Die Schönheit und Würde eines geschöpften Werks entfaltet sich jeweils durch die verschiedenen Interpretationen. Das ist im Ballett nicht anders als in den anderen Künsten. Darum hier erneut eine Rezension von den „Jewels“, die beim Staatsballett Berlin neu besetzt sind. Es beginnt alles ganz zart. „Jewels“ von George Balanchine ist ein Klassiker des abstrakten Balletts. Die Juwelen aus dem Titel sind Programm: Es geht um Smaragde, Rubine und Diamanten, deren Flair zu drei Tanzstücken choreographiert ist. Am Anfang gibt die impressionistische Musik von Gabriel Fauré die Richtung vor. Paul Connelly dirigiert die Staatskapelle Berlin mit viel Gefühl, und die ersten schwelgerischen Takte gehören nur dem Orchester. Bei der Wiederholung des melodiösen Motivs öffnet sich der Vorhang in der Staatsoper Unter den Linden: Zehn Tänzerinnen und das von ihnen im Halbkreis umrundete Bühnenpaar, Aya Okumura und Alexander Bird, werden sichtbar. Das Staatsballett Berlin (SBB) bietet somit erneut getanzte Juwelen, die das genaue Hinsehen wirklich lohnen.
Blaugrün wie „Emeralds“, also smaragdgrün, ist der Grundton der Ausstattung. Die Damen tragen glitzernde Diademe, die Herren Fantasieuniformen. Ihr Tanz – mal als Solo, mal als Paar, mal als Trio oder mit der Gruppe – ist schwebend, leichtfüßig, lyrisch.
Allen voran bezaubert Aya Okumura, die hoffentlich kommende Primaballerina Berlins, mit ihrem anmutig-präzisen Stil. Ihr Partner Alexander Bird feierte vorgestern sein Debüt – und überzeugte im Paartanz mit Okumura.
Aurora Dickie und Alexei Orlenco bilden das zweite Paar: Sie schwebend-sinnlich, er kraftvoll-elegant.
1967 in New York uraufgeführt, erzählt dieses Ballett aber nicht nur von den Klunkern, sondern auch von drei Ländern, in denen sich das klassische Ballett vorrangig entwickelte. Die Smaragde spiegeln dabei die französische Schule: mit kleinen, sanften Sprüngen und weicher, exzellenter Armarbeit.
Der Kontrast zum ersten Teil ist wichtig: keck, frivol, heiß. Die „Rubies“, also Rubine, sind zur Musik von Igor Strawinsky von überschäumendem Temperament. Sie verkörpern das italienische Fluidum: Revue in Spitzenschuhen trifft auf schelmisch-witzige getanzte Raffinessen.
Evelina Godunova macht das hervorragend, springt mit Nonchalance und pirouettiert sich in Ekstase.
Dinu Tamazlacaru als ihr Partner begeistert ebenfalls, diese Part ist eine Paraderolle von ihm. Der Veteran tanzt seit dieser Saison als Gastsolist beim SBB, ist hier aber nach wie vor gern gesehen und eben auch eingearbeitet.
Frisch und fröhlich bis zum Übermut tanzt auch Sarah Brodbeck, die ein weiteres Debüt des Abends gibt.
Sie bewältigt ihre Solorolle mit so viel Lust und Laune, dass die Blumen, die ihr später beim Applaus überreicht werden, bestens verdient erscheinen.
Den Höhepunkt aber bilden die „Diamonds“. Majestätisch, dennoch in Anflügen folkloristisch, tanzen zunächst zwölf Damen in glitzernd weißem Outfit mit klassischem Tutu, bevor Iana Salenko und Alexandre Cagnat auftreten.
Salenko ist eine der Berühmtheiten Berlins, ein Superstar, mit 38 Jahren fast eine Grande Dame mittlerweile – aber man kennt sie noch als mädchenhafte Anfängerin in den Hauptrollen, die damals zu schüchtern war, um beim Applaus die geworfenen Blumensträuße aufzuheben. Mädchenhaft kann sie noch immer wirken, und La Salenko besticht mit ausgereifter Technik, geschmeidigen Bewegungen und jenem Ausdruck von Leidenschaft, der aus einer guten Ballerina eine sehr gute macht.
Ihre Beine scheinen sich zu verselbständigen, wenn sie sie in die Höhe wirft, und ihre Arabesken und Attitüden sind nach wie vor – auch nach dem dritten Kind – von erlesener Schönheit.
An diesem Abend stellt sie ihren neuen, jungen Bühnenpartner vor: Alexandre Cagnat, aus Frankreich kommend, hat sehr viel Potenzial. Mit seiner fantastischen Koordination, die schwierigen Bein-, Kopf- und Armbewegungen des Balletts vereinend, zieht er die Blicke auf sich. Er partnert Salenko sicher und souverän; zusammen entführen sie in ein imaginäres Russland.
Denn dem klassisch-russischen Tanz sind die „Diamonds“ zur Musik von Peter I. Tschaikowsky gewidmet. Balanchine stammte ja aus Sankt Petersburg, und eine Hommage an die russische Seele darf hier gern vermutet und gefunden werden.
Das Corps de ballet vom Staatsballett Berlin zeigt zudem in allen drei Teilen, wie agil und präzise mit ihm gearbeitet wird. Man ist davon begeistert und hingerissen, fühlt sich von soviel Anmut, Sprungkraft, Synchronizität und Harmonie wirklich glücklich umströmt.
Ob in den elegischen Smaragd-Tänzen, bei den schnellen Rubin-Sprüngen oder mit der festlichen Polonaise der Diamanten – das SBB ist hier wirklich brillant. Bitte unbedingt hingehen!
Und wer es nicht bis zur nächsten Berliner Ballettvorstellung aushält, darf sich gern online trösten:
Hyo-Jung Kang und Davide Dato tanzen im Stream der „Liebeslieder Walzer“ beim Wiener Staatsballett absolut exzellent und sensationell synchron den selten zu sehenden Pas de deux „Other Dances“ zu Musik von Frédéric Chopin, den Jerome Robbins 1976 für Natalia Makarova und Mikhail Baryshnikov kreierte, und zwar in Anlehnung sowohl an Marius Petipas „Raymonda“ als auch an George Balanchines „Diamonds“ aus den „Jewels“, vor allem aber auch als implizite Fortsetzung seiner eigenen „Dances at a Gathering“ von 1969. Jerome Robbins war nun kein Russe. Aber sein amerikanisch-jüdisches Temperament hat ihn als echten Kosmopoliten problemlos mit dem russischen Ballett mitfühlen lassen. Sehr sehenswert.
Und auch hörenswert! Denn Igor Zapravdin am Piano auf der Bühne lässt die Klänge von Chopin leichthin und doch nachhaltig betont den Tanz begleiten. So ist diese Vorstellung ein weiteres Juwel in diesen schweren Zeiten – Genuss ist da kein Fremdwort.
Gisela Sonnenburg
play.wiener-staatsoper.at (hier findet man den kostenfreien Stream der „Liebeslieder Walzer“)