Ein Fenster in die Vergangenheit, ein Gefühl für die Gegenwart „Once Upon An Ever After“ von Terence Kohler und „Choreartium“ von Léonide Massine beim Bayerischen Staatsballett

Zwei Ballette, sehr verschieden, ergänzen sich dennoch.

Dornröschen (Séverine Ferroli) liegt in einer pinkfarbigen Plüschmulde. Bis der Prinz kommt… so zu sehen in „Once Upon An Ever After“ von Terence Kohler beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hoesl

Licht! Auf der Bühne spielt das Licht, als sei es der Hauptakteur. Kein Wunder, denn die buntes Licht sehr liebende bildende Künstlerin rosalie entwarf für Terence Kohlers Stück „Once Upon An Ever After“ das Bühnenbild, die Kostüme und auch das Lichtdesign. Frühling, Sommer, Herbst und Winter werden darin von ihr ebenso mit Illumination illustriert wie sie aus dem altbekannten, bleichen Vollmond über dem Teich aus „Schwanensee“ eine altrosafarbene, hohle Rosette macht. Dornröschen schlummert hier gar in einer knallpinken Plüschmulde, varietéreif von Lampen garniert. Dagegen wirkt dann der Bühnenraum in Léonide Massines Ballett „Choreartium“ von 1933, von Keso Dekker aus Lamellenvorhängen neu gestaltet, nachgerade puristisch. Aber Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an. Das Bayerische Staatsballett bringt denn auch beide Stücke an einem Abend zur Aufführung – und erlaubt so eine Verklammerung der zurück blickenden Gegenwart (Kohler) mit einem Werk der historischen Moderne (Massine), das vor allem im Reigen der sinfonischen Ballette eine Sonderposition einnimmt.

Zuerst entführt „Once Upon An Ever After“ mit einem kritisch resümierenden Bick in die Ballettmärchen der Vergangenheit. Kohler spießt Schlüsselszenen aus „Giselle“, „Dornröschen“ und „Schwanensee“ auf – und lässt sie, statt zur Originalmusik, zur Musik der „Pathétique“, der sechsten Sinfonie von Peter I. Tschaikowsky, Revue passieren. „Wie ein Fenster in die Vergangenheit“, sagt Kohler, solle sein Ballett wirken. Anfang und Ende sind allerdings der Gegenwart gewidmet – „als eine Art erhöhte Realität“, so der Choreograf.

2008 entstand „Once Upon An Ever After“ – und wurde dem Bayerischen Staatsballett auf den Leib geschneidert. Es ist das erste Stück, das der 1984 in Sidney geborene Terence Kohler ohne Bindung zu seiner vormaligen Chefin Birgit Keil vom Badischen Staatstheater kreierte. Der merkwürdig collagierte Titel lässt bereits das Märchenthema anklingen: Once upon a time, die englischsprachige Entsprechung zu „Es war einmal“, mündet hier allerdings in das Konstrukt „an ever after“, was soviel wie „ewig danach“ heißt. „Es war einmal ein ewiges Danach“, das klingt ein wenig chaotisch, aber so in etwa ist der Titel zu übersetzen. Er deutet somit – mit absurd-charmanter Schräglage – auf die scheinbar reichlich vorhandene Zukunft hin.

Die Vergangenheit ist hier durch das „ewige Danach“ sozusagen gleich doppelt abgeschlossen. Nur der Rückblick auf sie adelt sie ebenso wie der historische Blick die Gegenwart. Und obwohl beides im Hinblick auf Zukunft reflektiert wird, so dialektisch wird hier das Wörtchen „ever“, „ewig“, angewandt. Man sollte hier ein Gefühl für die Gegenwart entwickeln. Fazit des Titels dann: Wieviel Zukunft hat die Menschheit noch – und was tat sie in der Vergangenheit dafür?

Zwei Ballette, sehr verschieden, ergänzen sich dennoch.

Terence Kohler in einem Werbetrailer des Bayerischen Staatsballetts, für das er 2008 sein Stück „Once Upon An Ever After“ schuf. Videostill: Gisela Sonnenburg

Man könnte Terence Kohler für einen Philosophen halten.

Das Philosophische im Sinne einer starken Bewusstheit um die Vergänglichkeit schwingt auch in der Musik mit.

Tschaikowskys sechste Sinfonie war nämlich sein letztes Werk, und der Komponist hatte in der Zeit ihres Komponierens suizidale Gedanken, sodass tatsächlich von einem selbstbewussten Abschied aus der Musikgeschichte gesprochen werden kann.

Euphorie und Depression, Traurigkeit und Schwelgerei liegen in den kunstvoll verflochtenen Melodiesträngen nah beieinander.

Tschaikowsky leitete zwar noch die Uraufführung seiner Sechsten in Sankt Petersburg, nur neun Tage vor seinem Tod. Doch dann führte der Meister von Ballettmusiken wie „Dornröschen“, „Nussknacker“ und „Schwanensee“ vermutlich absichtlich sein Ableben herbei, durch mit verseuchtem Wasser aufgenommene Cholera-Bazillen.

So ist nicht auszuschließen, dass er sein letztes Werk im Bewusstsein um dessen Stellenwert innerhalb seines musikalischen Werks komponierte. Den Beinamen „Die Pathetische“ erhielt die sechste Sinfonie übrigens auf den Vorschlag von Tschaikowskys Bruder Modest hin. Ihre Tonart, h-Moll, stand dem Komponisten derweil besonders herzensnah; das Ende des Werks trägt allerdings ganz deutliche Züge eines Requiems.

Kein Zweifel: Hier hat sich ein bedeutender Romantiker selbst ein Denkmal gesetzt. Tschaikowsky wollte so in Erinnerung bleiben, wie es seine „Pathétique“ suggeriert: erfüllt von grandios-wehmütigem Pathos.

Kohler wiederum nutzt nun die starken Emotionen der „Pathétique“, um sein Anliegen, die Gegenwart mit der Vergangenheit zu konfrontieren, mit melancholisch-alarmierender Sinnlichkeit aufzuladen. Dazu passt, dass in Tschaikowskys musikalischem Abschied auch Melodieschnipsel aus den Balletten wie „Nussknacker“ zu hören sind. Die Idee liegt nahe, daraus eine Rückschau zu machen.

Zwei Ballette, sehr verschieden, ergänzen sich dennoch.

Die Künstlerin rosalie sorgt mit ihren Ideen, wie hier dem Blütenregen, für eine moderne, die Historie nicht nur zitierende, sondern mit ihr spielende Ästhetik. So in „Once Upon An Ever After“ von Terence Kohler beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Charles Tandy

Hoch dramatische Momente bewirken zudem einen fast cineastischen Sog dieser Musik. Temperament und Poesie scheinen sich da die Hände zu reichen. Für die Tänzerinnen und Tänzer ist das ein mitreißendes akustisches Szenario. Und auch, wenn manches in der Partitur mutwillig wirkt und die sechste Sinfonie nicht nur meiner Meinung nach längst nicht die Kraft und Poesie anderer Tschaikowsky-Werke hat – etwa von „Souvenir de Florence“ oder der in „Onegin“ verwandten sinfonischen Werke – so bietet sie doch eine hervorragende, auch rhythmisch stark durchwirkte Grundlage für Tanz.

Es wird Zeit, sich mit dem Personal von „Once Upon An Ever After“ und seiner avisierten aktuellen Besetzung zu beschäftigen: Es begegnen uns die zauberhaft-zierliche Katherina Markowskaja als Giselle, der starke Matej Urban als Albrecht und die geradlinige Elisa Mestres als Myrtha wieder. La Primaballerina Lucia Lacarra und ihr schöner Partner Marlon Dino sind, oh, welche Brillanz, Odette und Siegfried, während die feinsinnige Séverine Ferrolier und der markante Maxim Chashchegorov die Parts von Aurora und Desiré verkörpern.

Und da der mit allen Theater-Wassern gewaschene Norbert Graf den bösen Zauberer Rotbart und das große Nachwuchs-Talent Jonah Cook die modernistisch so benannte Variation I tanzen, dürfte an der gelegentlich humoristisch überdrehten Ernsthaftigkeit des Kohler’schen Unterfangens überhaupt kein Zweifel sein. Da darf Kitsch noch kitschig sein, denn es kommt auf den Inhalt und auf seine Formen an: Wir dürfen uns einfühlen in die Situationen der vorvergangenen Jahrhundertkunst, um unsere heutigen Emotionen mit ihnen abzugleichen.

Vermutlich möchte man danach sofort noch einmal auf diese Reise in der Vergangenheit gehen, um frohen Mutes und mit gespannter Neugier in der Gegenwart zu landen.

Zwei Ballette, sehr verschieden, ergänzen sich dennoch.

„Choreartium“ von Léonide Massine spielt nicht mit historischen Zitaten, sondern bemüht sich um eine originäre, moderne Körpersprache des Balletts. Hier Ivy Amista und Leonard Engel vom Bayerischen Staatsballett auf einem Foto von Wilfried Hösl.

Eine die metaphorische Reiselust bestärkende Stimmung empfängt uns mit „Choreartium“ von Léonide Massine im zweiten Teil des Abends. Der Titel ist eine kryptische Umschreibung für „Tanz der Kunst“ und soll wohl auf die Antike referieren. Die Ursprünge des Tanzens, also Gefühle zu zeigen, werden damit ebenso zitiert wie der hohe Kunstanspruch, den Massine an das Ballett hatte. 1933 entstanden, ist es das zweite Ballett nach einer bereits existierenden Sinfonie, das Massine entwarf. Das war damals noch etwas sehr Besonderes: Ballett ohne Handlung und ohne konkrete Verortung in einem bestimmten Libretto. Das abstrakte sinfonische Ballett – das in den „weißen Akten“ der romantischen und klassischen Stücke im 19. Jahrhundert seine Vorläufer hat und das sich mit „Les Sylphides“ von Mikhail Fokine 1909 zur Musik von Frédéric Chopin erstmals selbständig auf der Bühne formuliert fand – wurde somit von Massine in den 30er Jahren entscheidend geprägt und voran getrieben.

Mit „Les Présages“ hatte Massine kurz zuvor ein sinfonisches Stück zu Tschaikowskys fünfter Sinfonie geschaffen. Jetzt, mit „Choreartium“, nahm er sich den Komponisten Johannes Brahms vor, und zwar dessen vierte Sinfonie. Es ist, was wiederum ein Anknüpfungspunkt zu „Once Upon An Ever After“ ist, die letzte Sinfonie des Komponisten. In e-Moll komponiert, besteht sie aus drei festlich gehaltenen Allegro-Sätzen und einem tieftraurigen Andante, das von den Allegri regelrecht umarmt wird.

Schnell und hurtig, aufwühlend und leidenschaftlich, aber auch getragen und von feierlichem Ernst ist diese Musik im Nachgeschmack. Für Ballettmusik hat sie eine fast monströse Anmutung von Festlichkeit, sie ist statisch und pompös: Da ist nichts munter-verspielt oder lustvoll-detailverloren. Alles ist voll Pathos und Gediegenheit.

Massine setzt dagegen eine provozierende Fröhlichkeit auf die Bühne. Gerade aus der Spannung und der Gegensätzlichkeit im Ausdruck der Tänzer zur Musik, verwoben mit einer passgenauen Vertanzung der Partitur nach dem Motto „Note für Note, Takt für Takt, Phrase für Phrase“ ergibt sich das typische Flair dieses Balletts. Der Choreograf hat es sich nicht leicht gemacht und wollte seinem Publikum mit dem zweiten auch so genannten sinfonischen Ballett etwas Besonderes bieten.

Zwei Ballette, sehr verschieden, ergänzen sich dennoch.

„Choreartium“ von Léonide Massine bietet Ensembleszenen der Herren, die für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bahnbrechend modern anmuten. Foto vom Bayerischen Staatsballett: Charles Tandy

In lockerem Wechsel entsprechen und widersprechen Ensemble und Solisten solchermaßen zugleich den schwelgerischen Klängen. Keckheit und Lebendigkeit, Freude und Eleganz prägen die Choreografie. So manche Ensembleszene der Herren greift ihrer Zeit, den 30er Jahren, weit voraus und erinnert schon an Béjart oder noch jüngere Choreografen. Dass die männliche Kraft des Corps solchermaßen als eigenständiges Ideal gefeiert wird, ist im Ballett ja eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Und nur zwei vermeintlichen Narren mit Masken und nacktem Oberbauch bleibt es in „Choreartium“ vorbehalten, hier eine ironische Brechung einzubringen.

So ist „Choreartium“ ein Bilderreigen, der sich der Musik bewegungsrhythmisch völlig anpasst und mit ihr Note für Note korrespondiert, obwohl er im Ausdruck der Musik widerspricht – die Takteinheiten sind hier die einzigen verbindenden Glieder.

Und auch, wenn das Ganze stark durchgearbeitet und durchdacht wirkt: Es handelte sich 1933 natürlich auch um ein Experiment, so etwas überhaupt so zu machen. Ballett ohne Handlung! Ohne Libretto! Sogar ohne eine konkrete Kulisse, wie sie „Les Sylphides“ mit einer lieblichen Lichtung im Wald noch aufweisen musste, um die Zuschauer zu begeistern.

Massine, der als ganz junger Mann zunächst am Bolschoi in Moskau getanzt hatte und dann stark mit dem Schauspiel liebäugelte, wurde von dem Ballett-Impresario Serge Diaghilev nach West-Europa, zu den Ballets Russes nach Paris, geholt. 1914 stellte der junge Léonide mit seiner erotisch-burschenhaften Ausstrahlung die Titelfigur in Mikhail Fokines „Josephs Legende“ bei den Ballets Russes dar. Ein adäquater Nachfolger für das legendäre Tanzgenie Vaslav Nijinsky war er allerdings mitnichten. Dafür begann er bereits 1915, eigene Stücke mit den Ballets Russes einzustudieren. „Soleil de Nuit“, Nachtsonne, hieß sein erstes Ballett in Paris, es folgten Arbeiten wie „Parade“, das 1917 in Zusammenarbeit mit Pablo Picasso und Jean Cocteau entstand, sowie „Pulcinella“, den Massine 1920 mit dem Komponisten Igor Strawinsky erschuf.

Noch im selben Jahr, 1920, gründete Massine in London eine eigene Truppe, mit der er Tourneen bis nach Übersee unternahm. 1932 dann kehrte er zurück nach Europa und trat den in Monte Carlo neu gegründeten Ballets Russes bei: als Ballettmeister und Choreograf, wobei er später auch Künstlerischer Direktor der Truppe wurde. Er war kein genialer Choreograf, aber er hat hoch interessante Dinge im Ballettbereich unternommen und sich ihnen mit Fleiß, Esprit und Intelligenz gewidmet.

Heute sind sinfonische Ballette wie die von Massine kein Regelverstoß mehr. Maurice Béjart, John Neumeier, Uwe Scholz, Martin Schläpfer und sehr viele andere haben sich vergleichbaren Unterfangen gewidmet. Aber als 1933 „Choreartium“ kreiert wurde, war das sowohl für Massine als auch für sein Publikum noch Neuland: ein rein abstrakter Tanz, der sich nur der Musik und keinem Thema und schon gar nicht irgendeiner Handlung widmete. Da sich Massine trotz der Tatsache, dass er einer Novität frönte, als Perfektionist verstand, merkt man es dem Stück kaum an, dass es nur auf wenige Traditionen zurück greifen kann. Aber wer genau hinsieht, entdeckt die Frische und die Unverdorbenheit in den Reigen und Pas de deux, in den Soli und den Gruppenszenen dieses Stücks.

„Choreartium“

Lucia Lacarra in einer der dramatischen Passagen in „Choreoartium“: Pathos und Eleganz vereinen sich auf höchstem Niveau. Foto vom Bayerischen Staatsballett: Wilfried Hösl

Die Tänzerinen und Tänzer vom Bayerischen Staatsballett machen da jedenfalls ein Fest für ihre hohe Kunst daraus. Die agile Daria Sukhorukova, die charmante Luiza Bernardes Bertho, die langbeinige Evgenia Dolmatova, die zierliche Mia Rudic, dann – wie schon in „Once Upon…“ die niedlich-kecke Katherina Markowskaja, die grandiose Lucia Lacarra, der herzliche Matej Urban, der lyrische Adam Zvonar, der Funken sprühende Javier Amo und der ebenfalls in „Once Upon…“ bereits begeisternde, markante Maxim Chashchegorov geben sich der Musik von Brahms ganz hin: um in geschmeidigen Gleitschritten, akrobatischen Turmbauten, fröhlichen Pirouetten und wunderschönen Posen zu zeigen, was die Macht Terpsichores auch ohne vorgegebenes Thema so alles vermag.

Da ruft man sich am Ende gern das Vorspiel des Stücks, wie es in München inszeniert ist, noch einmal ins Gedächtnis: Der Stücktitel „CHOREARTIUM“ stand da als Lichtprojektion auf den Vorhang zu lesen, dazu erschallte das Tippen auf einer mechanischen Schreibmaschine. Alsbald setzte eine männliche Hand mit einem altmodischen Füllfederhalter ihre Signatur unter den Schriftzug: „Léonide Massine“. Ohne Accent aigu, übrigens.
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

www.staatsballett.de

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