Kluge Menschen wissen: Jedes Malheur hat auch sein Gutes. Nicht, dass man darum nun das Unglück herausfordern sollte. Aber es ist ratsam, das Beste aus jeder Situation zu machen – und dem Staatsballett Berlin (SBB) gelang dies, angesichts einer wasserbeschädigten, noch nicht wieder in Stand gesetzten Bühnentechnik in der Deutschen Oper Berlin (DOB), mit einer schwungvollen, mitreißenden, öffentlichen Bühnenprobe von „Der Nussknacker“. Ballettintendant Nacho Duato leitete die ungewöhnliche Probenschau – und weil es die letzte Vorführung seines „Nussknackers“ in Berlin war, gab auch ein wenig Wehmut dabei. Es überwog allerdings die Freude am Neuen: Der blutjunge Brasilianer Murilo de Oliveira, erst seit September beim SBB im Ensemble tanzend, gab sein bejubeltes Debüt als Nussknacker-Prinz. Wieviel Schmelz der Nachwuchsstar schon hat und wie schön er sich mit Ksenia Ovsyanick als Clara an seiner Seite in die durchaus Duato-typische Choreografie einpasst, gibt es im Folgenden zu sehen und nachzulesen.
Ganze sechs Scheinwerfer mussten ausreichen, um die Bühne zu erhellen. Christiane Theobald, stellvertretende Ballettintendantin, erklärte vorab, dass diese Superlampen nagelneu und bei dem Flutungsunglück an Heiligabend in der Deutschen Oper Berlin noch gar nicht installiert gewesen seien. Zum Glück nicht – denn sonst wären sie jetzt vermutlich auch nicht einsatzfähig.
Dank der Professionalität der Künstlerinnen und Künstler vom SBB und auch dank ihres verspielten Humors geriet die improvisierte Probenaufführung zu einem vollen Erfolg. Abenteuergeist und der Reiz des Besonderen mischen sich bei solchen Gelegenheiten – und von wenigen Unterbrechungen abgesehen, ergab der Durchlauf des Stücks schließlich den vollen Effekt einer Aufführung.
Zu Beginn wirkt die Bühne noch wie eine Inszenierung von William Forsythe. Da steht der überdimensionale Weihnachtsbaum aus der Ausstattung von Jérome Kaplan, und drum herum sind die Tänzer in bunter Trainingskleidung mit ihren Requisiten verteilt – wie aus der Zeit gefallene Glücksritter. Ohne die Kostüme, die beim „Nussknacker“ von Duato den Glamour der Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg vermitteln, muss sich das Auge des Zuschauers erst eingewöhnen in die Szenerie.
Aber dann merkt man, dass der Tanz sich gegen alle scheinbaren Widerstände durchsetzt. Das muntere Treiben eines Heiligabends ohne außer Rand und Band gesetzte Sprenkleranlage – und es war noch ein Glück, dass der Eiserne Vorhang die Fluten im Bühnenbereich hielt – entsteht fast allein durch die Bewegungen.
Die Musik von Peter I. Tschaikowsky kommt natürlich vom Band, denn der Aufwand einer Probe mit Orchester wäre wohl doch zu groß. Aber das Flair des interessanten Anderen – schließlich handelt es sich um einen Zwitter aus Probe und Vorstellung – macht das in diesem Fall schnell wieder wett.
Das Mädchen mit dem Luftballon ist übrigens Clara, mit bezaubernder, auf den Punkt gebrachter Grazie getanzt von der Ersten Solistin Ksenia Ovsyanick. Clara hat ein sehr gutes Verhältnis zu ihrem Patenonkel Drosselmeier. Der schenkt den Kindern lebensgroße, hübsch tanzende Puppen.
Eine davon stellt den Mausekönig aus der Novelle „Nussknacker und Mausekönig“ von E.T.A. Hoffmann dar. Hui, kann der springen! Arshak Ghalumyan zeigt mit Bravour, dass Puppen im Ballett im Grunde ziemlich dankbare Rollen sein können.
Aber für Clara hat Pate Drosselmeier noch ein Extrageschenk: einen Nussknacker, der gut und gern das ist, was heutzutage eine männliche Barbie-Puppe sein könnte. Ken trägt hier die Nussknacker-übliche Uniform und wirkt mit seinem hohen Helm ziemlich wehrhaft.
Natürlich schließt sie diese symbolhafte Holzpuppe gleich in ihr Herz und fest in ihre Arme. Clara ist ein einem Alter, in dem solche Geschenke Sinn machen.
Man sagt, wenn etwas schwierig ist, das sei eine harte Nuss. Auf diese Symbolik stellt der Nussknacker im Stück auch ab. Die beginnende Pubertät von Clara stellt sie auf die Probe. Sie ist als Mensch und werdende Frau gefordert.
In den Nussknacker verliebt sie sich gewissermaßen, und später, in ihrem nächtlichen Traum, wird er ihre Fantasie mächtig beflügeln.
Zunächst aber stellt er auch eine Art Gegenfigur zum geheimnisvollen Drosselmeier dar. Der begegnet Clara mit väterlicher Zuneigung sowie mit dem Respekt des Verehrers.
Als alle zu Bett gegangen sind, findet sich Clara in einem Traum wieder. Mäuse tauchen darin auf, als garstige Kreaturen. Sie nehmen ihr den Nussknacker weg, aber sie kann ihn sich zurück holen.
Der Alptraum ist ein klassisches Element und referiert auch auf die Erzählung von E.T.A. Hoffmann. Ob Drosselmeier etwas damit zu tun hat?
Clara muss um ihren kleinen neuen Freund aus Holz, den Nussknacker, ringen – und sie rettet ihn vor dem geschmeidig-bösartigem Getier.
Und dann läuft und läuft und läuft sie mit ihrem kleinen Traummann unterm Arm – und aus dem gewöhnlichen Holznussknacker wird erst eine etwas größere Nussknackerpuppe, dann eine noch größere – und schließlich steht er leibhaftig da, im roten Proben-T-Shirt und adrett in Pose gestellt: Aus dem Nussknacker wurde für Clara eine lebende Puppe.
Murilo de Oliveira tanzt die Partie mit der Süße und Arglosigkeit der Jugend.
In der Version von Nacho Duato wird der Nussknacker nicht sofort zum Prinzen. Sondern er durchläuft genau wie Clara ein Entwicklungsstadium.
Hier ist er erst einmal nur der kämpfende Held, der dem bösartigen Mausekönig den Todesstoß versetzt. Aber bald ist die Verliebtheit Claras das, was ihn zu einem Wesen mit Gefühl macht.
Etwas steif bewegt sich diese lebendige Holzpuppe zunächst noch. Doch mehr und mehr lockert der lebendige Nussknacker sich, bis er durch den lieblichen Paartanz mit Clara zum Mann wird.
Ein Reigen weiblicher Schneeflocken begrüßt das frisch gebackene Pärchen in einem Zauberwald, der vor allem aus der Fantasie von Clara besteht.
Nacho Duato erklärt, dass Murilo de Oliveira durch die mutmaßliche Sabotage an der Sprenkleranlage fast um sein Debüt in dieser Rolle gebracht wurde – es war ursprünglich für den Ersten Weihnachtstag, also einen Tag nach der Wasserhavarie in der DOB angekündigt.
In kurzer Zeit hatte Murilo die Partie gelernt, unterstützt von dem versierten Ballettmeister Gentian Doda und natürlich vom Choreografen Nacho Duato. Die Prinzenvielfalt beim SBB hat so jedenfalls würdigen Zuwachs erhalten.
Murilo tanzte in Rio de Janeiro am Teatro Muncipal schon den „Goldenen Gott“ in „La Bayadère“ und auch den Prinzen in einer „Schwanensee“-Inszenierung. Er bringt also trotz seiner Jugend bereits Erfahrung in tragenden Partien mit.
Aber in der großen Truppe vom SBB so schnell in eine Inszenierung hinein zu wachsen, ist zweifelsohne etwas Besonderes!
Zumal de Oliveira alles hat, was ein Tänzer von Weltrang benötigt. Seine Technik ist fabelhaft, seine kleinen wie großen Sprünge sind von begeisternder Schönheit, und seine Ausstrahlung auf der Bühne ist schlichtweg umwerfend. Damit fiel er ja schon als Verkörperung des Gold in Nacho Duatos „Dornröschen“ auf.
Im „Nussknacker“ zeigt er nun, dass er alle Erwartungen noch übertreffen kann.
Seine anmutige, durchaus individuelle Erscheinung ist von nun an ein Highlight im Staatsballett Berlin und als solches nicht mehr wegzudenken!
Das beweist er auch im zweiten Teil vom „Nussknacker“, in dem das Liebespaar den Tänzen verschiedener Folkloren begegnet.
Da ist das spanische Pärchen, das mit Verve und Schwung eine getanzte Leidenschaft abliefert.
Da ist der laszive arabische Tanz, den Elisa Carrillo Cabrera mit zwei Kavalieren sowie unter Begleitung einer glänzenden Riesenschlange als bewegtem Requisit absolviert.
Drosselmeier, der auch in der „Nussknacker“-Version von John Neumeier bei den exotischen Chinesen-Nummer mitmacht, darf auch hier mitmischen – und den Sonnenschirm drehen, während zwei Paare munter um ihn herum springen. Allen voran gefällt immer wieder Vladislav Marinov in diesem Tanz.
Der russische Tanz besticht mit vier sprungfertigen Jungen, die jetzt in der Probenkleidung nicht als Matrosen zu erkennen sind, was sie aber im Aufführungskostüm wären. Ihr Tanz atmet so viel Temperament und Lebenslust, dass man von Männerbünde in einem positiven Sinn sprechen kann.
Lieblich und mit barock-klassischen Anklängen kommt dann der französische Tanz einher – und Luciana Voltolini bezaubert auch mit neuem Partner hierin.
Der Höhepunkt aber ist der Grand Pas de deux, und – Überraschung! – hierfür trägt das Liebespaar, bestehend aus Clara und ihrem nunmehr gänzlich hierfür verwandelten Traumprinzen, sogar die Originalkostüme.
Einmal mehr zeigt sich: Ksenia Ovsyanick und Murilo de Oliveira bilden ein superbes Paar, sie ergänzen sich und harmonieren, wie man es sich traumhafterweise nur vorzustellen vermag.
Und auch im Partnern ist Murilo de Oliveira, der an der Bolschoi-Schule in Joinville in Brasilien ausgebildet wurde. Bolschoi? In Brasilien? Oh ja. Da es in Brasilien so außergewöhnlich viele Talente für Tanz und Ballett gibt (legendär und immer wieder als Beispiel zu nennen ist Marcia Haydée), hat das Bolschoi dort eine Niederlassung für die Ausbildung etabliert. Allerdings funktioniert in Lateinamerika alles ein bisschen anders als in Russland, und so ist die Ballettausbildung dort eher nach Kursen als nach einem straffen Auslesesystem von Kindesbeinen an, wie in Russland, organisiert.
Murilo und auch sein etwas älterer Bruder Moacir de Oliveira, der in Rio de Janeiro schon den Solor in „La Bayadère“ tanzte und der diese Spielzeit als Halbsolist beim Stuttgarter Ballett anfing, verkörpern einen geschmeidigen Bewegungsfluss und einen biegsamen Körperbau, der nachgerade typisch für lateinamerikanische Ballerinos ist.
Dass aber auch die Ausdrucksmöglichkeiten und nicht nur die technischen Voraussetzungen in so hohem Maße gegeben sind, ist selten. Und hat er nicht eine ordentliche Prise Bolschoi-Esprit in seinen Gliedern?
Und auch das Partnern liegt Murilo de Oliveira, der seine Clara alias die entzückende Ksenia Ovsyanick unaufdringlich, aber nachdrücklich führt und hebt und dreht und wendet, so sehr, dass man meinen könnte, er habe darin die besten Ballettlehrer der Welt gehabt.
Sie wiederum schmiegt sich an ihn an, als wären sie schon seit langem ein füreinander wie gemachtes Hoheitspaar der Ballettwelt.
Natürlich bezeugen solche „Prinzenwunder“ wie de Oliveira auch, was heute an internationalem Ballettnachwuchs überhaupt möglich ist.
Viele Lehrtechniken, unter anderem der Umgang mit Videos, bringen immer bessere, immer phänomenalere Tänzer hervor. Letztlich entscheidend sind jedoch grundlegende Dinge wie Präzision und Schnelligkeit, andererseits aber auch das Vermögen, aus einer Prinzenrolle eben nicht ein beliebiges Gehüpfe, sondern eine gelungene Charaktergestaltung werden zu lassen.
Murilos Nussknacker-Prinz vollzieht wunderbar transparent die Verwandlung von der Holzpuppe über den roboterhaften Säbelsoldaten bis zum Traumprinzen – und wieder zurück.
Denn nach dem exzellent vom Ensemble des SBB gebotenen Blumenwalzer mit seinen vielen synchron tanzenden Paaren und Tänzerreihen muss der Prinz in seine ursprüngliche Gestalt zurück.
Es war ja alles nur ein Traum!
Mitten im Getümmel der um ihn Wirbelnden erstarrt der schöne Prinz, seine Bewegungen werden zackig, schließlich steif und leblos.
Clara aber hält ihren Nussknacker, den aus Holz, den sie zu Weihnachten geschenkt bekam, wie eine heilige Reliquie in ihrem Arm, als der Vorhang sich senkt.
Ist die Erinnerung etwa nicht ein Paradies, aus dem man uns nicht vertreiben kann?
So, wie Ksenia Ovsyanick und Murilo de Oliveira den klassisch-modernen Paartanz interpretieren, haben wir viele Gründe, uns auf die kommenden Ballettträume zu freuen.
P.S. Und schon kommt die beglückende Meldung, dass die kommenden Ballettaufführungen mit „Schwanensee“ in der Deutschen Oper Berlin zwar mit reduzierter Kulisse, aber mit Originalneuanweisungen des Choreografen Patrice Bart stattfinden können. Viel Vergnügen!
Gisela Sonnenburg