Aller guten Dinge sind zwei Das Hamburg Ballett zeigt seine neue John-Neumeier-DVD „Dona Nobis Pacem“ kostenfrei im Opernhaus und das Stuttgarter Ballett brachte ein Mammutbuch über seinen Wundermacher auf den Markt: „John Cranko – Tanzvisionär“

"Dona Nobis Pacem" von John Neumeier

Der tänzerische Ruf nach Frieden entspricht der Unschuld und der Schönheit – und nicht unbedingt der harten Realität. So zu sehen in „Dona Nobis Pacem“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

So etwas ist selten: freier Eintritt ins Opernhaus! John Neumeier macht es am zweiten Advent, also am morgigen Sonntag, um 11 Uhr möglich. Gezeigt wird die neue DVD / BluRay vom Hamburg Ballett, die wiederum das jüngste Werk des Großmeisters der Choreografie speichert: „Dona Nobis Pacem“ zur h-moll-Messe von Johann Sebastian Bach ist das überaus sehenswerte Spätwerk eines genialen Mannes, der Sinnlichkeit und Religiosität auf spannende Weise zu verbinden weiß. In der bewährten Bildregie von Myriam Hoyer zeigt sich das Stück nachvollziehbar und mitreißend. Weil vorab 10 Euro pro Ticket für die Filmshow in der Hamburgischen Staatsoper bezahlt werden musste, erhält, wer diese löhnte, einen Gutschein darüber. Ein geschickter Werbekniff: Das nächste Ticket wird sicher etwas teurer. Vor allem aber gibt es am Sonntag im Anschluss an die Kunst eine Signierstunde mit John Neumeier im Opernhausfoyer. Wer sich ein Buch, ein Programmheft oder ein Foto signieren lassen möchte, ist herzlich eingeladen! Das passende Weihnachtsgeschenk, die DVD/BluRay, ist außerdem zum Vorzugspreis erhältlich. 20 bzw. 25 Euro muss man aber immer noch berappen. In etwa doppelt soviel kostet das zweite Geschenke-Muss in dieser Weihnachtssaison: Es kommt vom Stuttgarter Ballett, welches damit seinen Wegbereiter ehrt.

Harold Woetzel drehte einen einfühlsamen Film über das Stuttgarter Ballett.

John Cranko glücklich mit Russenmütze in Moskau, UdSSR. Das waren noch Zeiten! Wunderzeiten! Das Ballett verband die beiden Weltenhälften im Kalten Krieg. Videostill aus Harold Woetzels Film „Von Wundern und Superhelden“: Gisela Sonnenburg

Da ist sie noch, die gute alte Lust am Geschichtenerzählen. Sie beseelte den unersetzlichen Choreografen John Cranko, der 1961 von Südafrika über London nach Stuttgart kam. Und sie ist der beste Grund, das neue Buch über Cranko zu lesen. „John Cranko – Tanzvisionär“, erschienen bei Henschel, herausgegeben vom Stuttgarter Ballett, ist eigentlich sogar zwei Bücher. Denn der Anteil groß aufgezogener Schwarz-weiß-Fotos ist so hoch, als wäre es ein Bildband. Es gibt bekannte, aber auch selten zu sehende Porträts und Schnappschüsse, die den tanzbegeisterten Mann bei der Arbeit und auch privat zeigen.

„Onegin“, „Schwanensee“, „Poème de l’Ekstase“ – Crankos Kreationen begründen seinen Ruhm und begeistern bis heute das Publikum. Das Buch will den Menschen hinter der Kunst zeigen. Das Format DIN A 3 ist nicht gerade klein gewählt, und das Gewicht des Buches beträgt einige Kilo. Dafür ist das Schriftbild groß und die Fotos sind scharf – viel Liebe wurde in die Gestaltung gelegt.

Mit seinen schönen großen Augen, zugleich verträumt und hellwach wirkend, sinniert Cranko auf Fotos, als säße er einem gegenüber.

"Onegin" in Wien mit Jason Reilly und Hyo-Jung Kang

Eine magische Verbindung: Hyo-Jung Kang als Tatjana und Jason Reilly als Onegin im gleichnamigen Stück von John Cranko beim Wiener Staatsballett. Foto: Ashley Taylor

Das Konzept der Textbeiträge ist allerdings das von Nachrufen. Zwanzig Weggefährtinnen und Weggefährten schildern in essayistisch gepeppten Protokollen ihre Beziehung zu Cranko. Die Schwäche dieser Machart: Vieles wiederholt sich, und je eitler und egozentrischer die beschreibenden Künstler sind, desto weniger erfährt man. Das Lektorat war nicht nur sorgfältig: T.S. Eliot wird als britischer Dichter bezeichnet, er war aber US-Amerikaner.

Doch es gibt Highlights. Vor allem die Erinnerungen von Marcia Haydée und Richard „Ricky“ Cragun, dem wichtigsten Tanzpaar Crankos, sind lesenswert. Da erfährt man, dass Cranko eine große Liebe hatte: einen jungen Mann aus der Oberschicht, der den Geliebten nach acht Monaten auf Befehl des Vaters verließ. Und zwar, um ausgerechnet nach Kapstadt in Südafrika zu gehen. Cranko war ja gebürtiger Südafrikaner. Es brach Cranko fast das Herz, den Liebsten zu verlieren; er soll drei Suizidversuche unternommen haben.

Der damalige Liebhaber namens Dirk Ottenbacher, dem seine Herkunft wichtiger war als seine Liebe, kommt auch zu Wort. Er starb letztes Jahr, aber das Gespräch mit ihm fand schon 2015 statt. Andere Beiträge im Buch stammen von 2010. Es haben also nicht alle, die sich hier an John Cranko erinnern, denselben Horizont, nicht mal zeitlich. Homogenität findet sich trotzdem. Die kleine große Welt eines Theaters, an dem ein schöpferischer Künstler ein „Ballettwunder“ vollbrachte, blitzt auf und wird gegenwärtig.

Harold Woetzel drehte einen einfühlsamen Film über das Stuttgarter Ballett.

John Cranko mit zwei Tänzern auf der Probe. Rechts John Neumeier. Was für eine Atmosphäre aus Neugier und Kontaktfreude! So zu sehen in Harold Woetzels Film „Von Wundern und Superhelden“, der für den swr gedreht wurde. Videostill: Gisela Sonnenburg

Wenn sich dann noch John Neumeier vom Hamburg Ballett, der bedeutendste lebende Choreograf, an seinen einstigen Mentor Cranko erinnert, fließen vermutlich bei so manchem Fan die Tränen der Rührung. Neumeier, ein meisterhafter Autor, verfasste seinen Beitrag übrigens selbst.

Andere sprachen sich bei den dafür angeheuerten Autorinnen aus und ließen ihre Rede überformt notieren. Nur die Mitbewohner von Cranko – Dieter Graefe, sein Sekretär, und Reid Anderson, ein Tänzer – stellen sich im Interview vor. Graefe, Crankos Erbe, ist mit Anderson verpartnert und hat das Buch zum Großteil bezahlt. Kritische Stimmen zum heutigen Stuttgarter Ballett kommen darum gar nicht darin vor.

Dass Crankos Arbeiten aber nicht immer Erfolg hatten, ist wohltuend zu lesen. Der heutige Druck auf Künstler, sich stets und ständig als die Besten verkaufen zu müssen, ist nicht normal – und der Qualität sogar abträglich.

Cranko hatte andere Sorgen. Er fühlte sich einsam, mit zunehmendem Alter machten ihm Selbstzweifel an seiner künstlerischen Potenz zu schaffen. Auch sein Tod 1973, während eines Fluges aus den USA nach Deutschland, ist im Kontext seiner Probleme mit Alkohol und Schlaftabletten zu sehen. Viele Fakten und Eindrücke kommen hier aus verschiedenen Blickwinkeln zusammen, manches widerspricht sich auch. Das Buch bemüht sich nicht um Klärung – die Bewertung liegt allein beim Leser.

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Fest steht: So viel Privates über Cranko fand man noch nie angehäuft. Dass er nicht nur wegen der künstlerischen Freiheit von London nach Stuttgart ging, sondern auch, weil er von der englischen Yellow Press als Homosexueller gebrandmarkt wurde, wird ebenfalls berichtet.

Manche seiner Freunde fanden ihn zudem menschlich anstrengend, andere angenehm fordernd. Liebevoll ging er vor allem mit seinem Hund Artus um.

Als besseres Büro wusste John Cranko die Theaterkantine zu nutzen. Da er Kettenraucher war, residierte er dort wie ein märchenhaft freundlicher Mafiosi. Die Nächte wurden bevorzugt bei einem griechischen Wirt mit viel Ouzo zelebriert: Man war jung und hatte Zeit und Geld für heiße Nächte.

So nah man an Cranko hier manchmal auch herankommt, es bleibt ein Blick unter den Unterrock. Der neue Sammelband holt den Klassiker unter den Cranko-Büchern nicht ein. Denn jener beschäftigt sich essenziell und nicht nur wie nebenbei mit dem bedeutenden Werk des Künstlers. Die hervorragend recherchierte und spannend geschriebene „John Cranko Biographie“ von John Percival, 1985 im Belser Verlag erschienen, gibt es nur noch antiquarisch, aber sie sei hier nochmals empfohlen. Als Ergänzung, vor allem mit Bildmaterial, taugt der neue Band aber allemal.

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Gisela Sonnenburg

„Dona Nobis Pacem”, a ballet by John Neumeier, Hamburg Ballett, erschienen bei c major (Normalpreis für DVD/BluRay: 28 Euro) – https://ballett-journal.de/hamburg-ballett-john-neumeier-dona-nobis-pacem/

„John Cranko – Tanzvisionär“, Hrsg. Stuttgarter Ballett, erschienen im Henschel Verlag, Leipzig, 2023, 285 S., 49 Euro, ISBN: 978-3-89487-842-9

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