Schamanentum gegen die menschliche Kälte Die „Winterreise“ von John Neumeier mit dem Hamburg Ballett ist eine moderne Collage zum Thema Einsamkeit

Die "Winterreise" von John Neumeier thematisiert die Einsamkeit.

Eine Gesellschaft, die sich ausprobiert – und sich verbessern will. „Winterreise“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Marcus Renner

Es beginnt wie ein stummes Theaterstück. Die „Winterreise“ von John Neumeier, im Dezember 2001 uraufgeführt und jetzt wieder auf dem Spielplan beim Hamburg Ballett stehend, ist kein typisches Ballett. Tanztheaterelemente, teils mit Stimme, aber ohne Sprache, ergänzen sich: zu modern-pantomimischen, gestischen Ausdrucksweisen. Es wird zwar auch viel getanzt – aber die eindrücklichsten Szenen und Momente gehören der spartenübergreifenden Performance. Insofern ist diese „Winterreise“ nach Motiven des romantischen Liederzyklus von Franz Schubert ein regelrechter Fundus an neuartigen Ausdrucksmöglichkeiten des Körpers – angehenden Choreografen sei die Schulung an diesem Stück darum ans Herz gelegt.

Eisblaues Licht strahlt von der Bühne. Im vordersten Teil – auf einer vor das Orchester gelegten, neu geschaffenen Rampe – wird eine sandige Wüste zu einer aus Schnee. Dahinter klafft eine schwarze Gletscherspalte: der Orchestergraben. Dann kommt Freiraum, und rechts hinten auf der knallblauen Wand – die an das Bühnenbild von Neumeiers vier Jahre später entstandenem Ballett „Die kleine Meerjungfrau“ erinnert – prangt eine Tür. Eine verheißungsvoll geschlossene Tür.

Die "Winterreise" von John Neumeier thematisiert die Einsamkeit.

Florian Pohl beginnt das Stück „Winterreise“ von John Neumeier – mit einem langsamen Abschreiten der Rampe… Foto: Marcus Renner

Im Zeitlupentempo wandert ein einsamer Mann (Florian Pohl) mit aufgespanntem Regenschirm die Rampe entlang. Er trägt einen Hut, wie der Komponist Franz Schubert ihn trug und wie ihn auch die Gestalt des Dichters in der „Meerjungfrau“ trägt. Er geht, geht, geht – und nichts passiert. Nur aus dem Orchestergraben sind lautes Geraschel und ein rhythmisches Gezupfe der Streicher zu vernehmen. Die Spannung steigt.

Die Tür in der Bühnenmitte öffnet sich. Und gibt den Blick frei auf ein grelles, gelb-orangenes Licht. Die Silhouette von Aleix Martínez steht in der Tür, mit Koffern beladen, verzweifelt. Er will rein, also raus, auf die Bühne. Aber er schafft es nicht. Er zappelt und versucht es erneut. Er passt nicht durch. Aber er muss! Ist es ein Feuer, vor dem er flieht? Eine Hitze und Dürre? Oder einfach nur das hellichte Nichts?

Die Koffer sind zu sperrig, er kommt nicht durch die Tür. Sie geht wieder zu. Kafkaesk: Eine Tür, die von alleine aufspringt und sich von allein auch wieder schließt. Natürlich drängt sich die Flüchtlingsthematik auf. Menschen kommen aus der Hitze Afrikas und wollen ins kalte Europa. Ins auch menschlich kalte Herz der westlichen Welt. Aber der Zugang ist versperrt – und ihre Koffer, symbolisch auch für ihr kulturelles Gepäck, sind ein zusätzliches Hindernis.

Die "Winterreise" von John Neumeier thematisiert die Einsamkeit.

Der erschrockene Blick: Aleix Martínez im „Zwangsjackenpulli“ in der „Winterreise“ von John Neumeier. Foto: Holger Badekow

Wir, die Zuschauer, sind auch die Welt in diesem Stück, die den jungen, vitalen Tänzer Martínez zunächst verschreckt. Denn wir sind die kalte Welt, in der es immerzu Winter ist. Wie in einer symbolischen Eiswüste. Die einzige Hoffnung darin: der Mensch an sich.

Das ist die Botschaft der „Winterreise“. Kein leichter Stoff: Um Interaktion geht es, um den Mangel, aber auch an den langsamen Gewinn an Wärme und Vertrauen zwischen den Menschen. Um den Weg, den jeder gehen muss, auch wenn er schwer ist. Um den Weg zur Liebe, ja sogar zur Nächstenliebe, auch um den Weg des Lebens trotz all des Sterbens.

Die "Winterreise" von John Neumeier thematisiert die Einsamkeit.

Geht, steht, zappelt, quält sich, hilft, staunt und lässt sich helfen: Der Hauptprotagonist der „Winterreise“, Aleix Martínez, in Aktion. Foto: Marcus Renner

Und wenn dann der Tanz einsetzt, wenn der Tänzer Martínez sich halbnackt und verzweifelt im Schnee wälzt und zwischen Zucken und Schlottern brillante Pirouetten dreht, wenn die moderne Musik von Hans Zender, der Schuberts Liederzyklus nach Versen von Wilhelm Müller neu komponierte, hämmert, bohrt und dröhnt, um ab und an Franz Schuberts zugrunde liegende, liebliche Melodien zu tirilieren, und wenn dazu drei Dutzend Tänzerinnen und Tänzer auf die Bühne fliehen, als sei einzig hier sauerstoffhaltiger Lebensraum, dann weiß man: Die „Winterreise“ ist ein inbrünstiges Credo für eine andere, für eine bessere Welt.

Die "Winterreise" von John Neumeier thematisiert die Einsamkeit.

John Neumeier bedankte sich bei mir 2002 nach einem Interview, in dem es auch um die „Winterreise“ ging, herzlich schriftlich für die anregenden Fragen – schön, wenn Choreograf und Journalistin menschlich kommunizieren können. Faksimile: Gisela Sonnenburg

„Als ich die orchestrierte Fassung der ‚Winterreise’ von Zender hörte – in Wien beim Stöbern in einem Plattengeschäft – spürte ich etwas von mir darin“, sagte mir Neumeier bei einem intensiven Gespräch 2002. „Und wie immer, wenn nach dem Instinkt der Intellekt einsetzt, war mir nicht klar, was ich damit eigentlich mache. Aber das Gefühl von Ausgesetztheit, auch von Sicherheit, war sofort da.“ Das Ambivalente als Antrieb, ein Thema zu bearbeiten, sich mit einer Sache ernsthaft zu befassen.

Die "Winterreise" von John Neumeier thematisiert die Einsamkeit.

Carsten Jung tanzt mit dem Plexiglasstuhl – aber manchmal sitzt er auch drauf. In der „Winterreise“ von John Neumeier. Foto: Holger Badekow

Also setzte Neumeier die „Winterreise“ auf den Spielplan, zwei Jahre vor der Uraufführung. Er folgte dem eigenen Instinkt für Metaphysik, nahezu blind – und instinktiv, berichtete er, sei er damals auch in dieses Geschäft in Wien gegangen, mit dem Gefühl, dass dort drinnen irgend etwas Wichtiges auf ihn warte. Zender wartete.

Als dann die Zeit der Proben näher rückte, der 11. September 2001 das Weltbild veränderte und die Bomben auf Afghanistan Debatten auslösten, gab es kein Zurück mehr: Die „Winterreise“ wurde zügig erstellt, sie geriet zu einem konzisen Kommentar der Gegenwart, zu einer Art Abrechnung mit der westlichen Kultur.

Die "Winterreise" von John Neumeier thematisiert die Einsamkeit.

Die berühmte Linde der Romantik senkt sich in der „Winterreise“ hernieder – kopfüber, so wie ursprünglich die Weihnachtsbäume aufgehängt wurden. Foto: Marcus Renner

Darin gibt es Bilder, die man unmöglich vergessen kann. Da senkt sich ein Baum, es ist die berühmte Linde der Romantik, langsam kopfüber aus dem Schnürboden – und die Tänzer streben diesem Zipfel der Natur zu, weil es keinen anderen Himmel mehr gibt. Paare finden und verlassen einander, sie alle sind Wanderer, die immerzu unterwegs sind und immer wieder in Gefahr, in eisiger Kälte zu erstarren.

Aber wenn sich zwei Hände berühren, erschafft der Tanz den Ausbruch aus der Isolation. Mitleid und Würde stiften atemberaubende Choreografien. Hebungen, Prozessionen. Gleichklang, Disharmonien. Unsicherheit allerorten. Angst. Verdrängung. Freude.

Die "Winterreise" von John Neumeier thematisiert die Einsamkeit.

Hayley Page, die bei der Premiere der Wiederaufnahme der „Winterreise“ gerade 21 Jahre alt wurde, und Aleix Martínez, mit 22 Jahren auch ein Jungtalent des Hamburg Balletts. Foto: Marcus Renner

Aleix Martínez ist dabei stets eine Sehenswürdigkeit, mal in Badehose und barfuß im Schnee, mal im übergroßen Zwangsjacken-Pulli, mit weit über die Hände schlabbernden Langärmeln (der überlange Hosenrock von Neumeiers „Meerjungfrau“ scheint hier ein frühes Pendant zu haben). Martínez steht im Zentrum des Abends, als Interpret einer Rolle, die von Yukichi Hattori kreiert wurde, einem klein und kinderzart gewachsenen japanischen Tänzer, der später nach Kanada ging, wo er mittlerweile Choreograf ist.

Hattori verkörperte ein Stück weit das Kindchen-Schema – und er hatte einen ganz bestimmten Energiefluss, eine typisch asiatische Anmut und eine Springwut im Leib, die ihn zu einem großen Publikumsliebling in Hamburg machte. Kaum kam er auf die Bühne, rasteten seine Fans vor Freude bereits aus. Ganz so einfach hat es Aleix Martínez nicht, obwohl er ein vorzüglicher Tänzer ist. Er nimmt seine Rollen stets sehr bewusst an, gestaltet sie weniger flippig, dafür markant und ernsthaft. Mit flirrender Intensität gestaltet er sowohl das Spiel mit Requisiten – mit seiner Fliegermütze, seinem Ärmelpulli sowie einer Brille, die ihn als vertriebenen Intellektuellen kennzeichnet – als auch die Interaktion mit den anderen Solisten.

Die "Winterreise" von John Neumeier thematisiert die Einsamkeit.

Frauen unter sich – das kann wunderschön sein. Hier Anna Laudere (re) und Hélène Bouchet (li) in der „Winterreise“ von John Neumeier. Foto: Marcus Renner

Paartänze des Kennenlernens entspinnen sich da – Martínez ist der stets Fremde, der das Neue anstaunt und begutachtet. Als Jüngling, der seine Erfahrungen macht, entspricht er einem bekannten Neumeier’schen Motiv. Diffizile, aber fantastisch nachvollziehbare Pas de deux erzählen Beziehungsgeschichten. Martínez greift manchmal ein, schaut manchmal aber auch nur zu.

Die "Winterreise" von John Neumeier thematisiert die Einsamkeit.

Aleix Martínez greift ein: Der furiose Alexandre Riabko beim Herbeisehnen in der „Winterreise“. Foto: Marcus Renner

Ein Leitmotiv ist ein in wechselnder Besetzung sorglos in Sommerkleidung durch die Winterlandschaft hüpfendes Biedermeiermädchen, das im Schnee ein Blümchen entdeckt und sich daran erbaut. Aber wenn es schneit – ein wunderschönes Bühnenschneien hat die Hamburgische Staatsoper zu bieten – scheint die ganze Szenerie ein Sinnbild für alle Nuancen der Melancholie.

Die "Winterreise" von John Neumeier thematisiert die Einsamkeit.

Eine Bühne, auf der es schneit – in der „Winterreise“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Marcus Renner

„Natur als innere Landschaft“, schreibt Neumeier über sein Stück, sei hier vorrangig zu begreifen: „Natur echot den Menschen, der Mensch spiegelt sich in ihr, und sie wandelt und verändert ihn.“ Neumeier und sein Bühnenbildner Yannis Kokkos hatten zunächst sogar überlegt, Gemälde von Caspar David Friedrich in die Bühnenbilder mit einzubeziehen. Dann aber fiel die Entscheidung für ein abstraktes Bühnenbild, in dessen Mitte ein dreistufiger Treppenabsatz steht. Ab und an spielt ein Stuhl aus Plexiglas mit, und im Hintergrund links leuchtet zeitweise in neonblauen Linien ein Hausumriss. Die „Winterreise“ führt metaphorisch zu allen Orten, die seit der Kindheit als „wichtig“ abgespeichert werden.

Die "Winterreise" von John Neumeier thematisiert die Einsamkeit.

Eine spektakuläre Glaswand schwebt aus dem Schnürboden gen Boden – und Menschen sterben daran, im Bühnenspiel der „Winterreise“ von John Neumeier. Foto: Holger Badekow

Spektakulär ist eine dreiteilige Glasscheibe, die sich langsam von oben herab und an ihren schweren Kettengliedern zu Boden senkt, bis sie wie eine durchsichtige Mauer vor dem Tänzerensemble steht. Dahinter sammeln sich die Tänzer, sie pressen sich ans Glas, doch die Scheibe kippt nach vorn, und Aleix Martínez und Konstantin Tselikov, der hier zeitweise einen wichtigen Part einnimmt und als Tänzer neue, poetisch-sensible Facetten von sich zeigt, stoppen das Desaster mit ihren Körpern. Sie stemmen sich einfach gegen das schwere Glas, gegen die Menschenmenge, um sie zu retten.

Das sieht mächtig aus, nach Zivilcourage und nach tätiger Hilfe, es hat aber auch etwas von Unschuldig-schuldig werden, sogar etwas von versuchter Sühne der Vergangenheit: Denn die sich eben noch hilflos gegen das Glas gepresst sahen, fallen einer nach dem anderen tot um, ihre Leiber bilden bald einen reglosen Berg aus Menschen – unwillkürlich hat man hier KZ-Assoziationen. So tragisch ernst ist die „Winterreise“ aber nur an diesem einen Punkt.

Die Winterreise von John Neumeier thematisiert die EInsamkeit.

Die Programmhefte des Hamburg Ballett zur „Winterreise“ waren 2001 noch konsequent ohne Buntheit in der Helldunkel-Ästhetik gehalten. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Ansonsten gewinnt gerade die neu beleuchtete Wiederaufnahme oftmals eine schwebende Leichtigkeit.

Der Unterschied zur Uraufführung besteht vor allem in der neuen Farbigkeit, und diese spiegeln auch die unterschiedlichen Programmhefte. War es 2001 noch konsequent in Schwarz-weiß-Ästhetik gehalten, enthält es heute auch eine expressive, von viel Schwarz durchsetzte Buntheit.

Die mal in Weiß, mal in Grau gekleideten Ensembletänzer und die Solistinnen mit ihren knallblauen Kleidern, auch mal über Hosen, sowie die männlichen Solisten mit schlichten Shirts und Hosen zeigen in abwechslungsreichen Konstellationen verschiedene Versuche, ein gesellschaftliches Bild zu montieren und auch zu demontieren.

Die "Winterreise" von John Neumeier thematisiert die Einsamkeit.

Manchmal erinnern Kostüme und Choreografie an andere Neumeier-Ballette: Hier die „Winterreise“, aber Kenner sehen auch Elemente der „Matthäus-Passion“. Foto: Marcus Renner

Da sprengt das Zusammenfinden von zwei Menschen – seien es gleichgeschlechtliche Paare oder herkömmlich gemischte – oftmals die Szenerie, während die modern gebrochene romantische Musik jeweils eine bestimmte Atmosphäre vorgibt.

Die Pas de deux sind vom Feinsten und gerade in ihrer Unterschiedlichkeit zu bewundern. Da tanzen die agile Leslie Heylmann und der bravouröse Carsten Jung ein ganz modernes Paar: Sie dominiert ihn zeitweise, er hebt sie mit Nonchalance, sie dient ihm als Halt, er legt von hinten seine Arme um sie und lässt sich fast tragen. Silvia Azzoni, Hélène Bouchet, Anna Laudere und vor allem die große, schlanke, blonde Hayley Page, die am Tag der Wiederaufnahme-Premiere just ihren 21. Geburtstag feierte, zeigen, wieviel weibliches Gefühl sich in lockeren Paartänzen ausdrücken lässt. Sensitiv, mit vornehmen Schritten, oder auch dynamisch, mit zappelnder Heftigkeit, bilden sie jenes Stück Natur, das wahrscheinlich das Schönste überhaupt ist.

Die "Winterreise" von John Neumeier thematisiert die Einsamkeit.

Zwei Männer, die den Pas de deux beherrschen: Konstantin Tselikov und Aleix Martínez in der „Winterreise“. Foto: Marcus Renner

Der sowohl jungenhafte als auch sehr männliche Alexandre Riabko wiederum, dem die schwarze Lederhose hier sehr gut steht, bringt enormen Drive auf die Bühne; er springt mit fantastischer Präzision und dem Ausdruck tiefster Strebsamkeit die verzwicktesten, gerade in ihrer Wiederholung immer schwerer werdenden Kombinationen. Lucia Ríos ist indes mit roter Mütze und femininer Offenheit ein anderes Rotkäppchen dieses gefühligen Wolfes, und wenn die beiden sich über zehn Meter Distanz anschmachten, ist man geneigt, an die große Liebe zwischen diesen beiden ungleichen Figuren zu glauben.

Die "Winterreise" von John Neumeier thematisiert die Einsamkeit.

Seifenblasen als Zitat alltagstauglicher Poesie: Konstantin Tselikov und Aleix Martínez in der „Winterreise“ von John Neumeier. Foto: Marcus Renner

Im Paartanz zieht er ihr dann die Latexhandschuhe aus – und mit den dann ungeschützten Gliedmaßen fühlt sie sich offenkundig fremd, vielleicht auch gefährdet. An Nähe ist unterdessen umso mehr drin: Zart nähern sich ihre Handflächen an, wie Kinder probieren sie das Kommunizieren, finden so zum Tanz, zur Liebe. Allerdings bleibt der jungen Frau dieses neue Leben fremd, sie lehnt es bald ab, Riabko fällt daraufhin zu Boden, und sie steigt wieder in Handschuhe – knallweiße aus Wolle sind es dieses Mal, wie man sie im Umgang mit antiquarischen Dokumenten trägt. Die Liebe der beiden aber bleibt – auch wenn sie dann viele Meter auseinander sich reglos gegenüber stehen.

Derweil gibt es einen nostalgischen Film zu sehen, eine Kindheitserinnerung an die 60er Jahre: eine familiäre Silvesterfeier flimmert oberhalb des Bühnengeschehens über eine heruntergelassene Leinwand. Darunter versammelt sich das Ensemble, einige Mädchen tragen lustige spitze Silvester-Hütchen (die später auch im „Parzival – Episoden und Echo“ von John Neumeier, der 2006 entstand, eine Rolle spielen). Surreal und zugleich wie ein Zitat aus dem Fotoalbum ist ihre Anmutung.

Die "Winterreise" von John Neumeier thematisiert die Einsamkeit.

Portraits von Künstlern und Kinderfotos bilden die Rückwand der Bühne – in der „Winterreise“ im Bühnenbild von Yannis Kokkos. Foto: Marcus Renner

Apropos Fotos: Eine große Kästchenwand verschönert den Hintergrund, mit graublau getönten Schwarz-weiß-Portraits von Tänzern und Mitarbeitern des Hamburg Balletts. Erwachsenen- und Kinderfotos wechseln da einander ab, sodass eine Art Bilderbogen des Lebens entsteht. Der persönliche Bezug der Künstler zu diesem choreografischen Werk wird damit betont.

Vor allem John Neumeier selbst hat hier viel Persönliches eingebracht. So stand er bei der Premiere und den Folgeaufführungen auch selbst auf der Bühne, und letztes Jahr um diese Zeit stand noch nicht fest, ob er nicht selbst wieder tanzen würde. 2001 sah es so aus: Am Ende der „Winterreise“ trat er barfuß in einem graugemusterten, Inuit-ähnlichen Kostüm mit Schneemütze auf, eine Trommel um den Hals gehängt, die zwei Schlegel wie Dirigierstäbe in den Händen haltend. Wie aus einer fernen Kultur kommend, trat er ein in unsere Welt, schritt sachte in Merce-Cunningham-Posen auf Yukicho Hattori zu und übergab ihm in einer nicht ganz unkomplizierten tänzerischen Zeremonie sein Musikinstrument.

Der Pas de deux beiden war eine virtuose Liebeserklärung an das Prinzip des Lebens, der Generationen- und Kulturenverträge. Zugleich aber auch eine spirituell entrückte Referenz an die Welt, die einst nur kalt war und die erst in Frieden und Liebe neu zu leben beginnt.

Die "Winterreise" von John Neumeier thematisiert die Einsamkeit.

Der Schluss-Pas-de-deux vibriert vor Mitteilungen über Jung und Alt und hat eine deutliche Multikulti-Note. Hier Aleix Martínez und Lloyd Riggins. Foto: Marcus Renner

Jetzt tanzen Lloyd Riggins und Aleix Martínez dieses vielschichtige Endstück, und auch sie entfächern einen Zauber, der ans Schamanentum erinnert. Allerdings rückt bei ihnen die psychologische, die individuelle Akzentuierung in den Vordergrund: Besonders gelingt dieses, wenn Riggins den jungen Martínez langsam auf seinen Rücken hievt und trägt, so wie die Alten die Last der Jungen tragen, bevor sich dieses Verhältnis umkehrt.

Die menschliche Wärme wird nicht nur insgesamt beschworen, sondern findet vor allem auch zwischen ihnen beiden statt.

Die "Winterreise" von John Neumeier thematisiert die EInsamkeit.

In der Endphase des Stücks „Winterrreise“ von John Neumeier verkörpert Aleix Martínez das Individuum, das Hilfe benötigt – und sie auch bekommt. Foto: Holger Badekow

Wieder am Boden, legt Martínez sich auf den Rücken, geht in eine Contraction, spannt die schönen Arme aus – und kann die Knöchel von Lloyd Riggins umfassen. Der zieht ihn dann wie einen Schlitten sachte durch den sandig-pulvrigen Schnee… ein Gleichnis für die Kooperation von Menschen, die außer der gleichzeitigen Anwesenheit am selben Ort eigentlich kaum etwas verbindet. Aber das ändert sich ja gerade: Sie knüpfen enge Bande, und wenn beide wieder gerade stehen, tanzen sie im langsamen Rhythmus der fast esoterischen Musik synchron, scheinen mit Händen und Armen in prägnant-eckigen Mustern Signale an uns, die wir ihre Welt sind, zu übermitteln.

Die "Winterreise" von John Neumeier thematisiert die Einsamkeit.

Einer trug den anderen, einer zog den anderen, einer  lehnt sich an den anderen an: Aleix Martínez und Lloyd Riggins in „Winterreise“ von John Neumeier. Foto: Holger Badekow

Am Schluss ist der Einsame aber wieder allein, trägt jetzt den Pulli mit den überlangen Schlabberärmeln, vielleicht ist er ein Fährmann in eine andere Zeitzone – und mit ausgebreiteten Armen empfängt er die Zukunft.
Gisela Sonnenburg

Mehr dazu hier:

ballett-journal.de/hamburg-ballett-winterreise-2016/

Termine: siehe „Spielplan“

www.hamburgballett.de

 

ballett journal