Auf, auf zum fröhlichen Streamen! Was soll man sonst machen in dieser entsetzlichen Pandemie-Weihnachtszeit?! Wenigstens werden wir nicht ganz allein gelassen mit unseren Sehnsüchten nach schönen Vorstellungen, sondern manche der großen Compagnien strengen sich an, uns online mit ballettösen Leckerbissen zu verwöhnen. Vom Staatsballett Berlin über das Bayerische Staatsballett und das Stuttgarter Ballett bishin zum Wiener Staatsballett und Ballett Dortmund gibt es Einiges zu begucken und zu bestaunen. Natürlich wird das niemals eine live im Opernhaus erlebte Vorstellung zur Gänze ersetzen. Aber auch eine Aufzeichnung kann restlos begeistern, zum Träumen bringen, faszinieren, inspirieren und zum Nachdenken anregen. In diesem Sinne: Auf die Sofaplätze, fertig, los – und fein gemacht für die Erfahrung eines Weihnachtens mit Pandemie und ohne Opernhausbesuch, aber mit lohnenswerten Eindrücken. Da macht es fast nichts mehr, dass uns 3sat und arte dieses Jahr unanständigerweise im Stich lassen und entgegen den Gepflogenheiten ausgerechnet in diesem ersten Jahr der Pandemie ohne ein großes Ballett über Weihnachten lassen. Stürzen wir uns also in die Weiten des worldwide web!
Den Anfang macht das langsam zur arbeitsamen Normalität zurückfindende Staatsballett Berlin, das nicht nur auf seiner Homepage www.staatsballett-berlin.de ein umfangreiches Kurzvideo-Angebot bereit hält, sondern auch auf der Homepage der Deutschen Oper Berlin (www.deutscheoperberlin.de) im „Weihnachtsgruß aus der Deutschen Oper Berlin“ mittanzt: mit einem vornehm-eleganten Pas de deux aus der allseits beliebten russisch-nostalgischen Berliner Version des „Nussknackers“ von Vasily Medvedev und Yuri Burlaka.
Alejandro Virelles und Aya Okumura – für die Solistin ist es ein Rollendebüt – brillieren hierin mit sauberen Posen, charmantem Spiel und absolut erhebend-anmutiger klassischer Tanzkunst.
Endlich sieht man mal eine neue solistische Kraft als Primaballerina in Berlin! Zart und elegant, keck und herzlich wirkt die an der John Cranko Schule in Stuttgart ausgebildete Aya Okumura, und an der Seite von Polina Semionovas versiertem Bühnenpartner Alejandro Virelles lässt sie einen die weltbekannt Kollegin tatsächlich nicht vermissen. Bravo!
Ein wunderbares neues Ballettpaar ist zu bestaunen: Mit solchen News kann das Staatsballett Berlin punkten.
Ein Bühnenbild gibt es sogar auch dazu , allerdings gehört es nicht zum Pas de deux und zu den Kostümen, welche aus dem zweiten Teil, dem im Stück geträumten „Reich der Süßigkeiten“, stammen, während die Bühne im Hintergrund das Weihnachtswohnzimmer der Familie Silberhaus aus dem ersten Akt zeigt.
Weihnachtsschwamm drüber – was zählt, ist die Schönheit und Ausdrucksstärke des tanzenden Paares!
Weiter geht es am Mittwoch, den 23. Dezember 20, und zwar mit der für Streams vorgesehenen Website der Wiener Staatsoper play.wiener-staatsoper.at: Dort tummeln sich ab 19 Uhr und dann für 24 Stunden „Peer Gynt“ und seine obskuren Gefährtinnen und Gefährten, in der modernen Choreografie von Edward Clug. Die Aufzeichnung war schon während des ersten Lockdowns zu sehen, aber was gut und spannend ist, kann man sich bedenkenlos auch jetzt wieder anschauen.
Jakob Feyferlik, Alice Firenze, Eno Peci und Zolt Török gehen hier tänzerisch und darstellerisch neue Wege, während die bekannte Musik von Edvard Grieg so sympathisch wie ohrwurmverdächtig ist. Simon Hewett am Dirigentenpult ist nun auch nicht gerade abschreckend – in seiner Position als Erster Ballettdirigent vom Hamburg Ballett kommt er ja leider derzeit eher gar nicht vor Publikum zum Einsatz.
Warum dort, im hohen Norden, John Neumeier die seit Jahren im Handel erhältliche DVD mit seinem „Weihnachtsoratorium I – VI“ nicht als kostenlosen Live-Stream zum Weihnachtsfest online setzen lässt, bleibt ein Rätsel.
Vielleicht will er, der schon so oft Pionier und Vorreiter war, dieses Mal anderen Compagnien den Vorzug lassen.
Eine Chance mehr für das Bayerische Staatsballett, vom 24.12.20, also Heiligabend, ab 10 Uhr, bis zum 26.12., Mitternacht, seinen topaktuellen, „Schwanensee“ in der Inszenierung von Ray Barra auch von Nicht-Münchnern sehen zu lassen!
Und zwar online, auf www.staatsoper.tv – bezahlpflichtig wird dieses Video erst ab dem 27.12.20.
Das Besondere an diesem „Schwanensee“, in dem übrigens sechs schwarze Schwäne die Entourage von Odile und Rotbart bilden: Er wurde von dem hierfür sehr begabten Münchner Ballettmeister Thomas Mayer für die Corona-Schutzmaßnahmen passend gemacht.
Das klassische Stück rührt trotzdem oder gerade deswegen zu Tränen, weil es so schön, so stark, so hehr und so tragisch ist.
Die Aufzeichnung stammt von diesem Jahr, aus dieser Pandemie-Epoche, aus diesem Dezember – und die an der Bolschoi-Akademie ausgebildete Ksenia Rhyzhkova tanzt mit dem aus China stammenden Jinhao Zhang das unglückliche Liebespaar, als gebe es kein Morgen: voll Hingabe, voll Einfühlung, voller Konzentration.
Die kleinen Schwäne berücken wie immer, auch der ausgedünnte Corps der Schwäne erscheint vollzählig, weil er geschickt auf der Bühne gruppiert ist.
Voilà: Das Bayerische Staatsballett hat bewiesen, dass eine Pandemie die großen klassisch ausgerichteten Bühnen keineswegs leer lassen muss.
Da lohnt sich auch ein Mehrfachansehen, zumal mit Blick auf die Weihnachtslichter. Wie wäre es denn damit: einmal vor und einmal nach der Bescherung anschauen!?
Weiter geht es am nächsten Tag. Am ersten Weihnachtstag, dem 25.12.20, locken um 17 Uhr die Theater Dortmund zur „Weihnachtsgala“, ganz digital und auf www.theater.do zu finden.
Oper und Schauspiel, Sprechtheater und Ballett geben sich hier gemeinsam ein Stelldichein. Das Ballett ist mit dem „Nussknacker“ dabei: mit einem Pas de deux sowie mit einer Ensemble-Szene.
Das ist, was die Stammzuschauer erwarten – und was vielleicht Neugierige aus anderen Regionen anzulocken weiß.
Am Freitag, dem 26.12.20, gibt dann ebenfalls das Ballett Dortmund ein Highlight preis:
Um 11 Uhr beginnt der Stream mit „Tschaikowsky“ von Xin Peng Wang mit Lucia Lacarra, ebenfalls auf www.theater.do – unbedingt empfehlenswert! Unbedingt! Mehr dazu nach den Feiertagen…
Aber dann legt auch schon das Wiener Staatsballett auf www.play.wiener-staatsoper.at nach, und zwar ab 19 Uhr am zweiten Weihnachtsfeiertag (wieder für 24 Stunden kostenlos): mit einer seltenen glamourösne Gelegenheit, die ballettöse Heiterkeit in schier zahllosen Personifikationen, oft mit passenden Flattergewändern geschmückt, zu erleben.
„Sylvia“ in der choreografischen Version von Manuel Legris – nach Louis Mérante und anderen Vorlagen – erzürnt höchstens ob eines etwas verlogenen Weltbildes, das sich hier mit einem wahren Kuddelmuddel aus scheinbar mythologischen Handlungen und Nebenhandlungen darstellt.
Kurz zum leider sehr ungeschickt gestalteten Libretto in Legris‘ Fassung: Die Göttin der Jagd, Diana, hat eine Lieblingsnymphe namens Sylvia sowie einen Liebhaber im Traum namens Endymion, für den sie sich letztlich auch noch in die Mondgöttin verwandelt. Bis dahin verwurschteln sich mehr als ein Dutzend Personen menschlicher und göttlicher Gestalt in höchst banale Vorgänge, die niemanden wirklich interessieren können.
Da wird sich versteckt und da wird gefunden; da wird rivalisiert und auf die Jagd gegangen; da verkleidet sich Eros als Hexenmeister und hilft bei der Suche nach einem vor der Liebe Flüchtigen.
Aber wieso hat ein süßer Gott der Liebe es nötig, sich ausgerechnet in einen Hexenmeister zu verwandeln? Das klingt schon sehr nach Kindergarten oder auch schlicht nach künstlich aufgemotzter Theaterklamotte.
In der poetischen Vorlage zu dem Ballett „Sylvia“, dem Hirtenspiel „Aminta“ des italienischen Renaissance-Dichters Torquato Tasso, verwandelt sich Amor zu Beginn als Hirte, um seiner Mutter Venus zu entkommen und unauffällig Liebe zu stiften. Auch bei Tasso gibt es alsbald ein gnadenloses Durcheinander der Handlungsfäden, aber weil es sich um ein pathetisches Sprechstück handelt, lässt sich so etwas auf der Bühne besser vermitteln als im Ballett. Und einen Hexenmeister – ob echt oder verkleidet – gibt es darin mitnichten.
Es verwundert, dass ausgerechnet Manuel Legris so wenig dramaturgisch denkt, denn er hat seinerzeit in Paris die sehr übersichtlich strukturierte moderne „Sylvia“-Version von John Neumeier als Tänzer mit uraufgeführt. Sie ist übrigens als DVD mit dem Ballett der Pariser Opéra und mit Manuel Legris als Aminta bei arthaus-musik erschienen und im Handel erhältlich – und im Vergleich mit Legris‘ getanzter Operette sehr aufschlussreich.
Letztlich geht es im Stück so oder so um Verliebtheit und Verzeihung, aber auch um Selbsterkenntnis und Eingeständnis. Nur liegt diese Essenz bei Legris in zahlreichen künstlich wirkenden Handlungssträngen verborgen.
Es ist wirklich zu krude, um gut zu sein, was hier als „Libretto“ auf der Homepage www.wiener-staatsoper.at auch en detail nachzulesen ist. Amerikaner würden sagen: just too much.
Die einzelnen Tanznummern, aus denen sich Legris‘ „Sylvia“ zusammensetzt, verströmen aber dennoch viel Flair. Und Kiyoka Hashimoto, Davide Dato und Masayu Kimoto geben in der Aufzeichnung von 2018 ihr Allerbestes!
Wer bereit ist, das ganze Stück mehr als aberwitzige Collage aus neoklassizistischen Tänzen anzusehen als eine konkret vorangehende Handlung darin entdecken zu wollen, wird sich damit glücklich fühlen.
Und mit Luisa Spinatelli hat Legris eine höchst versierte Ausstatterin von Balletten gewählt, sodass Kostüme und Bühnenbild eine Augenweide sind.
Die Musik von Léo Delibes ist ein Meisterwerk für sich: opulent, aber nicht aufdringlich.
Am zweiten Weihnachtstag, also am Samstag, dem 26.12.20, darf es die Ballettfans dann bedenkenlos ab 14 Uhr gratis online Richtung Schwabenland ziehen.
Bis zum 30.12.20 (22 Uhr) wird man wohl immer wieder im elektronischem Sinn dorthin schauen: Denn das Stuttgarter Ballett setzt seinen Hochkaräter „Dornröschen“ in der Inszenierung von Marcia Haydée auf www.stuttgarter-ballett.de(und auch auf seinem youtube-Kanal) online.
Damit ist dann auch das dritte große Handlungsballett mit Musik von Peter I. Tschaikowsky online als Stream vertreten.
Es handelt sich dabei um den Mitschnitt der Wiederaufnahme vom Dezember 2019, als noch kein Gedanke an Corona-Viren die Freude an diesem großartigen „Familienballett“ trüben konnte. Erst ein Jahr ist das her… und doch scheint es, der Tanz komme aus einer anderen Welt.
Pikanterweise sollte Haydées „Dornröschen“ in der laufenden Spielzeit ja eigentlich auch beim Staatsballett Berlin premieren. Was Corona bislang verunmöglichte.
Mit dem Weihnachtsstream kann man sich nun auf das vorbereiten, was in der Hauptstadt vielleicht noch kommen mag: In Haydées „Dornröschen“ hat nicht nur die Fliederfee das Sagen, sondern auch die Rolle der bösen Fee Carabosse ist ordentlich aufgewertet.
Superballerino Jason Reilly ist darin eine Art Überteufel: Als exaltierte Drag Queen im Flattergewand sieht das dämonische Feenwesen auch am Ende keineswegs traurig aus.
Außerdem triumphieren in der zart-bunten Ausstattung von Jürgen Rose Weltstar Friedemann Vogel als Prinz und die niedliche Elisa Badenes in der Titelrolle.
Ihr „Rosen-Adagio“ mit zauberhaft leicht hochgeworfenen Beinen gehört zum Besten, was die klassische Ballettwelt in den letzten Jahren zu sehen bekam. Da zudem Kids von der John Cranko Ballettschule mitwirken – als Schneewittchens sieben Zwerge – ist das Etikett „Familienballett“ stimmig.
Zum Applaus kommt die Urheberin Marcia Haydée, mit 83 Jahren die Grande Dame des internationalen Balletts, auf die Bühne: Das Publikum rast.
Ob wir nun vor dem Bildschirm mitrasen oder unsere Freude über die tänzerische und inhaltliche Brillanz, die Marcia dort in Szene setzte, nur mit einem Lächeln zeigen – die Aufzeichnung wird uns ganz sicher ein starkes Stück Weihnachtsglanz in die Hütte bringen.
Und wir werden uns zwar nicht daran gewöhnen, dass das Internet statt des Zuschauersaales nun die neue Normalität sein soll, aber abgewöhnen lassen wir uns das Ballett so auch nicht!
In diesem Sinne:
EIN FROHES WEIHNACHTSFEST TROTZ UND GERADE WEGEN DER PANDEMIE!
Und vergesst nicht, für das, was Ihr liebt und was Euch weiterbringt, ganz besonders zu danken…
Gisela Sonnenburg