Den großen Bogen der Dramaturgie dieses Balletts meistern die Tänzerinnen und Tänzer vom Staatsballett Berlin wie nebenbei – Form und Inhalt verschmelzen in der akkuraten, aber auch beseelten neuen Körpersprache, die sie mit und von Nacho Duato erlernt haben.

Polina und Bach

Michael Banzhaf als Bach, Polina Semionova als seine Muse, seine Musik, seine Kreation, sein Todesengel: Sensibles Körpertheater vom Staatsballett Berlin in der dortigen Komischen Oper. Foto: Marcus Renner

Dann Banzhaf-Bach mit Polina Semionova und Giuliana Bottino. Seine Frau, seine Musik. Einfühlsam sind sie zueinander. Eine sich aus dem Schnürboden herab drehende Doppelhelix – eine Stoffbahn mit optischer Täuschung, die urplötzlich von Polina Semionova runtergeholt und eingesammelt wird, was das Lebensende Bachs bedeutet – verstärkt nochmals den Hinweis auf Ambivalenz und Doppeldeutigkeit in erotischen Beziehungen.

Pas de trois

Ein Pas de trois mit viel Liebe zur Musik: Michael Banzhaf, Giuliana Bottino und Polina Semionova in „Formen von Stille und Leere“ in der Komischen Oper Berlin. Foto: Marcus Renner

Die elegische Elisa Carrillo Cabrera tanzt wie zur Beweisaufnahme dessen auf, wie schon im ersten Teil  mit Rishat Yulbarisov. Ein schönes Bühnenpaar! Er wirkt besonders muskulös neben ihr, sie besonders schlank neben ihm. Die Sopranarie „Seufzer, Tränen“ ist hier gar nicht nur traurig ausgedeutet. Sondern auch: Halt gebend. Hoffnung stiftend. Zugleich dennoch unendlich melancholisch. Und auch: Elegant!

Schließlich bevökert das Ensemble das Gerüst im Hintergrund, das eingangs erwähnte „Industrie-Regal“. Der tote Bach liegt langgestreckt auf der Bahre. Dann schreitet Polina einher, wie eingangs geschildert, als könne keine Macht der Welt so ein Ausbund an Schönheit, Güte und Gnade stoppen. Welch Loblied der Weiblichkeit!

Ensemble

Das Ensemble vom Staatsballett Berlin bevölkert am Ende das Gerüst am Bühnenhintergrund. Foto: Fernando Marcos

Dass dieses Programm nicht nur frisch wie am ersten Tag wirkt, sondern  womöglich noch abgründiger und tiefer, ist als Beweis der „Haltbarkeit“ und „künstlerischen Halbwertzeit“ dieses genialen Werks zu sehen, das sechzehn Jahre nach seiner Uraufführung seinen Charme und seine Mitteilsamkeit nur noch verstärkt hat. Die Arbeit Duatos mit dem Staatsballett Berlin ist im Ergebnis absolut hochkarätig und bietet in jeder Sekunde des Bühnengeschehens einen vielseitigen Genuss.

GEFORDERT WIRD: VERHANDLUNGSFREIHEIT

Ensemble

Es wäre schade, wenn das Staatsballett Berlin dem Publikum nicht nur am Stückende von „Formen von Stille und Leere“ den Rücken kehren würde. Foto: Marcus Renner

Es wäre schade, wenn wegen eines notwendigen Streiks der Tänzer nicht alle vorgesehenen Vorstellungen statt finden könnten. Herr Vierthaler, geben Sie endlich nach! Geben Sie Verhandlungsfreiheit!
Gisela Sonnenburg

DIE GÖTTER KÖNNEN SOGAR SEHR NEIDISCH WERDEN: Wie aus heiterem Himmel kam am 19. Februar 2016 die Nachricht, dass sich das Staatsballett Berlin mit der Stiftung Oper in Berlin geeinigt hat – und mit der von den TänzerInnen gewünschten Gewerkschaft ver.di ein Tarifvertrag für die BallettkünstlerInnen ausgehandelt wurde. Herzlichen Glückwunsch, liebes Staatsballett Berlin! Das Publikum freut sich denn auch gleich doppelt: einmal für die KünstlerInnen – und einmal für sich selbst, da nun wohl erstmal keine Vorstellungen mehr wegen Streik ausfallen werden. Hoch die Tassen!

Weitere Berichte zum Berliner Staatsballett unter „Staatsballett Berlin“.

Mehr zum oben schon rezensierten Stück von Nacho Duato und über die zweite Berliner Besetzung darin bitte hier:

www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-vielfaeltigkeit-musik/

Termine in der Komischen Oper Berlin: siehe „Spielplan“

www.staatsballett-berlin.de

UND SEHEN SIE BITTE INS IMPRESSUM: www.ballett-journal.de/impresssum/

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