Sie hat dieses kindhaft-unschuldige Flair! Sie ist dieses unglaublich anständige Mädchen, eines ohne Furcht und Tadel, das Idealbild einer jungmütigen Heldin, die ihr Herz ganz plötzlich und dann gleich für immer an diesen daher gelaufenen Sunnyboy verliert. Er ist aber auch ein Bild von einem Mann! Dinu Tamazlacaru ist als Albrecht ein jagender Gejagter – und er hat dabei soviel Poesie in seinem Körper, dass es kein Wunder ist, dass Giselle sich nahezu fraglos in ihn verliebt. Aber gerade durch die eigene Liebe wird sie leichtsinnig und leichtgläubig – sie stirbt schließlich am Schock der Erkenntnis: Was für ein Schuft ist dieser Mann, der eine andere heiraten will! Berlins – aus der Ukraine stammende – supersüße, superzierliche, supergraziöse Primaballerina Iana Salenko tanzt die „Giselle“ in dieser Interpretation als idealtypisches Mädchen vom Land, und sie nimmt der Rolle damit das Leichtherzig-Flittchenhafte, betont aber das bei ihr aus dem Herzen kommende Glück der Liebe.
So wird aus der über den eigenen Tod hinaus liebenden „Giselle“ eine Ikone der Lebenslust!
Wie sie da im ersten Akt den Kopf neigt, wie sie die Arme mit den fein flatternden Händen zur Tanzaufforderung durch die Luft wirbelt – und, ach, wie sie die bildhübsch geformten Beine in die Ballonés und zu gesprungenen Coupés schwingt, das ist unnachahmlich und weltweit einmalig. Dieser Giselle macht niemand vor, wie beflügelnd die Liebe ist: Das beweist sie uns selbst, mit jeder noch so kleinen neckischen Bewegung.
Iana Salenkos Lächeln ist dabei ist eine einzige Herzerfrischung! So echt und ungekünstelt, dennoch aber theaterwirksam und „großartig“ kann nicht jede Bühnenkünstlerin die Lippen schürzen. Dass sie technisch virtuos und auf der Höhe ihres Könnens ist, braucht man nicht extra zu betonen.
Jeder Ballettfan zwischen dem Nord- und Südpol kennt den Namen von Iana Salenko, der kleinen, fleißigen, leuchtenden Wundertänzerin, die auf Galas oftmals als Kitri aus „Don Quixote“ über die Bühne wirbelt, als sei das Prinzip Gala speziell für sie erfunden. Sie hat von Berlin aus Karriere gemacht, dem Staatsballett Berlin ihr hübsches Gesicht gegeben. 2000 kam sie, aus Kiew, ausgebildet wurde sie zuvor in Donezk. Seit 2007 ist sie Erste Solistin, und während sie das Publikum im Sturm eroberte, hat sie sich ihre vielen großen Rollen Stück für Stück solide erarbeitet; trotz des überwältigenden Talents ist sie eine harte Arbeiterin, auch wenn das ihrem auf der Bühne völlig schwerelos wirkenden Luxuskörper nur der wissende Blick anmerken kann.
Und sie entwickelt ihre Rollen, nimmt sie als zu verlebendigende Figuren im Verlauf einer Vorstellung ernst – so intensiv, als sei es jedes Mal die Premiere. Was für ein Genuss für ihr Publikum!
Im zweiten Akt von „Giselle“, als Geist, ist sie dann ganz superzart und superleicht und superätherisch, wie vergeistigt, eine lebende Wolke, und sie lässt sich heben wie eine Feder, bewahrt dabei aber völlig die Contenance, die Linien, die Geschmeidigkeit, die Grazie. Und dann, wenn ihre Füße den Boden berühren und sie ganz leicht lächelt, milde, gütig, dann ist sie dabei auch wieder so niedlich, so anrührend…
Hier bricht sich eine Süßigkeit des Herzens Bahn, die die Tänzerin Salenko mit ihrer Rolle als Giselle vereint.
Dafür braucht sie natürlich einen passenden Partner. Der gebürtige Moldawier Dinu Tamazlacaru, seit 2002 in Berlin tanzend und seit 2012 Erster Solist, hat als ihr Playboy Herzog Albrecht in „Giselle“ – sowie auch als vielmals auf Dutzenden von Galas in aller Welt erprobter Partner – eine hervorragend passende Aura: Er ergänzt Iana Salenkos durchgeistigte Süßigkeit mit sprungkräftiger, dabei hellwacher Sehnsucht, mit einer durchaus melancholisch gefärbten, männlich-stringent seinen Ausdruck durchdringenden Sehnsucht: nach immer neuer, nach immer mehr Liebe.
Er setzt ihrer Treue systematische Untreue entgegen, die im zweiten Akt zu einem tiefen Gefühl der Reue wird. Plötzlich ist sie es, die über ihm steht, die ihn verachten könnte, wenn sie wollte. Aber sie liebt ihn – und er ist endlich bereit, ihre Liebe anzunehmen und zu achten.
Was für ein hochkarätig schimmerndes, facettenreich glitzerndes Paar!
Nun hat Salenko nicht die artistisch inspirierte Konkretion von Polina Semionova als „Giselle“. Sie hat auch nicht diese besonders feminine Schönheit von Maria Eichwald. Auch das kraftvolle Element einer Natalia Osipova – ohnehin nicht jedermanns Geschmack in „Giselle“ – geht ihr ab.
Aber Iana Salenko, als Verkörperung einer ganz bestimmten Eleganz und Majestät des Tanzens, hat eine unverwechselbare Herzlichkeit: mit jedem Atemhauch, mit jeder Geste, mit jedem Schritt – und mit jedem erhabenen Getrippel ihrer anbetungswürdigen Füße.
Wenn sie tanzt, dann ist sie der Tanz – und darum hat man sie beim ehrwürdigen Royal Ballet in London ebenso gern als Erste Solistin wie in Berlin. Auch in London tanzt der Rotschopf die „Giselle“, in einer Inszenierung von Peter Wright, die vielleicht noch klassischer anmutet als die von Patrice Bart, die aber weltweit beliebt ist und auch in Berlin das Nonplusultra des „Giselle“-Universums darstellt.
Salenko stellt nun kaum ein statisch historisierendes Bewusstsein von Posen und Traditionen aus, das widerspräche ihrer Interpretation von Frische und scheinbarer Spontaneität. Aber sie hat jene unbeugsame Naivität des Gemüts und der Grazie, die Friedrich Schiller einst zur ästhetischen Kategorie erhob und die schon so manche Revolution anzuzetteln vermochte.
Da dürfte es so mancher Kavalier an ihrer Seite fast schwer haben, zu bestehen. In London tanzt Salenko mit Steven McRae, der ebenso rothaarig ist wie sie – und der ein ebenso starkes Temperament hat. In einem von ihm selbst choreografierten Stück zu einem live spielenden Czardas-Geiger tobte McRae mal mit Schritten und Sprüngen durch den Raum, als wolle er die Welt aus den Angeln heben!
Dinu Tamazlacaru ist hingegen viel geradliniger, viel weniger neckisch, weniger verspielt, aber er hat dafür die Befähigung, noch eine andere, hervorragend passende Farbe dem Tanzspiel der Salenko hinzuzufügen: Dinu verkörpert die feinsinnige, vor allem lyrische Kompetenz eines Mannes, der dieses daueralarmierte Wahrnehmungssystem des Jägers hat, der stets auf der Pirsch ist – um sich mit Hingabe über seine Beute herzumachen. Er hat die Melancholie des ewig Suchenden im Blick, auch im schön proportionierten Körper – und es ist eine triebhafte Melancholie, keinesfalls ein starrsinniges Machoverhalten wie beispielsweise das des Titelhelden in „Onegin“.
Bei Tamazlacaru erhält die Melancholie ihren spätromantischen Schmelz wieder; sein Weltschmerz ist schwelgerisch, ein leidenschaftlicher Antrieb, sich die Welt immer und immer wieder neu zu erobern.
So radikal schön können nur wenige Ballerini den Albrecht tanzen!
Wirklich: Wenn Dinu Tamazlacaru für Iana Salenko den Herzog Albrecht gibt, dann ist das, als würde ein schwarzes Spiegelbild ihrer lauteren Seele im Fegefeuer einen endlosen Totentanz absolvieren. Er absorbiert ihre Schönheit, ihren Edelmut, ihre Naivität – um sie wie ein geiler Vampir zu reflektieren. Mehr Frau, mehr Mann geht fast nicht als in dieser „Giselle“-Nacht.
Die Triebhaftigkeit der Lust dringt hier durch die hübsche Fassade, das ist selbstredend schauspielerisch beabsichtigt, zumal bei diesem erstklassigen Ballerino. Ein Galan war er im ersten Akt, einer, der immer Recht haben will, obwohl er weiß, dass er meistens im Unrecht ist. Ein Schlawiner war er, der noch findet, er tue ein gutes Werk, wenn er das Blütenzupfspiel manipuliert, um sein Mädchen noch verliebter zu machen, als es das ohnehin schon ist.
Dinu verführte seine Giselle aber nicht kalt und berechnend, wie etwa sein Berliner Kollege Mikhail Kaniskin es in der Rolle des Albrecht macht, sondern er schöpft aus dem vollen, selbstbewussten Spieltrieb heraus. Sinnlichkeit ist, was ihn treibt – und umso hilfloser steht er da, als seine Giselle herausfinden muss, dass er anderweitig verlobt ist, als sie deshalb durchdreht und dann auch zügig an Herzweh stirbt.
Dinu-Albrecht bringt ihr Blumen ans Grab, heimlich, bei Nacht, in den Wald – der Pfaffe wollte dieses dubiose, keusch-verdorbene Mädchen nämlich nicht auf dem christlichen Friedhof liegen haben.
Albrecht fühlt sich schuldig. Und so sind es die Lilien, die er der Toten bringt, jene weißen, großen, kräftigen Lilien, wie sie in der Mythologie für unsterbliche Unschuld stehen. Da erscheint Giselle ihm… sie entsteigt ihrem Grab mit der ihr eigenen engelhaften Anmut… Und eigentlich könnte man fast erwarten, dass jetzt er einen Herzinfarkt bekommt, vor Schreck.
Aber er hatte wohl schon damit gerechnet, denn der Wald, in dem er wandelt, ist bekannt für die weißen Frauen, diese Geisterwesen, diese „Wilis“, die Männern gefährlich werden, aus Rache, weil diese sie zu Lebzeiten der jungen Damen ins Unglück und in den Tod stürzten.
Tatsächlich: Scharen von Wilis tanzen in diesem Zauberwald erhaben-gefühllos ihre Reigentänze, in sich verschränkenden Bahnen, in Blöcken, in Quadrillen. Das Staatsballett Berlin zeigt hier Vorstellung für Vorstellung, wie akkurat und dennoch herzensselig, wie synchron und dennoch selbstverständlich ein hochkarätiges Corps de ballet sich zu bewegen vermag. Eine Augenweide für sich sind diese jungen Damen, von denen jede für sich eine seriöse Künstlerin mit eigenen Qualitäten ist. Eine davon: die Befähigung in höchstem Maße zur Teamarbeit!
Auch am vierten Abend in Folge – denn daraus bestand dieses Mini-Festival für den 175. Geburtstag des Balletts „Giselle“ – zeigt das Staatsballett Berlin keinerlei Schwäche. Ein Extra-Bravo für dieses fantastische weiße Ballett in „Giselle“!
Aber die Wilis auf der Bühne sind nicht harmlos. Sie, mutmaßlich eine Erfindung des damals im Pariser Exil lebenden Düsseldorfer Dichters Heinrich Heine, sind gefährlich wie die Sirenen in der griechischen Mythologie. Und sie tanzen denn auch in „Giselle“ einen jungen Mann, Giselles Verehrer Hilarion (sehr passioniert: Mehmet Yümak), tot – sie haben Blutdurst, sie wollen männliche Opfer, wie Rachegöttinnen oder Furien.
Sie entwickeln ihr tödliches Spiel aus der Sinnlichkeit, aus der Jagd heraus, lieblich sind sie dabei, aber ohne Scham, ohne Hemmungen.
Und Giselle wird bald eine von ihnen sein. Wenn auch niemals so grausam-kalt wie die brillante Myrtha (wunderbar elegant, dennoch so kühl, wie es hier sein muss: Sarah Mestrovic), die Anführerin dieser verzaubert zaubernden Frauen.
Aber Giselle wird nie mehr ins Leben zurück kommen. Giselle wird unlösbar ein Teil dieser nebulösen, denn auch theatralisch vernebelten Naturwelt aus Geistern.
Sie tanzen, Giselle und Albrecht… bis der Morgen graut. Albrecht wird dabei fast von seiner Tanzwut getötet; allein Giselle bewahrt ihn davor, dem Bann der Wilis zu unterliegen und sich zwanghaft in die Todeserschöpfung zu tanzen. Brillant zeigt Dinu Tamazlacaru diesen mit virtuosen Entrechats, Sprüngen, Drehungen gespickten Kampf ums Überleben.
Tanz und Liebe und der Tod. Hier liegt all das nahe beieinander, im Mondenschein, außerhalb der Zivilisation. Und als die Glockenschläge den Morgen verkünden, wäre es fast zu spät gewesen.
Da ist indes diese kleine Szene, die sich unvergesslich machte: Albrecht fällt, er bleibt liegen. Noch einmal kommt Giselle zu ihm, er küsst ihre Hand, und ein letzter romantisch verliebter Pas de deux hebt an.
Als Giselle etwas später entschwebt, in ihr kühles Grab, bleibt Albrecht an ihrem Grabeskreuz kniend sitzen, allein, weinend, den Kopf aufgestützt. Ihm bleibt jetzt nur, im Nebel des neuen Tages langsam aufzustehen und nach vorne zu schreiten – und dem Publikum gestisch zu bekennen, dass er geläutert sei. Dinu Tamazlacaru schafft es, hier sowohl realistisch als auch in höchstem Grade entrückt zu wirken.
Ja, er hat sie geliebt, diese Giselle, er hat sie mit seiner Untreue umgebracht. Sie hat ihm dennoch das Leben gerettet… er wird ihr in Liebe dankbar sein bis ans Ende seiner Tage… und er kniet, wie ein Schulbub nach der Tracht Prügel, mit brennend-verklärter Miene, frontal zum Publikum – er kniet vor der Würde und der Allmacht der Liebe, mit der Giselle ihm gleichermaßen verzieh. Die Welt hat ein Ende mit diesem Schlussbild…
Patrice Bart, der Choreograf, hat mit dieser Schlusspose eine Tradition wahrgenommen, die auf der ganzen Welt so gehandhabt wird. Albrecht kniet hier scheinbar vor dem Publikum, emotional aber vor Giselle. Eine andere Version macht das ebenso: Yvette Chauviré, die mal eine famos-berühmte Giselle war und die das Stück nach Beendigung ihrer Ballerinenkarriere in eine bis heute international noch ab und an gespielte Fassung in Szene setzte, wählte den Schluss ähnlich. Auch bei ihr darf Albrecht am Ende ins Publikum schauen, entgeistert, fast entseelt. Ist er auch ein Geist geworden?
Im Grunde bleibt das Ende offen.
Ursprünglich aber gab es tatsächlich noch ganz andere Versionen. Als „Giselle“ 1841 in Paris uraufgeführt wurde, in der Choreografie von Jean Coralli und Jules Perrot (die heute gespielten Versionen beruhen auf dieser und enthalten zusätzlich oft noch Passagen, die Marius Petipa gestaltete), da gab es am Ende eine Rückkehr Albrechts in sein altes Leben.
Seine Verlobte Bathilde und sein Freund Wilfried holten ihn da am Grab Giselles ab, führten ihn zurück in die Realität, als sei der Auftritt der tödlichen weißen Frauen nur ein Traum gewesen.
Dieser psychologische Hinweis auf die Traumarbeit zur Verarbeitung von Verlust und Schuldgefühlen setzte sich aber nicht durch. Sei es, weil man die Darstellerin der Bathilde und den Tänzer des Wilfried nicht am Ende nochmals auf die Bühne zerren wollte, sondern zwischenzeitlich schon nach hause geschickt hatte, oder sei es, weil zuviel Realismus und Küchenpsychologie die magische Anmutung des Stücks zerstören könnten: Albrecht wird in allen heute bekanntermaßen gespielten Versionen am Ende allein mit sich gelassen.
Manchmal darf er in die Kulissen gehen, also traumwandlerisch sich vom Spielort entfernen. Aber zumeist verharrt er allein auf der Bühne, reglos, statisch, wie eine heilige Skulptur – ein Entseelter, der seine Liebe für immer verlor.
Der reuige Sünder, er braucht dann keine weitere rettende Hand mehr… und das Publikum will wohl auch gar nicht wissen, ob er nun zum Pilger und Asketen mutiert ist oder ob er tatsächlich seine Verlobte Bathilde heiratet.
Ins Gedächtnis brennt sich der Anblick Albrechts ein, wie er zur langsam ausklingenden Musik am Boden kniet, mit entrücktem Blick, fast dem Tode sehr nah… wobei erwähnenswert ist, dass es im 19. Jahrhundert auch Versionen gab, in denen Albrecht am Ende wirklich auch noch den Tod findet, als Erlösung von moralischer Schmach und Pein. Allerdings hat sich auch dieses Experiment nicht durchgesetzt – der Held soll leben, wenn auch sozusagen als eine komplett überarbeitete Version seiner selbst.
Dinu Tamazlacaru kann das versinnbildlichen wie kaum ein zweiter Tänzer, und wenn es darum geht, den Zwiespalt des Albrecht in sich spürbar zu bereinigen und zu einem abgeklärt-geläuterten, aber keineswegs glücklichen Seelenfrieden zu bringen, dann ist er dafür genau der Richtige.
Ohne Taschentücher geht da im Publikum aber gar nichts! Bravo, bravo, bravo!
Und bei allem Respekt: Wer behauptet, das Staatsballett Berlin würde ohne Vladimir Malakhov sein Niveau verlieren, der lügt.
Ach, und eins noch: Giselle! Alles Gute für die nächsten 175 Jahre…
Gisela Sonnenburg (Mitarbeit: Petra Pan)
Weitere Texte zu „Giselle“ im ballett-journal.de, bitte siehe auch Abmoderation hier:
www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-giselle-viktorina/
* Applausfotos von 2015