Was ist jung und was ist alt? Wie alt oder jung darf oder muss ein Tänzer sein? Gerade wurde der Topstar Roberto Bolle 40 Jahre alt oder jung. Die meisten gehen schon viel früher von der Bühne ab. Jiří Kylián, einer der großen Choreografen des ausgehenden letzten Jahrhunderts, will sich nicht damit abfinden, dass seine geliebten „Lebendinstrumente“, wenn sie endlich viel menschliche Reife und berufliche Erfahrungen haben, nicht mehr auftreten können. Darum gründete er schon 1991 das Nederlands Dans Theater III (NDT III): ausschließlich für Tänzerinnen und Tänzer über 40. Aus finanziellen Gründen wurde es 2006 aufgelöst – Sponsoren und Publikum fehlten. Seit Mai 2013 gibt es jedoch das Tourneeprogramm „Kylworks“: mit Alterstänzern. Ausgesprochen bildet der Titel übrigens einen schwarzhumorigen Witz à la „Kill works“. Faktisch bildet es eine Wortschöpfung aus „Kyl“ (gekürzelt für Kylián) und „works“ (für Arbeiten).
Was man in diesem Programm beim Gastspiel im Schiller Theater in Berlin sieht, ist einerseits eine Ehrenrunde mit Jiří Kylián, der angereist ist und moderiert, und andererseits eine höchst ungewöhnliche Performance, die zwar sichtlich ein Sparprogramm ist und die darum auch gravierende Besserungen nötig hätte – aber deren Nachgeschmack ganz superbe ist. Die Vorstellung transportiert nämlich die Idee einer ganz neuen Tanzkunst, einer Art moderner Show, bei der es mal nicht auf Schnelligkeit und technische Virtuosität ankommt, sondern auf Tiefsinn, Intelligenz und Witzigkeit.
Die Vorstellung beginnt. Aber das Licht im Zuschauerraum bleibt noch für einige Minuten an. Das irritiert schon mal – und ist angenehm. Auf der Bühne des Berliner Schiller Theaters zelebrieren derweil zwei mit Goldfolie überreich dekorierte Damen einen synchronen Oberkörpertanz. Erotisch und selbstsicher wirken sie, mit schönen nackten Schultern und nicht zu mageren Armen – die Gesichter beredt und geheimnisvoll. „Anonymous“ heißt das Tanzstück von 2011, das den Gastspielabend einläutet. Der Titel leitet sich vom anonymen Urheber der verwandten Musik ab.
Hehr und nobel ist deren Klang: Die katalanische, auf spanische und auf Alte Musik spezialisierte Sopranistin Montserrat Figueras, die leider schon im November 2011 an den Folgen von Krebs verstarb, singt auf dem Tonband mit engelsgleicher, in den Höhen fast an einen Countertenor erinnernden Schmelz. Begleitet von einer akustischen Gitarre, hat ihr Gesang eine zeitlose Anmutung, obwohl es sich erkennbar um ein Barockstück handelt. Carpe diem, pflücke den Tag, denn das Leben ist endlich!
Dieses Thema beherrscht den Abend, und so ist es schier unmöglich, auszublenden, dass die Tänzer hier nicht alle Mitte dreißig sind. Das Alter bricht in „Anonymous“ ein in Form von verzerrt-chaotischen Filmschnipseln, begleitet von scratchender Akustik. Wie kurze Blitze blenden sich diese Störfaktoren ein – aber dann siegen wieder die beiden Tänzerinnen mit ihren harmonischen, sanften, edlen Armbewegungen. Mal ziehen sie wie die Nornen an unsichtbaren Fäden, mal schlängeln sie die schönen Arme wie orientalische Sklavinnen.
Autonom wirken sie allemal, als Herrscherinnen und Beherrscherinnen ihrer selbst, die allerdings ohne Fesseln aneinander gebunden sind, abhängig von der Zweisamkeit, als der letzten möglichen Gesellschaftsform. Immerhin aber auf Augenhöhe! Bertolt Brechts gutes altes Sprichwort, nach dem, wenn zwei Menschen beisammen sind, immer einer Herr und einer Knecht sein müsse, scheint also obsolet.
Das ebenbürtige Damenduo muss dennoch am Ende den gepixelten Filmbildern weichen; aufgelöst in bunte Punkte sind sie auf der Leinwand geisterhafte, bewegte Gemälde – sie waren mal Leben, sie waren mal Fleisch und Blut. Schlussendlich aber stehen Tod, Chaos, Abschied für immer.
Bevor man in Traurigkeit und Düsternis abgleitet, beginnt schon das zweite Stück, in einem gleitenden Übergang. Die nervöse, aufreibende, auch aggressive Synthi-Musik stammt von Dirk Haubrich, der somit eine Neukomposition schuf, die auf zwei Motiven von Gustav Mahler basiert. Was indes überhaupt nicht mehr zu erkennen ist. Mahler? Hier? Man staunt, wenn man die Info im Programmzettel liest. Das schnittige Tanzstück dazu ist denn auch so schlicht wie witzig nur nach seiner Aufführungslänge betitelt: „14’20’’“. Vierzehn Minuten und zwanzig Sekunden.
Um hier noch eins draufzusetzen: Ursprünglich hieß dieser Pas de deux, der 2002 in Den Haag uraufgeführt wurde, „27’52’’“ und war entsprechend länger. Die heutige Version wurde für eine Gala in Reggio Emilia geschaffen – Kylián hat mit 68 Jahren ein Alter erreicht, in dem er es liebt, sich selbst zu recyceln und seine Werke zu überarbeiten. Etwas, das ihn früher deutlich weniger reizte als eine Neuschöpfung.
Ein Frau in einem tomatenroten T-Shirt und ein Mann mit blankem Oberkörper finden sich hier langsam, aber sicher, ihr eigenes Leben in Soli gleichsam reflektierend. „Darf ich Sie fragen, wer Sie sind?“ ertönt eine weibliche Stimme aus dem Off. Sie gibt sich selbst die Antwort: „Ein einfacher Mensch… Auch ich bin nur ein Spiegelbild… wie der Mond auf dem Wasser…“ Zu tröstlich, wenn Tanzstars (oder Möchte-gern-Tanzstars) einen Text sprechen, der die Komplexe der Zuschauer subsummiert. Als hätten „einfache Menschen“ keinen guten Sex.
Nun ja – wenn man dieses Pärchen auf der Bühne sieht, kommen einem Zweifel, ob der Beruf des Bühnenprotagonisten der erotischen Befähigung nicht sogar abträglich sein kann. Denn so richtig lassen sie sich nicht aufeinander ein. Vielmehr benutzt er sie zeitweise, dann wieder sie ihn. Kylián hat sehr genau (sicher auch an sich selbst) beobachtet, wie schwer alternden oftmals Menschen die Inbezugnahme auf Neues fällt.
Die Worte der Sprecherin ertönen dann rückwärts, was fremdartig und skurril wirkt – und wenn eine Männerstimme vom Band kommt, ist sie sogar gleich rückwärts geschaltet. „Ropmenemmoknerugif…“: Dieser alte Trick verweist auf das rückwärts gerichtete Blicken der beiden Bühnenfiguren. Sie sind jeweils in ihrem eigenen Leben so verhaftet, dass sie eigentlich nicht mehr wirklich zueinander finden können.
Da hilft auch nicht, dass sie ihr T-Shirt auszieht und ihre schönen, altersprallen Brüste zeigt. Bei Frauen wächst ab 40 ja oftmals noch der Busen zu einer veritablen Körbchenvergrößerung – das liegt an der Hormonumstellung im Klimakterium. Der zweite Frühling einer Frau wird somit ablesbar – und hat natürlich eine deutliche Sexiness. Ob man die sekundären Geschlechtsorgane deshalb auf diese Art auf die Bühne bringen muss, sei aber dahin gestellt.
Denn freud- und ausdruckslos tanzt die Tänzerin (deren Name nur in ein einer Sammelauflistung aller Tänzer des Abends steht) mit ihrer blanken Oberweite. Als sie ihr diese eine Last. Auch den Mann, den sie damit anbalzt, scheint die nackte Haut nicht zu erregen – er ist ebenfalls in einer aggressiv-traurigen Stimmung befangen. Die ist typisch für alte Leute, aber untypisch für Mittvierziger. Kylián will vermutlich wirklich übers Altwerden reden in diesem Stück! So tragen auch beide Tänzer eine ähnliche braune Hose und sollen so wohl beweisen, dass Menschen im Alter an Individualität verlieren und einander scheinbar ähnlicher werden.
Am Ende ist eine teppichartige Matte das Schicksal beider. Erst wickelt der Mann die Frau ein, was sie überlebt – aber er geht an dem Stück Gummi zu Grunde. Ist das Leben im Alter so? Geht es nur noch darum, wer wen überlebt, wenn Krankheiten und Hinfälligkeiten beziehungsweise die Kämpfe gegen das Altern und Schwachwerden den Menschen zunehmend bestimmen?
Kylián hat sich hier auf ganz schwieriges Terrain getraut, und das ist ihm hoch anzurechnen. Natürlich ist es nicht einfach, zu Themen, die die Ballettwelt normalerweise rigoros verdrängt – nämlich Alter und Krankheit – Tanzstücke zu erarbeiten. Und Kyliáns Stil ist abstrakt, er hat also auch nicht die Möglichkeit, mit einem Libretto oder eindeutigen Requisiten auf der Bühne zu agieren. Dennoch schafft er es, eine melancholisch-abgeklärte Stimmung zu kreieren, die keineswegs beschönigt, sondern gleichsam ernüchternd und aufklärerisch wirkt. Motto: So ist es, liebes Publikum, und nicht anders.
Überraschend kommt dann der Meister selbst auf die Bühne. Auch deutsch hält er eine kleine Ansprache – und genießt es, mit freudigem Gejohle und Applaus empfangen worden zu sein. Choreografen erfahren ja, verglichen mit dem nach jeder Vorstellung erfolgenden Applaus für die Darsteller, relativ wenig direkten Zuspruch des Publikums. Umso gewichtiger erscheint es, wenn ein Tanzschöpfer zum Mikrophon greift.
Kylián dankt höflich, auch gerührt, und spricht sein Beileid für die Flugzeug-Absturzkatastrophe aus, die sich vor einigen Tagen in den französischen Alpen ereignete. „Und dann mussten Sie auch noch ein Stück von mir sehen, das mit Leben, Liebe und Tod zu tun hat“, witzelt er, so charmant wie selbstironisch. Aber, so verspricht er, es werde auch noch „Lustigeres“ an diesem Abend geben.
Zuvor aber erklärt er sein Wirken als Compagnie-Gründer. Während seiner Zeit als Künstlerischer Direktor des Nederlands Dans Theater (NDT) in Den Haag – wo er diesen Posten von 1975 bis 1999 inne hatte – habe er Folgendes festgestellt: Die jungen Tänzer, die frisch aus der Ausbildung kamen, seien oft „noch gar nicht bereit“ gewesen für den Arbeitsalltag in einer Compagnie. Darum habe er das NDT II, die Junior Company, gegründet. Was Kylián nicht erwähnt: Solche Nachwuchstruppen gab es schon im alten Sankt Petersburg, am Mariinsky-Theater, und auch in den USA und anderswo wird die Tradition bewahrt oder wiederbelebt.
Kylián beruft sich indes nicht auf Traditionen, sondern auf die Notwendigkeit eines Jugendballetts. Bis heute wird das NDT II denn auch erfolgreich herum gereicht, absolviert Auftritte und Abende – und kann als zweite neben der Hauptcompany NDT I etabliert gelten.
Was Kylián, wie er erzählt, aber auch bewegte: Er mochte Tänzern, mit denen er viele Jahre eng gearbeitet hatte, nicht einfach so den Laufpass geben, wenn sie älter wurden. Früher galt hier das Lebensalter von 40 Jahren als magische Schranke, die in den meisten Fällen als unüberwindlich hingenommen wurde. Heute schaffen es manche Erste Solisten, bis Mitte vierzig im Profiballett zu bestehen. Aber spätestens dann sind schnelle, hohe Sprünge und vielfache Pirouetten einfach nicht mehr drin.
Kylián aber wollte seine Lieblinge auch ohne technische Kunststücke weiter tanzen sehen: „Ein älteres Gesicht hat ganz andere Geschichten zu erzählen, was ein junger Mensch noch gar nicht kann.“ Darum gründete er das NDT III – „für Tänzer ab 40 bis zum Tod“, wie Kylián mit dem für ihn typischen Galgenhumor ausführt. Eines sei dabei ein Leitgedanke gewesen, sagt Kylián: „Man muss Menschen eine Chance geben, in ihrem Leben einen Platz mit Würde zu finden.“
Von Handicaps ist bei den sechs TänzerInnen von „Kylworks“ allerdings nichts zu spüren. Insofern sind sie für die Utopie des Alterstanzes gar nicht mal typisch. Aber begeisternd sind ihre langgezogenen, sattsam eintrainierten Bewegungen allemal, denn sie haben eine Souveränität und einen Persönlichkeitsausdruck, den man in der Tat bei jungen Leuten nur sehr selten findet.
Das Wort „Würde“ bezeichnet angesichts der typischen Alterserscheinungen allerdings eine besondere Wertigkeit. Ob Kylián sie in seinen Arbeiten immer umsetzt, steht auf einem zweiten Blatt. So drehte er mit seiner Lebensgefährtin, der Tänzerin Sabine Kupferberg – die ihn übrigens einst aus Stuttgart als Tänzer ins NDT nach Den Haag geholt hatte – in Prag einen irrwitzig-surrealen Film über einen „Schwarzfahrer“. Schwarz-weiß und collagiert, erzählt der achtminütige Kurzfilm vom Aufeinandertreffen einer alten Dame und eines jungen Mannes.
In einer nostalgischen Tram sitzt Kupferberg als alte Lady, mit Hut und Altfrauen-Mantel. Der junge dunkelhäutige Mann, der ohne Fahrschein unterwegs ist, erregt ihre Aufmerksamkeit. Die zwei sind allein, tanzen, shakern, verbiegen sich. Freie Fantasien werden umgesetzt: Er liegt allein auf der Sitzbank in der Tram, Sand rieselt durch seine Hand. Sie befindet sich plötzlich vorm freien Himmel, ihr Hut fliegt in die Höhe. Dann die Sache mit dem Apfel: Plötzlich ist das Obststück da, im Rückwärtslauf springt es von ihrer Hand in seine. Später tanzen sie, beide in denselben Apfel beißend. Gierig nascht sie davon – um später doch allein zu sein.
Manchmal sperrt sie ihn aus (es gibt eine Schiebetür im Zug). Dann wieder lockt sie ihn und steckt den Kopf in seine Aktentasche. Ein Fahrschein wechselt den Besitzer. Liebe? Eher ist es Sympathie und ein unkoordinierter Flirt, der hier abläuft wie in einem wirren Traum: in Bruchstücken und durchbrochen von immer neuen Fantasien.
Dieser Film hat zwar Poesie. Aber Kyliáns größtes Talent ist dennoch zweifelsohne nicht das Filmemachen, sondern das Choreografieren. Das Ende des Films ist denn auch wenig überzeugend: Nach einigem Hin und Her entscheidet sich die alte Dame für den Selbstmord, liegt auf dem Straßenpflaster auf den Schienen vor der Tram, die nicht mehr bremsen kann. Nun ja.
Dazu ist anzumerken: In Holland, wo Kylián lebt und arbeitet, ist Sterbehilfe erlaubt. Die Thematik ist natürlich brandheiß und sicher diskutierenswert. Aber die alte Dame aus dem Film hätte man gern ihre offenkundige Altersdepression überleben sehen! Da ging mit Kylián wohl eine alte patriarchale Gewohnheit durch, nach dem Motto: Lass die Frau am Ende sterben – und du rührst den Zuschauer zu Tränen. So einfach sollte das heutzutage aber nicht mehr vonstatten gehen, auf den Bühnen dieser Tanzwelt. Der Film ist übrigens von 2014 und mit Franz Schuberts traurig-schönem Lied „Nacht und Träume“ untermalt.
Nach der Pause dann das Highlight des Abends: „Birth-Day“, eine runde halbe Stunde barockes Kichern über gealterte Liebhaberinnen und Liebhaber. Kleiner Wermutstropfen: Die tollsten Szenen werden nur als Film eingespielt – live auf der Bühne ist daran gemessen zu wenig zu sehen. Die Idee einer Mixtur aus Film und Bühnentanz ist dennoch prima, und hier sollten die Ballettmacher ruhig weiter experimentieren.
„Birth-Day“ ist indes ein bewährter Klassiker der Moderne und auch in der DVD-Sammlung „Jiří Kylián Edition“ (siehe DVD-Besprechungen) ein Knüller. Es ist dieselbe Filmaufnahme aus dem Jahr 2001, die das Stück zum Renner macht: eine ultrawitzige Slapstick-Nummer übers Kuchenbacken von zwei androgynen Barockschranzen, die sich nicht entscheiden können, ob sie sich nun mögen oder nicht.
Barocke Perücken tragen auch die drei Damen und zwei Männer, die auf der Bühne an einem Tisch Platz nehmen und verführerisch-elegant dort miteinander „sitztanzen“. Wie sie einander charmieren, wie sie kokettieren, wie sie wortlos lästern und Komplimente machen, ist einfach großartig! Und ihre Fächer benutzen diese vornehmen Herrschaften als Instrumente, um mit stakkato-artigem Geklacker auf dem Tisch auch noch akustisch zu wirken.
Die Kleidsamkeit von Barock-Kostümen wird ein weiteres Mal unter Beweis gestellt. Auch ältere Körper wirken darin begehrenswert und erotisch – man sollte es sich für die nächste Shoppingtour merken. Jungs, tragt Knickerbocker, wenn ihr über 50 seid – und Mädels in diesem Alter, vergesst euer feines Dekolleté nicht!
Aber nicht nur der hippe „Küchenfilm“ wird eingespielt, sondern auch tragikomische, halbnackte Selbstbespiegelungen der Damen und Herren – sowie eine entzückend komische barocke Bettszene. Da hüpfen Männlein und Weiblein in weißer Unterwäsche in einer Schloss-Szenerie umher, der Film ist auf Schnelllauf geschaltet, und die Musik von Mozart, die das ganze Stück begleitet, motzt den heiter-lustigen Impetus nochmals auf. Grandios! Schade nur, dass nichts davon live geboten wird. Man hätte die Szenen auch in abgespeckter Form genommen – Witz und Ästhetik genug haben sie, vor allem der Geschlechterkampf in Form von Hüpfen und Toben auf der Matratze.
Tatsächlich neigt man wohl im Alter dazu, sich zu überschätzen und nochmal für jung zu halten. Auch die Spurensuche am eigenen Körper nach den Anzeichen des Alterns gehört zu den richtigen Beobachtungen, die Kylián gekonnt in tänzerische und pantomimische Kunst umzusetzen weiß. Insofern ist sogar wünschenswert, dass er weitere Stücke zum Thema Alter kreiert.
Dennoch könnte man sich auch einen Abend mit älteren Tänzern vorstellen, der sich den ganz normalen Themen widmet und nicht derart selbstreflektorisch vorgeht. Liebesgeschichten können auch noch anders als tödlich oder absurd verlaufen, wenn man über 40 ist. Und politische, historische oder Natur-Themen sind sogar altersunabhängig.
Aber die Szene der Profi-Körperkünstler ist, was Fitness angeht, auf ein sehr hohes Leistungsniveau eingeschworen. Alle in einem Ballettensemble sind daran gewöhnt, dass die Künstler, die auf die Bühne gehen, jung und absolut leistungsstark sind. Da ist es eine negative Sensation, die nicht zu ignorieren ist, wenn der Körper schlapp wird. Sicher ist es nicht einfach, hier sowohl als Choreograf als auch als Interpret plötzlich Abstriche zu machen.
Dabei ist diese Art von Senioren-Kunst wirklich wichtig, vor allem für das Publikum, das zu einem großen Teil eben nicht mehr jung, sondern schon betagter ist. Denn Zwanzig- und Dreißigjährige haben zumeist noch vielfältige andere Interessen, nicht zuletzt die eigene Karriere oder die Familiengründung. Wer aber hat Zeit und Lust, ins Theater, ins Ballett zu gehen? Eben.
Also, liebe über Vierzigjährige: Lauft nicht vor euren eigenen Problemen davon, sondern schaut euch an, wie hochkarätige Künstler damit umgehen, was sie daraus machen. Es ist anregend, unterstützend und auch ermunternd, das zu sehen.
Hinterher fragt man sich sogar, warum sich bisher keine Compagnien in Deutschland fand, um sich ein kleines, aber feines Altersballett zu gönnen. Die Zeit dafür ist reif – etwas mehr Werbung als für Jugendballette dürfte zwar nötig sein, um die Paradoxa „Ballett“ und „alt“ zusammen zu bringen. Aber der Aspekt der gesellschaftlichen Relevanz eines solchen Projekts kann gar nicht höher nicht sein.
Für die Berliner „Kylworks“-Vorstellung am Sonntagnachmittag gibt es übrigens voraussichtlich auch kurzfristig noch Karten!
Gisela Sonnenburg
Am 29. März, 15 Uhr, im Schiller Theater, Berlin