Die Reise in den Norden Die „Winterreise“ von John Neumeier bei den 42. Hamburger Ballett-Tagen: neu gesehen - mit Dario Franconi und Ivan Urban

Die "Winterreise" von John Neumeier schließt sich wie ein Kreis.

Das Ende könnte auch ein neuer Anfang sein: Aleix Martínez und Lloyd Riggins 2015 in der „Winterreise“ von John Neumeier, fotografiert von Holger Badekow.

Es ist das Licht des Nordens: Blau, ganz blau, und ein bisschen so, als würde es gleich regnen. Aber es ist Winter auf der Bühne, darum liegt Kunstschnee, vorn an der Rampe, und im Scheinwerferlicht leuchten die fallenden Flocken. Ein Mann balanciert mit einem aufgespannten Schirm scheinbar gegen den Wind – ob es ein Schneesturm ist oder der Sturm der Geschichte, der ihn gefangen hält wie einst Walter Benjamins „Angelus Novus“, wer weiß. In John Neumeiers 2001 entstandenem Stück „Winterreise“ (nicht nach der Musik von Franz Schubert, sondern nach der Metakomposition „Schuberts Winterreise“ von Hans Zender) ist der Winter die fünfte oder sechste Jahreszeit, etwas, das immerzu anhält, das man nicht loswird, das einen umfängt und durchdringt. Das Hamburg Ballett tanzte während der 42. Hamburger Ballett-Tage eine Vorstellung, die John Neumeiers Vorhaben mit dem Abend, „Natur als innere Landschaft“ zu zeigen, in jeder Sekunde umsetzte – und damit zugleich faszinierte, begeisterte und sich ins Gedächtnis brannte.

Um Einsamkeit und ums Miteinander geht es da, um die Fremdheit des Menschen in seiner von ihm selbst gebauten – und auch verbauten – Welt, und es geht natürlich auch um den Herzschmerz, nicht zuletzt um Liebeskummer, weil dieser den romantischen Gefühlskern allen Illusionismus von jeher prägt.

Nun waren Franz Schubert und der Dichter Wilhelm Müller, von welchem die Texte stammen, beide Romantiker dem Urgrund nach.

Hans Zender, der seine 1993 geschaffene Musik als „eine komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester“ bezeichnet, reflektiert wiederum diesen romantischen Kern, er analysiert ihn mit den Möglichkeiten der modernen Musik – und er gibt dem Sänger des Liedzyklus, einem Tenor, Gelegenheit, die schmerzhafte Zerrissenheit einer vom Leben enttäuschten Seele mit neuen Träumen und Hoffnungen zu heilen.

Rainer Trost, der Tenor im Orchestergraben auch am 7. Juli 2016, der gelegentlich aus diesem hervorragte wie ein Fels aus der Brandung, intoniert die 24 Gesänge einer Lebensreise mit Inbrunst und klaren Tönen.

Mit starker Passion – und mit viel Mut zur Unterscheidung zwischen den romantisch-hinfließenden Passagen und den fast zerhackt-zerbröselten, in jedem Sinne avantgardistischen Eruptionen.

Zenders Komposition fasst ja beides bewusst zusammen, sie eint das Alte und das Neue, das Romantische und das Moderne – und Trosts Tenor vertieft den Spalt zwischen beiden noch, um dennoch beide Hälften dieser Welt wie in einem einzigen Atemzug lang in diesem pausenlosen, fast zweistündigen Stück zu inhalieren.

Simon Hewett, der dazu das Philharmonische Staatsorchester Hamburg in einer hervorragenden Abstimmung mit den Tänzern dirigierte, kann stolz auf sich sein, diese Aufführung in so hohem Ausmaß für alle beglückend musikalisch zu leiten.

Da in der „Winterreise“ der vordere Teil vom Orchestergraben zur Rampe umgebaut ist und somit die Bühne das Orchester sozusagen umarmt, ist hier die Verknüpfung von Musik und Tanz besonders bedeutsam.

Das geht bis hinein in die Spiegelung der Strukturen: Ein Sänger steht dem Orchester gegenüber. Und, als sei das eine Entsprechung dessen auf einer anderen Ebene, dann kippt das Tänzerensemble in einer Szene mal geschlossen gegen eine gläserne Wand, die nur von einem einzigen, dafür rasch herbei springenden Tänzer gehalten wird. Es ist Aleix Martínez, der Hauptdarsteller der aktuellen „Winterreise“, und diese Schlüsselszene über den Umgang mit Reisenden und Migranten lässt eine weite zeitliche Deutungsspanne zu.

Das geschmackvolle, anregende Bühnenbild und die oft elegant-allegorischen Kostüme stammen übrigens von Yannis Kokkos, der sie in enger Abstimmung mit John Neumeier für ihn schuf.

Die "Winterreise" von John Neumeier schließt sich wie ein Kreis.

Das Ensemble wäre nichts ohne die Individuen, die es ausmachen, aus denen es sich zusammen setzt. Da ist niemand beliebig austauschbar! So zu sehen in der „Winterreise“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Holger Badekow

Insgesamt kristallisiert sich immer wieder folgende Botschaft heraus, ob in der Ausstattung, in der Szenenfolge oder im Tanz: Das Individuum gilt immer als letzter Halt – die Masse ist, allen konsumistischen oder demokratischen Abstimmmanövern zum Trotz, stets auf die Stärke des Einzelnen angewiesen.

Dabei gibt es ein Geben und Nehmen, einen osmotischen Austausch, zwischen den Paaren, den Trios, den Gruppen. Doch kein Kollektiv ist erfolgreich ohne solistisches Handeln!

Für die weiteren hochkarätigen Aspekte sorgen dann, im völligen Einklang mit der Musik, die Tänzerinnen und Tänzer, von denen es in diesem Stück 34 an der Zahl sind.

Allen voran beeindruckt hier Aleix Martínez. Der junge Solist tanzt die wandernde Seele in der „Winterreise“, er verkörpert des Dichters lyrisches Ich, er macht Erfahrungen auf seiner Lebensreise, und manchmal sind diese so verklausuliert, als käme von einem anderen Planeten.

Zu Beginn tritt er aus einem Sonnenland, das hinter der Bühne, vielleicht sogar hinter der Brandmauer, liegt, durch eine mittige Tür in die Winterlandschaft ein, nur mit einer Badehose bekleidet – und entsprechend schnell fröstelnd. Er zieht sich rasch zurück.

Ein zweiter Versuch, dieses Mal im Winterpulli und mit schwerem Gepäck, schlägt ebenfalls fehl, die Atmosphäre ist surreal wie in einem schrägen Traum: Seine Koffer wollen dabei partout nicht durch die Tür passen. Er bleibt, wo er ist. In einem Zwischenbereich. Nicht drinnen, nicht draußen. Nicht hier, nicht dort.

Der Reisende, er reist und reist und reist – und kommt doch nicht vom Fleck.

Das Motiv vom Auf-dem-Platz-Bleiben, Auf-dem-Platz-Laufen, Auf-dem-Platz-Drehen durchzieht den ganzen Abend wie ein heimlicher Leitfaden. Die Bemühung, voran zu kommen, und ihre zeitgleich demonstrierte Unmöglichkeit verschmelzen zu körperlichen Bildern der Anmut, auch der Überzeitlichkeit.

Die Koordinaten von Raum und Zeit lösen sich auf, und wer Albert Einstein wirklich gelesen hat, der weiß, dass auch die Relativitätstheorie noch längst nicht der Endpunkt physikalisch-theoretischer Möglichkeiten ist. Hier, in John Neumeiers „Winterreise“, finden wir immer wieder Anknüpfungspunkte an die metaphysische Dimension des Daseins, mit und ohne physikalische Grundlagen.

Und auch wenn später die Erste Solistin Hélène Bouchet, mit weit ausholenden Arm- und Beingesten, sich ebenfalls nicht vom Platz bewegt, obwohl sie doch scheinbar jedem Windstoß zu trotzen vermag, dann ist das eine Referenz sowohl an die Avantgarde und die früher noch undenkbaren Möglichkeiten – als auch an Zenders Modernisierung der Romantik.

Die unerfüllbare Sehnsucht, das Lieblingskind der romantischen Seele, enthüllt sich in der Moderne von vornherein als Utopie.

Dazu der Tanz! Martínez springt, sprintet, dreht, fällt, steht auf, schmeißt sich hin, steht wieder senkrecht da, er agiert in einem schnellen, dennoch rhythmisch gegliederten Tempo, was einen starken Sog auf die Zuschauer ausübt.

Der erst 24-Jährige Spanier, der in Hamburg sein Tänzerstudium absolvierte, hat ohnehin bereits sein ganz eigenes Profil beim Hamburg Ballett: Er ist auf Tänze mit androgyn-spiritueller Bedeutung spezialisiert.

In Neumeiers „Messias“ und in seinem „Liliom“ tanzt Martínez die beiden Pole seiner eigenen modernen Wirkungskraft: das Erhaben-Asketische („Messias“) und das Kindlich-Jungenhafte (als Louis in „Liliom“).

Im „Nussknacker“, in „Giselle“ (beim „Bauern-Pas-de-deux“) und in „Napoli“ zeigt er hingegen seine romantisch-klassische Sprungkraft.

Aber wer sich noch an ihn als blutjunger Berufsanfänger in Neumeiers „Parzival – Episoden und Echo“ in dem Part als „Einsiedler“ erinnert, der weiß, dass Martínez schon damals mit großer Power ungewöhnliche Solopartien, und zwar mit nachgerade experimentellem Mut, zu gestalten wusste. Er war der jüngste und hippste, wenn man so will: durchgeknallteste Einsiedler, den man sich denken kann, tänzerisch dennoch sehr präzise – und irgendwie hatte er was von einem DJ, der sich oft über den Wolken in Flugzeugen befindet und immer auf dem Sprung zum nächsten Gig ist.

Das Experiment ist aus seiner Darstellung mittlerweile zunehmend gewichen, zu Gunsten einer souveränen Ausarbeitung. Aber wer weiß, was an neuen Aufgaben noch auf ihn zukommen wird! Man ist gespannt darauf.

Vorerst aber liegt die Zukunft hier im Stück, in der „Winterreise“, und wenn Aleix Martínez es von dieser ersten Szene, in der er aus dem Sonnenschein in die Kälte tritt, bis zum Ende brachte, so weiß man: Er wird wohl jede Partie, mit der man ihn betraut, zu seiner ureigenen machen können.

Aber auch die anderen Tänzerinnen und Tänzer bringen sich hier persönlich ein.

Da ist die zauberhafte Silvia Azzoni, die Primaballerina, die im mittelblauen, langärmeligen Kleidchen so graziös wie filigran erscheint und doch eine so moderne Figur hier verkörpert – eine, die von der Romantik nachgerade vergessen erscheint. Ihre Paartänze sind geschmeidig, aber dennoch hat diese weibliche Figur eine gewisse Sprödheit an sich. Die Frau im blauen Kleid hat somit keine Möglichkeit, die Nähe zu anderen bis zur absoluten Intimität zu steigern – eine seltene Besonderheit dieses Stücks. Das Leiden an der Einsamkeit ist denn auch das Grundthema der „Winterreise“.

Auch die fantastische Hélène Bouchet bleibt, trotz hinreißender Paartänze mit Konstantin Tselikov, im Grunde eine solistische Partie hier. Sie spielt diesen Trumpf auch aus (dazu später mehr).

Der wandelbare Tselikov wiederum tritt von vornherein – mit Hut und Mantel sehr seriös erscheinend – als stark männlich agierender Part auf, der vor allem in den Solipassagen auch innerhalb der Pas de deux seine Seele zeigen kann.

In lang gehaltenen, edlen Balancen und mit wunderschönen, anmutig-kraftvollen Ports de bras macht er klar, dass er vor allem ein Individuum ist und kein beliebiger Teil einer gesellschaftlichen Gruppe. Er kann das mit wenigen Gesten klipp und klar stellen, ohne arrogant, kalt oder abstoßend zu wirken – eine hochkarätige Befähigung.

Auch Dario Franconi profiliert sich hier als Tänzer von Weltrang – noch nie habe ich ihn so präsent und so geschmeidig tanzend gesehen.

Die "Winterreise" von John Neumeier schließt sich wie ein Kreis.

Einer der typischen Paartänze in der „Winterreise“: Trost und Beistand spendend, aber auch die Beziehung auf den Prüfstand stellend. Letzlich entscheidet das Individuum! Foto: Holger Badekow

Er hat jene Partie übernommen, die im letzten Jahr von Otto Bubeníček getanzt wurde, und das Gleiten in lang gehaltene Arabesken gehört da ebenso dazu, zu diesem ewig Suchenden, wie eine markante Standpose, die mit seitlich ausgestellter linker Hüfte und eingeknicktem Standbein brilliert und die etwas Diabolisches an sich hat.

Das Tangotemperament von Franconi, dem gebürtigen Argentinier, zeigt sich zudem in spitzen, schnellen Fußbewegungen, mit denen er seinen Körper vor- und rückwärts zu schieben scheint wie ein Paket auf Rollen.

Oh, und da ist Alexandre Riabko! Mit innerem Feuer und äußerlich ganz in schwarzes Lackleder gewandet, ist er hier der ballettöse Rocker, dessen Pirouetten (wunderschön auch in der Attitude!) und Sprünge (gern auch ungewöhnlich raumgreifende Kombinationen) stets etwas Mannhaft-Wildes an sich haben.

Und doch lässt er sich von Carsten Jung, diesem Alleskönner, einfach hochheben und abstellen, hochheben und abstellen. Von Mann zu Mann!

Aber auch er muss dabei klarstellen, dass er aus der solistischen Isolation des modernen Menschheitsdramas nicht heraus kommt, auch wenn er darüber nicht verzweifelt.

Das ist die großartige Dialektik dieser Neumeier’schen Choreografie: Sie eint fabelhafte Ensembleszenen mit solistischen Auftritten, ohne das eine gegen das andere zu setzen.

So becirct der Corps, wenn weiß gekleidete Damen und Herren – wie so oft in Neumeier-Stücken – den Schnee als abendliche Roben vorführen. Die Vornehmheit, die Noblesse des Winters, seine Eleganz – auch diese Facette erstrahlt dann mit aller Kraft.

Und doch beherrscht der Alltag das Geschehen.

Die smarte Lucia Ríos trägt eine signalrote Baskenmütze zum Mantel, später zückt sie ein Buch, aus dem sie die Seiten herausreißt und zerknüllt.

Sehr feminin wirkt sie und doch auch sehr autonom. Eine denkende, eine nachdenkliche Frau. Eine Intellektuelle gar, die direkt aus der Pariser Bibliothèque Nationale kommen könnte, wo sie die Handschriften und Briefe aus dem Nachlass von Heinrich Heine im Original studiert haben mag. Daher trägt sie auch weiße Handschuhe! (Zur Pflege und Schonung der antiquarischen Schriftstücke benötigt man in Bibliotheksarchiven solche Stoffhandschuhe.)

Aber auch hier steht das Solistische im Vordergrund. Der Paartanz mit Aleix Martínez entwickelt sich und zerreißt, entwickelt sich und zerreißt.

Es ist nicht Nichts, was die beiden verbindet, aber die Grade an menschlicher Wärme kochen nicht hoch genug in diesem ewig andauernden Winter, der – das wird mit jeder Szene deutlicher – nicht einfach nur eine Jahreszeit ist, sondern ein Sinnbild für das menschliche Leben und Leiden überhaupt.

Die superbegabte Nachwuchstänzerin Hayley Page tanzt mit Aleix Martínez darin die meiner Meinung nach schönste Szene des Stücks:

Die "Winterreise" von John Neumeier schließt sich wie ein Kreis.

Ein Blick in den Probenprozess – beim Aufblättern des exzellenten Programmhefts zur „Winterreise“ von John Neumeier. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Es ist ein gemeinsamer Traum, den sie formulieren, sie mit unendlich tatkräftigen, schönen, langen Beinen – und er mit göttlich ausdrucksstarken Ports de bras.

Sie stehen dazu beide auf der dreistufigen Treppe unterm über Kopf aufgehängten Laubbaum – schon diese Beschreibung zeigt, wie surreal, ja skurril das „normale“ menschliche Miteinander hier wirken muss.

Im Hintergrund baute Yannis Kokkis denn auch eine Wand aus Portraits der an der Entstehung dieses Balletts beteiligten Tänzer und Ballettmeister. Das Individuum, da ist es wieder, hat stets Vorrang!

Zu diesem Thema hat die charmante Leslie Heylmann aber auch etwas zu sagen, und zwar ohne Worte und nur auf ihre für sie typische, elegant-gediegene, hier zudem auch betont expressive Tanzweise.

Zackig-modern ist ihr Output da, sie stellt eine Frau dar, die weniger sucht als findet. Hebt ein Partner sie, die vor Selbstbewusstsein nur so strotzt, in luftige Höhen, so ist sie aber erst recht in ihrem Element: Lebensfreude darf aufblitzen, auch wenn sie, dem Stück gemäß, vor allem in der Freude an sich selbst kulminiert. Das Solistische vergeht hier nie – auch nicht beim Paartanzen. Es ist eben Thema in der „Winterreise“!

Weitere Individuen bezaubern mit ganz wenig eingesetzten Mitteln. Die bildschöne Anna Laudere, mit stumm-beredtem Blick, und der sportive Marc Jubete, hier mit stets fragendem Blick, sind hier konstant bleibende Temperamente, die schon durch ihr Auftreten Zeit und Raum aus den Fugen heben könnten.

Wäre da nicht die niedlich-vornehme Emilie Mazon, die das mit dem Aus-den-Fugen-Heben tatsächlich macht!

Im Biedermeier-Flatterkleidchen, mit hochgezogener Taille und runden Schultern findet sie, frohgemut und sorglos wie ein Kind, pantomimisch im Schnee die ersten Blüten. Welche Glücksszene! Welche Harmonie von Mensch und Natur, einfach so, ohne pompösen Auftritt, man muss nur nah genug am eigentlich Wesentlichen sein, um das zu erkennen.

Emilie Mazon, die unverkennbar das Zeug zu einer großen Solistin hat und hier auch schon die Metaebene des Soloseins im Stücks mit darstellen kann (sicher ohne das zu ahnen – dazu ist sie noch zu jung), trägt aber auch eine Note höfischer Anmut in den Abend, und diese ist unverzichtbar für ein Panorama der Epoche der Romantik.

Welche ja auch nach ihrer Überwindung noch umso stärker anzuhalten scheint.

Es wird nun Zeit für Heinrich Heine.

Er, der vielleicht größte deutsch-jüdische Dichter, der sich selbst vor allem als letzten Romantiker sah, schrieb in seinem 1825/26 entstandenen Gedichtzyklus „Die Nordsee“ von der Sehnsucht nach Liebe, inmitten der einsamkeitsheischenden Natur:

„An die blaue Himmelsdecke, / Wo die schönen Sterne blinken, / Möchte ich pressen meine Lippen, / Pressen wild und stürmisch weinen.“ Denn: „Jene Sterne sind die Augen / Meiner Liebsten, tausendfältig / Schimmern sie und grüßen freundlich / Aus der blauen Himmelsdecke.“

Die gefühlte Nähe und die gewusste Ferne der Geliebten, sie verschmelzen hier zu einem einzigartigen Gefühl der modernen Romantik: „Das Meer hat seine Perlen, / Der Himmel hat seine Sterne, / Aber mein Herz, mein Herz, / Mein Herz hat seine Liebe.“

Eigentlich merkwürdig, dass diese Verse noch nie vertont wurden (meines Wissens nach wurden sie das nie, weder von Heines Zeitgenossen noch später). Wie auch immer: Heine lebte zur gleichen Zeit wie Wilhelm Müller, der Urheber der Lieder aus der „Winterreise“.

Die "Winterreise" von John Neumeier schließt sich wie ein Kreis.

Nicht irgendwelche bunten Bilder, sondern hervorragende Aufnahmen der „Winterreise“ sieht man im Programmheft der Hamburgischen Staatsoper (die Fotos stammen von Holger Badekow). Faksimile: Gisela Sonnenburg

Müller ist hingegen ein Verkannter. Er ist kein Heine, aber er hat durchaus Tiefe und große Qualität in seinen Werken.

Und während Heine vor allem auch durch den Vertrieb seiner Werke in Übersee schon zu Lebzeiten großen Ruhm genoss (wenn dieser sich auch finanziell für ihn so gut wie gar nicht rentierte), blieb Müller ideell von der geistigen Elite in Deutschland ein Geächteter, den man nur zu gern als Gebrauchsdichter und Trivialliterat missverstand.

Tatsächlich aber haben Müllers Verse eine starke Kraft – sonst hätten sie wohl auch kaum sowohl Schubert als auch Zender als auch Neumeier derart anregen können.

In der „Winterreise“ lotet Müller die möglichen Sinnbilder der dunklen Jahreszeit voll aus. Neumeier folgt ihm darin, mehr noch als nur der Musik allein.

Die Desillusionierung, die typisch ist für die Spätromantik (und somit für Heine wie für Müller), sie durchsetzt nachgerade das ganze zyklische Werk der „Winterreise“, ungeachtet der Tatsache, dass immer wieder auch muntere und mutige Szenen frühlings- oder gar sommerhafte Momente suggerieren.

„Ich träumte von bunten Blumen, / so wie sie wohl blühen im Mai, / ich träumte von grünen Wiesen, / von lustigem Vogelgeschrei.“ So beginnt Müllers „Frühlingstraum“, das 11. der 24 Lieder. Aber schon im folgenden Vers findet die Desillusionierung statt: „Und als die Hähne krähten, / da ward mein Auge wach, / da war es kalt und finster, / es schrien die Raben vom Dach.“

Alsbald erblickt das lyrische Ich im Text von Müller die Eisblumen am Fenster – und fühlt sich mit feiner Selbstironie vom Schicksal wie verspottet: „Ich lacht wohl über den Träumer, / der Blumen im Winter sah?“

Blumen im Winter. Träume von Licht in der Finsternis. Müller endet den 11. Gesang (der durch Schubert und Müller wirklich so einer wurde) mit der beharrlichen Frage nach Zukunft: „Die Augen schließ ich wieder, / noch schlägt das Herz so warm. / Wann grünt ihr Blätter am Fenster, / wann halt ich mein Liebchen im Arm?“

Es ist die Frage nach Liebe, nicht nur die nach Zukunft allgemein.

Eine Antwort kann auch das Ende der „Winterreise“ nicht geben.

Die "Winterreise" von John Neumeier schließt sich wie ein Kreis.

Auch die Figurinen von Yannis Kokkos (links unten) sind sehenswert und im Programmheft zur „Winterreise“ zu sehen. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Ivan Urban tanzt hier jenen Part, den bei der Uraufführung 2001 John Neumeier selbst darstellte. Urban wird ja in der kommenden Saison in den Ballettmeisterstab vom Hamburg Ballett wechseln, aber bestimmte Rollen weiterhin tanzen können. Nach einer langen, leidvoll erlittenen Knieverletzung seit 2013 ist das eine ganz und gar nicht (un)romantische Zukunftsperspektive – vielmehr ist sie einfach nur erfreulich, und wir gratulieren herzlich!

Als „Leiermann“ in der „Winterreise“ sind denn auch zwar keine großen Sprünge im wörtlichen Sinn erforderlich. Aber die Präsenz und die Anmutung der durchaus komplizierten Rolle müssen stark und deutlich gekennzeichnet sein.

Wie aus einer fiktiven anderen Kultur kommend, balanciert dieser Leiermann herein auf die Bühne. Er trägt einen Wintermantel überm ansonsten fast nackten Körper, dazu eine Wintermütze mit Ohrenklappen. Wie lebt er? Ist er ein Geist?

Er kommt wahrscheinlich aus dem Osten, und er geht vermutlich gen Norden, wo der Winter die Allzeit ist.

Vielleicht zieht er zum Polarkreis, vielleicht kommt er aus Sibirien oder Skandinavien; vielleicht aber landet er auch inmitten unserer Gesellschaft, die für Dichterseelen zwar Eisblumen am Fenster wachsen lässt – wie Müller es ja traurig beschrieb – wo der Sommer mit seinen Blumen und seiner Fülle an Wonnen aber eben nicht für jeden jederzeit zu haben ist.

Langsam, ganz langsam kommt Ivan Urban als Leiermann herein. Er fasziniert auf Anhieb. Er wandelt, wie somnambul, mit einer eigenartig strengen, aber fließenden Energie. Es ist ein gewisser Purismus, der von ihm ausgeht.

Um den Hals hängt ihm eine Trommel, und die dazugehörigen Schlegel hält er wie zwei Zepter in der Hand, hoch erhoben, wie schamanistische Gegenstände.

Er hält die Schlegel höher als andere Tänzer, höher, scheint mir, als der auch als Darsteller wunderbare John Neumeier und höher als Lloyd Riggins, der im letzten Jahr diese Partie mit großer Bravour absolvierte.

Urban tanzt die Rolle weniger als eine herrschende Figur als vielmehr wie ein Medium. Seine hoch gehaltenen Trommelschlegel wirken wie Fühler, wie Antennen, mit denen er andere Welten wahrnimmt und vielleicht auch Signale sendet.

Sein Leiermann ist kein Jenseitiger, aber ein Zwischen-den-Universen-Wandelnder. Bei ihm fragt man sich nicht, warum er eine Trommel und keine Leier bei sich hat. Seine Trommel ist seine Leier, und es geht nicht um Musik im üblichen Sinn dabei, sondern um Schallwellen und allerhand Spiritualität.

Wenn er von links nach rechts geht, biegt er dabei das Spielbein in die Attitude nach vorn, und so verharrt er, bis er, langsam weiter gehend, das vor ihm liegende Terrain mit allen Sinnen zu sondieren scheint.

Es ist, als käme ein Wind von Nordost über die Landschaft, gar nicht mal rau, durchaus auch zart streichelnd, aber ein Sommerwind ist es natürlich nicht.

Doch das Eis, es könnte jetzt bald tauen…

Das ist die Hoffnung, die Ivan Urban mit sich bringt, und er gibt sie weiter im Paartanz mit Aleix Martínez.

Die beiden müssen sich auch nicht einmal ansehen, um in intensiven Kontakt miteinander zu treten.

Martínez darf zunächst aus dem Sitzen heraus einmal die Trommel des Leiermanns rühren, später übergibt ihm der stumme Musiker die Schlegel.

Nach dem tänzerischen Austausch – Urban hebt Martínez, nimmt ihn Huckepack, wickelt ihn um sich, und die beiden haben dann noch allerhand miteinander zu tun – trennen sich die Wege der beiden aber ganz.

Martínez geht langsam nach hinten ab… Und das wandelnde Rätsel, der Leiermann, bleibt vorn rechts auf der Bühne, in redundanten, langsamen Bewegungen, beinahe wie ein perpetuum mobile. Er wartet auf weitere Begegnungen, aber der Tod in Person ist er nicht. Oder doch?

Die Bandbreite möglicher Bewegungen ist sicherlich offen, gerade in der Choreografie von John Neumeier.

Die Art und Weise, wie Aleix Martínez gen Bühnenhorizont geht – auf die linke hintere Hälfte der Bühne – ist an sich nicht tödlich getroffen. Er scheint wohlbehalten, unversehrt. Aber: auch sehr vergeistigt. Wir haben es im Ballett ja immer wieder mit Geistern und Untoten zu tun, seit der romantische Esprit des Theaters und der Opernhäuser sich diesen Wesen ausgiebig widmete. Man kann also nicht sicher sein, in welcher Verfassung der ewige Wanderer nach der Initiation mit dem Leiermann wirklich ist.

Im Text von Müller lesen sich die beiden Schlusszeilen hingegen deutlich wie eine Anfrage an einen Übergang in ein anderes Leben: „Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehen? / Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?“

Damit könnte nun ganz profan das rastlose Dasein als Wandermusiker gemeint sein, gäbe es nicht so viele Hinweise auf die Endlichkeit und auf das Altern im Text.

Die "Winterreise" von John Neumeier schließt sich wie ein Kreis.

Aleix Martínez – er hat sich die Hauptrolle in der „Winterreise“ angeeignet, ohne jemanden zu kopieren, etwa Yukichi Hattori, der die Uraufführung tanzte. Foto: Holger Badekow

Die Lebensreise, sie scheint doch hier zuende, und irgendwann ist sie das ganz sicher, für jeden von uns.

Theater und Ballett bieten stärker als andere Künste wichtige Momente, wenn man sich mit diesem Thema auseinandersetzen möchte.

Der Dank für die optimale Erfüllung unserer Lebenszeit geht für diesen Abend der „Winterreise“ denn auch zweifelsohne an die Musiker und an die Tänzer – sowie an alle, die diese Aufführung ermöglichten.
Gisela Sonnenburg

Eine weitere umfassende Interpretation des Balletts „Winterreise“ (von 2015) finden Sie bitte hier:

 www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-winterreise/

 www.hamburgballett.de

 

 

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