Wenn die Schwäne untergehen „Schwanensee“ aus der Ukrainischen Staatsoper in Kiew als herzloses Fiasko – nur noch online auf arte.tv

"Schwanensee" als Fiasko aus Kiew

Natalia Matsak als Odette in einer unsäglich schlechten „Schwanensee“-Inzenierung aus Kiew, eingekauft von arte. Videostill von arte.tv: Gisela Sonnenburg

An dieser Ballettaufzeichnung ist vor allem Eines erschütternd: Zu sehen, wie die hochbegabten, technisch hervorragend ausgebildeten Tänzerinnen und Tänzer der Ukrainischen Staatsoper in Kiew zu Opfern einer so hirn- wie seelenlosen Pseudo-„Schwanensee“-Inszenierung werden. „Schwanensee“ als Ballettrevue, das war so grässlich vielleicht noch nie zu sehen. Dabei ist Kiew mal so etwas wie ein Garant für fantastische Opern- und Ballettkunst gewesen, zu Sowjetzeiten allerdings. Dank arte bzw. arte.tv wissen wir jetzt, was sich dort alles nicht mehr entwickelt hat: Esprit ebenso wenig wie das Handwerk, mit Ballett eine psychologisch spannende Geschichte zu erzählen.

Einzig die Primaballerina Natalia Matsak als Odette / Odile reißt es raus.

Ihr Spiel, ihr künstlerisch hoch anspruchsvoller Tanz ist mal so gegenwärtig wie ein aufgescheucht flatterndes Vögelein und mal so prätentiös und hypererotisch wie eine ausgemachte Diva.

Hier sieht man, zu welchen auch schauspielerischen Spitzenleistungen Bühnenkünstler/innen aus der Ukraine in der Lage sind.

Sie inspiriert auch Denys Nedak als Prinz Siegfried, der sonst oft etwas ratlos auf der Bühne wirkt.

Gemeinsam tanzen sie im weißen wie auch im bunten Akt herzzerreißende Pas de deux.

Ansonsten aber wird hier keine Geschichte erzählt, schon gar nicht mit Verstand, sondern es gibt nur Tanz pur. Und zwar ziemlich beliebig austauschbaren.

Nach der langen Ouvertüre ohne Tanz geht der Vorhang auf und zeigt bald ein Dutzend Paare fröhlich walzernd, ohne dass die Szenerie einen Sinn machen könnte.

Soll es eine Gartenparty sein? Die Damen sehen aus wie zwölf Gisellen in ihren hellblauen Miederkleidchen. Fehlen nur die Schürzen!

Ihre Kavaliere wirken wie lauter „Dornröschen“-Prinzen. Aber wozu? Die Kulissen seitlich zeigen einen Herbstwald an, im Hintergrund lauert eine Felsenburg mitten in einem nachtblauen See mit spiegelnder Oberfläche.

Siegfried erhält ein Schwert, ein Ordenscollier, eine Armbrust. Seine Mutter ist jung, sieht fast jünger aus als er – und der Hauslehrer, der eigentlich eine psychologisch wichtige Beziehung zu dem jungen Mann haben sollte, ist zum Zeremonienmeister verkommen.

"Schwanensee" als Fiasko aus Kiew

Eine tolle Ballerina allein reicht nicht für den ganzen „Schwanensee“: Natalia Matsak auf arte.tv in der grottenschlechten Inszenierung von Valery Kovtun aus Kiew. Videostill von arte.tv: Gisela Sonnenburg

Siegfried zeigt hier weder Melancholie noch Verwirrung noch irgendein Anzeichen dafür, dass er mit seiner Situation möglicherweise unzufrieden sein könnte. Er ist aalglatt wie ein Heini aus der Werbung: Hier ist alles topp! Und: Hauptsache, mir geht es gut! Das sagen seine Bewegungen, seine Mimik. Er strengt sich an, hoch zu springen, ebenso Yaroslav Tkachuk als Rotbart.

Diesem bösen Zauberer gehört die Eröffnung des zweiten Aktes in dieser Inszenierung, die von Valery Kovtun stammt und sich außer an Marius Petipa und Lev Ivanov an Alexander Gorski orientiert.

Rotbart springt mit wehendem Umhang zum Zeichen seiner Übermacht. Mehr darf er hier nicht. Das diabolische Schillern seiner geheuchelten guten Manieren, ein Highlight in so mancher „Schwanensee“-Version, fiel hier unter den Tisch.

Und sogar die Folklore-Tänze, die doch zum Teil in der Ukraine auf den Bühnen sozusagen daheim sein sollten, wirken fade und uninspiriert. Ein Tänzer verliert beim Knien sogar fast die Balance, kippt fast um.

Stimmung? Hier nicht!

Die Schwanenmädchen sind denn auch insofern eine Enttäuschung, als sie hier derart walzern, als handele es sich um Schneeflocken-Mädchen aus dem „Nussknacker“.

Die haben nur eine völlig andere dramaturgische Bedeutung.

Die verzauberten, tragisch an Rotbart gefesselten Schwäne erleben hier ihren kulturellen Untergang, sie sind nichts mehr als pirouettierende Klischées.

Auch bei den Festszenen im Burginnern – mit einem gotischen Tor und Fenstern vor nachtblauem Himmel – kommt außer pathetisch gestelzter Unheimlichkeit, die vor allem aus der Musik von Peter I. Tschaikowsky rührt, nichts zum Tragen.

Die Hofgesellschaft sitzt und steht stocksteif herum, man hat zeitweise den Eindruck, hier sollen Menschen Schaufensterpuppen darstellen.

Will man wirklich den Schluss noch sehen?

"Schwanensee" als Fiasko aus Kiew

Ziemlich verloren in einer handwerklich unzulänglichen Inszenierung: Natalia Matsak als Odette in „Schwanensee“ von Valery Kovtun . Videostill: Gisela Sonnenburg

Nach dem Tod im See sei das liebende Paar Odette und Siegfried im Jenseits vereint, heißt es im Libretto. Ob man in dieser Inszenierung so etwas glauben mag? Das Paar wirkt wie Eiskunstläufer auf Dope: alles bestens, verheißt sein Tanz.

Tragik? – Fehlanzeige. Hier wird nur behauptet, nicht künstlerisch gearbeitet.

Die von arte im Begleittext versprochenen Schwarzen Schwäne als Entourage von Odile waren zudem auch mehr als banal in Szene gesetzt: Sie störten mit schwarzen Tutus das Erscheinungsbild des ballets blanc, statt eine eigene Choreografie zu erhalten.

Da geht man dann nach der Corona-Epidemie besser wieder zum Semperoper-Ballett, wo Aaron S. Watkin auch schwarze Schwäne im Corps tanzen lässt. Allerdings nicht als Geschmacksverirrung, sondern mit szenischem Sinn und als erkennbare Abordnung von Rotbart und Odile.

Dass der Chef in Kiew, Valery Kovtun, mal mit der großen Maya Plisetzkaya tanzte, macht halt noch lange keinen Choreografen aus ihm. Und so verpflanzt er Musik aus der großen Ballszene mal eben ins nächtliche Gefilde am See, um die Zeit totzuschlagen. Wie peinlich: Odette und Siegfried mit ein paar Posen und Hebungen als Lückenbüßer.

Was ist nur bei arte los? Letztes Jahr nervte man uns mit dem fatal grobschlächtig modernisierten „Schwanensee“ von Martin Schläpfer, dieses Jahr kommt nun so eine superverstaubte Pseudoklassik aus dem vorgestrigen Kiew.

Reicht das Geld fürs Bolschoi nicht mehr, arte? Und was ist das eigentlich für ein Sendeplatz: Samstagmittags kurz vor dem vierten Advent – die meisten Menschen sind da mit Kochen, Basteln, Laubfegen oder eben auch Einkaufen beschäftigt. Sogar in einem Pandemie-Jahr.

Dabei gibt es in der Ukraine sehr gutes Ballett. Etwa mit dem aktuell getanzten klassischen „Nussknacker“ in Odessa, wo auch die Starballerina Natasha Kusch derzeit tanzt.

Aber vielleicht sollte man arte auch einfach dankbar dafür sein, dass man ein so perfides Stück Ballettrevue mal gesehen hat. Jetzt weiß man – angesichts vieler anderer wunderbarer, hochkarätiger und wirklich interessanter „Schwanensee“-Inzenierungen – endlich, wie Klassik nicht geht.
Gisela Sonnenburg

Bis 18. März 2021 auf www.arte.tv

 

 

 

ballett journal