Traumtänzerei mit Herz und Herzlichkeit Florencia Chinellato im Wechsel mit Giorgia Giani als Marie in „Der Nussknacker“ von John Neumeier: zwei Rollenportraits

Der Nussknacker von John Neumeier hat viel Esprit

Giorgia Giani als Marie im „Nussknacker“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett: lieblich und sympathisch, aber auch komisch wie in einer Satire. Foto: Kiran West

Warum sollte man sich Terpsichore, die Göttin des Tanzes, nicht als kleines Mädchen vorstellen, das jeden Abend neu das Tanzen erlernt? In „Der Nussknacker“ in der Version von John Neumeier geht es genau darum: um ein Mädchen, das erwachsen wird, indem es vom Tanzen träumt. Natürlich hat auch die erste Verliebtheit hier ihren Stellenwert. Aber die Befähigung zu tanzen steht als symbolischer Hoheitswert über allem. Beim Hamburg Ballett stellten zuletzt alternierend Florencia Chinellato und Giorgia Giani die Partie der kleinen Marie dar, deren Geburtstagsfeier eine orgiastische Traumtänzerei zur Musik von Peter I. Tschaikowsky einläutet.

Es ist faszinierend zu sehen, wie verschieden sogar eine so stark vom Kostüm geprägte Rolle interpretiert werden kann.

Es sind ja stets erwachsene junge Damen, die in die Haut der kindlichen Neumeier’schen Marie schlüpfen. Ein Mädchenkleid im Matrosenstil aus der Belle Époque (zauberhaft entworfen von Jürgen Rose) macht klar, dass es sich hier um eine Zwölfjährige handelt, die langsam, aber unübersehbar zur Frau wird. Doch kein Make-up weist darauf hin, sondern allein die Bewegungskunst des angehenden Teenagers.

Wenn Marie sich zunächst auf ihre Puppe stürzt, um mit dieser im Arm zu tanzen, dann ist das schon ein Anflug vom Traum einer Ballnacht.

Und wenn sie eine Porzellanballerina im Regal entdeckt, ist das der Reiz der Eleganz, der auf das Kind mächtigen Eindruck macht.

Das große Bildnis einer erwachsenen Tänzerin flößt ihr dann sowohl Ehrfurcht als auch Ehrgeiz ein: So will sie auch werden, denkt sich Marie und streicht andächtig über die Textur des Bildes.

Die Art, wie Marie tänzelt und sich dreht, wie sie sich mit den Bildern von Weiblichkeit – also der Puppe, der Porzellanballerina und dem Tänzerinnenbildnis ­– arrangiert, erzählt von ihrer Befindlichkeit: Sie will raus aus ihrer Haut, will das Kinderzimmer ein- für allemal verlassen und gegen die große weite Welt eintauschen.

Ihre schwarzen Schnürstiefelchen haben da schon fast die Anmutung von Cancan-Tanzschuhen.

Der Nussknacker von John Neumeier hat viel Esprit

Der erste lyrische Pas de deux ihres Lebens: Marie tanzt im Traum mit Günther, hier tanzen Florencia Chinellato und Alexandr Trusch, in John Neumeiers „Nussknacker“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Florencia Chinellato, gebürtige Argentinierin, ist in dieser Partie der Marie versiert wie keine zweite Ballerina. Es ist, als sei die Existenz der Marie ihre zweite Natur. Im Privatleben ist Florencia schon längst selbst Mutter eines entzückenden Buben. Aber auf der Bühne ist sie das erwartungsfrohe, neugierige Kind an der Schwelle zum Erwachsenwerden.

Da sitzt jede kleine Geste, jeder Schritt, jede Mimik, jede Bewegung, ob mit den Armen, dem Oberkörper, den Beinen, den Füßen.

Florencia Chinellato ist Marie, mit jeder Faser ihrer musikalischen Bühnenerscheinung. Sie karikiert nicht, sie grimassiert nicht, sie spielt nicht over the top: Sie ist einfach da, als ein liebenswertes Kind, das so einige Flausen im Kopf hat.

Man kann sich an ihre Darstellung der Julia in Neumeiers „Romeo und Julia“ erinnern. Auch als noch fast kindliche Liebhaberin lebt Chinellato die Rolle so intensiv, mit so dezent eingesetzten theatralen Mitteln, dass sie auf der Bühne im höchsten Grade natürlich und authentisch wirkt.

Zumal Chinellato über eine saubere, von Präzision und Geschmeidigkeit geprägte Technik verfügt.

An sich kontert Emilie Mazon beim Hamburg Ballett mit einer ganz anderen Herangehensweise. Sie, mit einem rundlichen Gesicht, kräftigen Beinen und einem starkem Becken gesegnet, ist als Marie die muntere Clownin in Person. Wo Chinellato jede Bewegung ernst nimmt und eher mit Understatement brilliert, dreht Mazon alle Rohre voll auf – und scheint vor Freude an die Decke zu hüpfen, vor Neugier fast zu platzen, vor Lebenslust schier vorsätzlich ständig aus der Reihe zu tanzen.

Mazons Marie ist eine Außenseiterin, eine Kindfrau, die sich im unsicheren Zwischenbereich der Lebensalter ins Groteske rettet. Auch das funktioniert, was zeigt, wie hochkarätig und vielschichtig die Choreografie von John Neumeier ist. Aber Emilie Marie ist faktisch ein anderes Kaliber, eine ganz andere Sache, ein ganz anderes Kind als Florencia Marie. Wären sie Malerinnen, könnte man sagen: Emilie arbeitet mit kräftigem Farbauftrag und breiten Pinselstrichen, während Florencia zarte, skizzenhafte Andeutungen und eine vornehme Linienführung genügen.

Und jetzt, seit dieser Saison, gibt es noch eine weitere Interpretation dieser illustren, so gar nicht ballerinentypischen Marie-Partie: Die 23-jährige Italienerin Giorgia Giani, die bis 2016 in Neumeiers Bundesjugendballett immer nur positiv auffiel und sich seither auch im Hamburg Ballett stringent weiter entwickelte, debütierte soeben als Marie – und sie liefert mit einer vor allem das Liebenswerte dieser Figur betonenden, nachgerade auch skurril-sympathischen Darstellungsweise eine eigenständige neue Version.

Giani vereint sozusagen den starken Farbauftrag Mazons mit der liniensicheren Führung Chinellatos.

Der Nussknacker von John Neumeier hat viel Esprit

Giorga Giani und Christopher Evans als Marie und Günther: Im Traum Maries frönen sie der Poesie beim Pas de deux im Ballettsaal auf der Bühne… so zu sehen in John Neumeiers „Nussknacker“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Wenn Giorgia Giani als Marie fein lächelt, verzieht sie zwar zugleich das Gesicht. Aber sie bleibt im Rahmen des Wahrscheinlichen, übertritt nicht radikal die Grenzen ins Reich des Klamauks. So hat sie beides: den komischen Effekt und die Nachvollziehbarkeit für die Zuschauer.

Ähnlich verhält es sich mit ihrer tänzerischen Darstellung. Wo Florencia Chinellato sich romantisch hingibt und Emilie Mazon demonstrativ trampelt, wählt Giani den Mittelweg: Auch sie träumt unbeholfen vom Tanzen, knickt dabei ein, stampft auf – aber es ist wie eine nostalgische Karikatur anzusehen, voll Liebreiz und dennoch aus der Satire geboren.

Giorgia Giani ist der Charme und die Herzlichkeit, hingegen Florencia Chinellato das Herz pur verkörpert.

Von nahezu realistischer Darstellungsweise bis zur Miniaturparodie: Eine solche interpretatorische Bandbreite einer Rolle ist sehr selten im Ballett möglich!

Und trotzdem ist alles Geschehen gut nachvollziehbar, denn Marie ist vor allem ein Kind, das Träume hat. Zumal am zwölften Geburtstag…

Der Nussknacker von John Neumeier hat viel Esprit

Manchmal tanzt auch Carsten Jung den Ballettmeister Drosselmeier in „Der Nussknacker“ beim Hamburg Ballett – und darf sich vordrängeln, um aufs Foto zu kommen! Foto: Kiran West

Das Geburtstagskind Marie wird beschenkt. Erhält Blumen vom Bruder, bunte Seidenbänder von der Schwester, einen Nussknacker von deren Freund Günther, Bücher vom Vater – und Spitzenschuhe vom Hausfreund der Familie, dem Ballettmeister Drosselmeier. Mit ihm reist Marie nachts in ihrem Traum zum Theater – und sieht ihn erst mit ihrer Schwester, die Ballerina ist, trainieren, um dann mit Günther, ihrer Schwester und dem Corps de ballet fantastisch zu tanzen.

Dabei sind realistische Details der unerbittlich harten Ballettwelt nicht ausgespart. So tanzt eine junge Ballerina erst in die falsche Richtung, um dann auch noch endlos auf dem Platz zu kreiseln. Der Ballettmeister weist sie erst nur streng zurecht, doch dann gibt es gar kein Erbarmen mehr: Er wirft sie raus. Das Mädchen rutscht traurig mit gespreizten Beinen auf den Boden, die Hände vors Gesicht werfend – und mit den Schultern herzzerreißend schluchzend.

Sara Coffield ist in diesem Part so gut, dass man sich wünscht, mehr von ihr zu sehen!

Und auch andere müssen endlich namentlich erwähnt werden:

So Hélène Bouchet, die als Maries Mutter eine berauschende Beauty ist, mit einem Oberkörper von erlesener Haltung und einer Präsenz, wie man sie nur einer inneren Königin zusprechen kann.

So aber auch Aleix Martínez, der als Fritz (Maries Bruder) eine miteißende, sprunggewaltige, sehr geschmeidige Jungensfigur abgibt – er ist kein ungezogenes Brüderchen, sondern ein Traummann von Bruder, voll Zuneigung und Dynamik.

Der Nussknacker erzählt bei John Neumeier vom Erwachsenwerden

Marie tanzt mit Günther, Louise und dem Ensemble – und fühlt sich endlich wohl in ihrer Haut! So in „Der Nussknacker“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Die junge Yaiza Coll fällt aber auch in jedem noch so winzigen Part angenehm auf, ob als Freundin Maries, in anderer Besetzung als Maries Großmutter (in rauschender Robe) – oder, im Folkloretraumteil, als spanische Temperamentsbombe.

Selten auf der Bühne zu sehen und darum hier was Besonderes ist Neumeiers Ballettmeisterin Leslie McBeth in Vertretung von Coach und Ballettlehrerin Ann Drower: als Haushälterin. Figuren wie diese runden das Szenario voll Lebendigkeit ab, gestalten plastisch das großbürgerliche Familienleben. Manchmal ist Abwechslung allein aber auch schon ein Vergnügen.

Lucia Ríos lässt wiederum alle nur denkbaren spanischen Funken sprühen, und Maria Tolstunova überrascht immer wieder mit superber Eleganz.

Von Jacopo Bellussi bis zu Leeroy Boone (der trotz seiner Jugend herzergreifend den gealterten Diener der Familie spielt) könnte man nun noch viele aufzählen, die insgesamt das Hamburg Ballett zu einer so sehenswerten Einrichtung machen. Und dass in John Neumeiers „Nussknacker“ Dutzende von Ballettfiguren individuell zu Charakteren und Schicksalen geformt sind, macht ihn ebenfalls immer wieder sehenswert.

Jetzt aber endlich zu einem ganz speziellen Erfolgsgaranten so einer Aufführung:

Der Nussknacker von John Neumeier hat viel Esprit

Carolina Agüero als Louise an der Hand von Alexandre Riabko als Ballettmeister Drosselmeier: so erhaben wird trotz aller Komik im „Nussknacker“ von John Neumeier gearbeitet. Foto: Kiran West

Alexandre Riabko ist ein fabelhafter, zudem zu allen Interpretationen der Marie gleich gut passender Drosselmeier. Wenn er seine neuesten Einfälle vortanzt, dabei stets auf genügend Aufmerksamkeit achtend, so ist das, als würde er den ganzen Charakter des fantasiebegabten Ballettmeisters Drosselmeier in wenigen Sekunden fasslich machen.

Und wäre diese Orgie der Balletttanzkunst ohne Drosselmeier?

Es vergeht keine Minute der zweieinhalb Stunden vom „Nussknacker“, in der man nicht über Riabkos Drosselmeier und seine tolldreisten Kunststücke schmunzeln oder hellauf lachen muss.

Aber auch andere Solisten beweisen ihr Talent: Die schöne Carolina Agüero und der bezaubernde Alexandr Trusch sind ein eingespieltes, süß verliebtes Team als Louise, Schwester von Marie, und Günther, erster Schwarm der Kleinen.

Der Nussknacker von John Neumeier hat viel Esprit

Mayo Arii als Louise in den Armen von Christopher Evans als Günther: ein neues Traumpaar im „Nussknacker“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Neu ist, und zwar in der Besetzung mit Giorgia Giani, auch Mayo Arii als Louise: Sie gibt, besonders zart und fragil, an der Seite und im Arm des ganz hervorragenden, sportiv-eleganten Christopher Evans eine temperamentvoll-stolze Louise ab.

Man kann sich gar nicht entscheiden, zu welcher Besetzung man im Nachhinein vorzugsweise hätte raten sollen.

Legendär sind allerdings auch noch Anna Laudere und Edvin Revazov, die in den letzten Jahren häufig diese Partien tanzten.

Heuer reüssierten sie als Traumpaar aus dem alten Ägypten, in einer goldbronzenen Körperkostümierung mit reichlich Schmuck und in einer von antiken Darstellungen inspirierten Körpersprache.

Aber auch Priscilla Tselikova und Florian Pohl ergeben ein tadelloses, mit mysteriöser Anmutung bestrickendes Ägypter-Pärchen. „La Fille du Pharaon“ heißt ihr Tanz, nach dem Ballett, das Marius Petipa 1862 am Bolschoi-Theater in Moskau uraufführen ließ.

Florian Pohl,

Priscilla Tselikova und Florian Pohl brillieren als antik-ägyptisches Pärchen im „Nussknacker“ von John Neumeier. Ah, eine Erbauung! Foto: Kiran West

Das war dreißig Jahre, bevor der „Nussknacker“ zur Uraufführung kam, komponiert in enger Abstimmung mit Petipa von Tschaikowsky – und choreografisch von Lew Iwanow, in Stellvertretung Petipas, ausgeführt.

Der Grand Pas de deux, der den Höhepunkt von Maries Traum illustriert, erinnert auch in Neumeiers Version vom „Nussknacker“ an den Glanz einer perfekten Liebe, wie sie sich in zu zweit, aber auch in solistischen Variationen präsentiert.

Erotik und Euphorie prägen ohnehin den zweiten Teil dieses Balletts. Marie und Drosselmeier genießen hierin eine Aufführung in prunkvollen Theaterkulissen, die ganz dem Tanz, also auch ganz Terpsichore geweiht sind.

Die „Reigenfrohe“, so eine wörtliche Übersetzung von Terpsichore, ist ja nicht nur die Muse des Tanzes, sondern auch des Gesangs und der lyrischen Dichtkunst.

Es ist zwar in Deutschland noch ungewöhnlich, für journalistische Projekte zu spenden, aber wenn man die Medienlandschaft um das Ballett-Journal ergänzt sehen möchte, bleibt keine andere Möglichkeit. Im Impressum erfahren Sie gerne mehr. Danke.

In den antiken Darstellungen hält sie eine Lyra im Arm, um damit für die Tanzenden aufzuspielen. Eine Malerei auf einer altgriechischen Vase zeigt, wie die sensible, aber sehr willensstarke Terpsichore durch ihr musikalisches Spiel mit einer großen Lyra die Menschen lenkt und zum Tanzen zu verführen weiß.

Ihre Mutter ist nicht umsonst Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung und der Allwissenheit!

Vom Göttervater Zeus erbte Terpsichore die Kraft, auch unter schwierigen Umständen mit ihrer von innen kommenden Strahlkraft zu wirken. Ihre Befähigung, andere zu begeistern und in den Sog der Musik zu treiben, könnte man auch eine göttliche Berufung nennen.

Und warum sollte sie uns nicht an manchen Tagen in Gestalt eines Kindes erscheinen – und helfen, die Welt flugs in eine Bühne voller mitreißender Tänzerinnen und Tänzer zu verwandeln?!

Priscilla Tselikova und Florian Pohl brillieren als antik-ägyptisches Pärchen im "Nussknacker" von John Neumeier. Ah, eine Erbauung! Foto: Kiran West

Giorgia Giani und Christopher Evans schmachten sich an: Beim ihrem ersten Traum-Pas-de-deux im „Nussknacker“ von John Neumeier. Süß! Foto: Kiran West

Wenn Giorgia Giani als Marie ihre herausragend schönen Ballett-Füße sachte voreinander setzt, um den ersten Pas de deux ihres Lebens zu versuchen, dann ist so ein Moment ganz nah.

Oder wenn sie später von der Rampe aus neugierig in den Orchestergraben schaut – und dem Dirigenten Garrett Keast dort mit freundlich wedelnden Armgesten Konkurrenz zu machen sucht.

Oder wenn Florencia Chinellato als Marie ganz ungeduldig, dennoch mit großer Sorgfalt ihre neuen Spitzenschuhe anzieht, um etwas später darin so akkurat zu balancieren!

Das Erwachsensein an sich mag mühsam und voller Plage sein. Aber mit dem Tanz als Inspiration wird es immer jenen Zauber haben, den das Leben vom Tod unterscheidet.
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

 

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