Revoluzzer der Liebe: Adieu, Bellissimo! Starsolist Jacopo Bellussi nahm in „Romeo und Julia“ von John Neumeier mit Ana Torrequebrada als Partnerin seinen Abschied vom Hamburg Ballett

Jacopo Bellussi und sein Abschied vom Hamburg Ballett als Romeo

Jacopo Bellussi hier solistisch als Romeo in John Neumeiers „Romeo und Julia“, begeisternd ein letztes Mal beim Hamburg Ballett gestern Abend zu sehen. Foto: Kiran West

Eine halbe Stunde lang erhielt er Standing Ovations, und die Tränen liefen auf der Bühne wie im Publikum. Der italienische Starsolist Jacopo Bellussi, 32, verließ gestern abend das Hamburg Ballett, mit einem Blumenmeer nach der Vorstellung, mit vielen Umarmungen und mit den obligatorisch einzeln überreichten Rosen von kollegialen Weggefährten auf offener Bühne. Vorher tanzte er den Romeo, ein letztes Mal in Hamburg: mit einer solchen spannungsgeladenen, erotischen Anmut, dass man weiß: Man wird Jacopo Bellussi so sehr vermissen, wie man einen Weltstar nur vermissen kann. Und er ist zweifelsohne einer der besten Ballerinos der Welt in seiner Generation. Denn ob er ein Rad schlägt oder zig Pirouetten dreht, es ist so elegant und sexy, so geradlinig und formschön in den Bewegungen, dass man nur staunt und seufzt. Sogar einfaches Laufen wird zum Kunstakt, wenn es mit so großer Könnerschaft ausgeführt wird. Beim Rückwärtslaufen im Kreis legt sich dieser Romeo gar mit dem Oberkörper nach hinten in den Gegenwind – was für ein Bild für einen Revoluzzer der Liebe! Und: Man wird den Weg dieses Spitzenballerinos auch weiter verfolgen. Bellussi – der aufgrund der Schönheit seines Tanzes den Spitznamen „Bellissimo“ verdient (italienisch für „schön“) oder auch „Bellussimo“ (alsWortspiel), wirkt nämlich fortan, wie schon seit Monaten, als Gastballerino in Toulouse in Frankreich, beim Ballet du Capitole, als Étoile. Mit einer weiteren, sehr renommierten Company verhandelt er. Und in Genua, seiner Heimatstadt, ist er der künstlerische Leiter des alljährlich im Sommer stattfindenden, nach einem Stadtteil benannten NERVI International Ballet Festival. Langeweile kommt da nicht auf.

Es geht für Bellussi (der in Mailand und London ausgebildet wurde und seit 2012 beim Hamburg Ballett tanzte) also weiter, es geht sogar bergauf mit ihm – und wer weiß, ob und unter welchen Umständen man diesen exzellenten Künstler jemals wieder nach Hamburg, nach Deutschland, zurückholen wird. Dann vielleicht in eine leitende Funktion.

Jacopo Bellussi und sein Abschied vom Hamburg Ballett als Romeo

Ein wunderbares Bühnenpaar: Ana Torrequebrada als Julia und Jacopo Bellussi als Romeo beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Zunächst aber müssen wir lernen, ohne ihn und seine hohe Bühnenpräsenz beim Hamburg Ballett zu leben. Auch, wenn sich dort derzeit noch viele supergut ausgebildete, souveräne, auch tapfere Megabegabte tummeln, so wird Bellussi fehlen.

Er hat viele maßgebliche Rollen beim Hamburg Ballett getanzt, bis hin zum Armand in der „Kameliendame“, dem Wronski in Anna Karenina und dem Prinzen Désiré in „Dornröschen“. Einen der wichtigsten Pas de deux von John Neumeier, den Männer-Paartanz „Peter und Igor“, hat er zusammen mit Alessandro Frola mit kreiert und uraufgeführt. Wird man die beiden jemals wieder damit sehen? Man muss wohl verneinen.

Auch das wunderbare Bühnenpaar von gestern wird es so wohl nie wieder geben: die junge Ana Torrequebrada und Jacopo Bellussi tanzten in „Romeo und Julia“, als seien ihnen die komplizierten, dennoch edlen Titelrollen gerade erst auf die trotz allen sonstigen Trainings klassisch gebliebenen Leiber choreografiert. Dabei ist das Stück von 1971 und wurde 1981 von John Neumeier und seinen damaligen Wundertänzern in Hamburg überarbeitet. Ein Klassiker der Ballettmoderne.

„Romeo und Julia“

Die Leidenschaft im Ausdruck, auch im Gesicht, ist wichtig – und die perfekten Linien bis in die Fingerspitzen: Jacopo Bellussi als Romeo. Foto: Kiran West

Neoklassik und wirklich sehr moderne Bewegungen mischen sich hier. Man leidet mit den Liebenden, man freut sich mit ihnen, man liebt mit ihnen und weint, wenn ihre Charaktere sterben.

Hilfreich dabei: Das superbe Dirigat von Markus Lehtinen, dem es gelingt, das Philharmonische Staatsorchester Hamburg zu Bestleistungen zu führen. Schon die Ouvertüre enthält nicht nur dramatisch-kräftige, sondern auch hauchzarte, feine Nuancierungen, die einen den ganzen Abend über begleiten. Man schmilzt regelrecht dahin…

Ana Torrequebrada ist dazu eine liebliche, aber auch kecke, eigensinnige Julia, die enormen Spaß daran hat, die Pläne anderer zu durchkreuzen und sich sogar der strengen Frau Mama gegenüber als Schelmin zu präsentieren. In der Liebe ist sie dann erst scheu, dann umso fordernder – und all das ist wirklich sehenswert gewesen. Oder so gesagt: Jeder, der das nicht gesehen hat, tut mir Leid.

Statt Ida Praetorius, wie angekündigt, tanzte die vorzügliche Anna Laudere die Mutter der Julia – und als Gatten hatte sie dieses Mal den starken, schönen Florian Pohl an ihrer Seite. Auch diese beiden überzeugen vollends, man nimmt ihnen ab, dass sie aus der starren Big-Ego-Etikette der Adelsfamilie Capulet nicht mehr herausfinden und es eigentlich nur gut mit Julia meinen, wenn sie sie mit Graf Paris zwangsvermählen wollen.

Illia Zakrevskyi wiederum als Paris ist vielleicht ein bisschen soft und lyrisch für die Partie, aber in jedem Fall ein ernsthafter Hingucker. Florian Pohl, der mit ihm diese Saison in der Partie alterniert, ist dennoch die größere Provokation. Da fragte man sich, warum Julia sich nicht in ihn verbliebt – und genau damit war man ja beim großen Mysterium der Liebe.

Aber auch das Umfeld stimmt in der Neumeier-Version von „Romeo und Julia“: Fast jede Figur hat einen Namen und einen Charakter, reine Statisterie gibt es trotz großen Personals hier nicht.

Und in manchen Partien funkeln wirklich alle Facetten. Da ist Matias Oberlin, der in anderer Besetzung diese Saison sehr toll den Vater von Julia mit souveräner Stärke tanzt, und der in diesem Cast ein wirklich umwerfend tragikomischer Mercutio ist. Selbstbewusst, vital, überdreht – und dann tragikomisch versterbend, zwischen parodistischem Spiel und blutigem Ernst changierend, das ist ein Mercutio, wie er leibt und lebt und eben auch auf der Bühne stirbt.

Jacopo Bellussi und sein Abschied vom Hamburg Ballett als Romeo

Matias Oberlin als furioser Mercutio in „Romeo und Julia“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Javier Monreal schließlich, wie Mercutio als Benvolio mit Romeo befreundet und zu dritt mit ihnen eine mordsfidele Jungsclique abgebend, verkörpert den lyrisch-sanftmütigen Burschen im Trio. Zu dritt verkörpern sie die Kraft und Spontanetität der Jugend. Ach, was für eine Jungspower!

Lennard Giesenberg als kräuterbegeisterter und medizinkundiger Mönch Lorenzo und Niurka Moredo als Julias bemühte, energische Amme schließlich liefern schlüssige, hellwache Darstellungen von durchaus wichtigen Figuren ab. In gewisser Weise sind sie die Lehrer fürs Leben unseres Liebespaares – und beinahe gelingt es ihnen ja auch, der Liebe selbst das Überleben in einer feindlichen Welt zu sichern.

Die Mädels, die Julias Freundinnen abgeben, entzücken derweil mit Frische und Authentizität. Das große Fleißwerk Neumeiers, der hier tatsächlich jeder Rolle auf der Bühne viel Aufmerksamkeit beim Kreieren spendierte, rentiert sich gerade in diesen vermeintlichen Selbstläufern.

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Das Corps de ballet wiederum ist ein Genuss für sich, vor allem im gänsehauttreibenden „Tanz der Ritter“, den Neumeier für den Clan der Capulets kreierte, in den Volksfest- und auch in den Straßenkampfszenen, die Mantel-und-Degen-Film-reif sind. Man kann sich nicht sattsehen daran.

Das ist Weltklassetanz, und man würde es zutiefst zu bedauern haben, sollte dieses Niveau durch die Turbulenzen, in die Demis Volpi, der aktuelle Chef dieses De-luxe-Ensembles, es stürzt, verlustig gehen.

Es ist schon bitter genug, ohne einige von John Neumeier wohl durchdacht an der Spitze vom Hamburg Ballett platzierten Stars auszukommen. Jacopo Bellussi ist der erste, der nun fort ist.
Gisela Sonnenburg 

www.hamburgballett.de

https://nervinternationalballetfestival.it/en/

John Neumeier an seinem 80.

Ida Praetorius war auch eine Julia von Jacopo „Bellussimo“ Bellussi als „Romeo und Julia“ von John Neumeier, 2019 auf der Geburtstagsgala. Ein heßes Paar! Foto: Kiran West

Romeo und Julia sind jung, aber zu allem entschlossen.

2015: Jacopo Bellussi und Emilie Mazon als Julia in „Romeo und Julia“ beim Hamburg Ballett: dahin fliegend, als gebe es kein Wenn und Aber gegen diese verbotene Liebe. Foto: Holger Badekow

Jacopo Bellussi und sein Abschied vom Hamburg Ballett als Romeo

Große Liebende in Bestform 2025: Ana Torrequebrada und Jacopo Bellussi, gestern ein letztes Mal in John Neumeiers „Romeo und Julia“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

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