Ballett ist optimal, um Götternektar zu saugen. Das ist diese göttliche Nahrung, die Körper, Leib und Seele zusammen hält und uns mentale Flügel verleiht. Klassische Musik, geistliche Musik, auch Folkloreklänge können so wirken – und Ballett, weil es Musik in lebendige Skulpturen gießt, gilt da als Potenzierung. Das funktioniert sogar dann, wenn ein Stück nicht wirklich perfekt ist, aber genügend Passagen enthält, die anrühren und mit tänzerischer Brillanz Bewunderung hervorlocken. Ballett ist erhebend – auch im modernen Gewand. Ein solches stülpt die Choreografin Cathy Marston über eine etwas überladene Cinderella-Geschichte aus dem 19. Jahrhundert. Das Stück „Jane Eyre“ nach dem Roman der englischen Schriftstellerin Charlotte Brontë 1847 entstand 2016 im englischen Leeds – und wird jetzt von John Neumeier bei seinem Hamburg Ballett präsentiert. Vorab sei gesagt, dass das Hamburg Ballett auch dieses Stück mit der gewohnten Virtuosität und auf höchstem Niveau tanzt. Die gestrige Premierenbesetzung begeisterte: Anna Torrequebrada, Ida Praetorius, Karen Azatyan, Anna Laudere und Christopher Evans beglücken mit jeder ihrer kleinen oder großen Bewegungen. Vor allem in den Soli, aber auch in den Pas de deux. Und das Corps de ballet ist so geschmeidig und synchron, so mitreißend und erfreulich wie immer. Wenigstens das funktioniert noch in diesem Land: Das Hamburg Ballett bietet Tanz vom Allerfeinsten.
Im Prolog zerrt ein Mann eine Frau auf die Bühne, sie absolvieren einen fast allegorischen Kampftanz, ohne, dass man die Personen zuordnen kann. Mann und Frau, das will uns die Choreografin Cathy Marston damit sagen, passen nicht immer auf Anhieb zusammen.
Ob das in ihrer eigenen privaten Partnerschaft, die mit zwei Kindern gesegnet ist, auch so war, wissen wir nicht. Aber wir wünschen allen, die zuschauen oder hier lesen, einen einfachen Wege der Liebe.
Die Titelheldin Jane Eyre, und sie ist natürlich die Frau im Prolog, hat es nicht leicht. Schon gar nicht als Kind. Auf einem düsteren Friedhof tanzt das Mädchen zwischen stilisierten Grabsteinen, rast, wälzt sich, zuckt am Boden, tobt ihren Schmerz aus. Im Hintergrund verhandeln die reichen Verwandten, wohin sie das Kind abschieben können.
Herzzerreißend tanzt Anna Torrequebrada die junge Jane, die mit kindhafter Stärke ihrem schweren Schicksal begegnet.
Die choreografische Sprache der in England geborenen und in der Royal Ballet School in London ausgebildeten Cathy Marston, die jahrelang in der Schweiz als Tänzerin wirkte und seit kurzem Ballettdirektorin in Zürich ist (mit Staatsbürgerschaft der Schweiz), ist irgendwo zwischen John Cranko und Contemporary Dance angesiedelt. Mal denkt man an „Der Widerspenstigen Zähmung“, mal an typischen Gymnastik-Tanz.
Außerdem findet Marston prägnante Gesten, die keine Missverständnisse zulassen. Liebeserklärungen und Heiratsanträge funktionieren hier über das Auflegen der Hand auf die Brust. Und wenn jemand herumkommandieren will, streckt er im Sitzen sein Bein vor. Als wäre es ein stilisierter Tritt.
Insofern ist es ein verständlicher, den Roman schlüssig interpretierender Ansatz der tänzerischen Arbeit.
Was jedoch fehlt, ist der gesellschaftliche Hintergrund. Alles ist bei Marston auf die beiden Hauptpersonen konzentriert, und als märchenhafter Wandelpfad aus der Armut der Titelfigur funktionieren ihre Liebe und Güte. Der Unterbau dieser Gesellschaft, das, was sie zusammenhält, das, was in ihr brodelt – all das bleibt ausgespart. Nur die Stimmung ist häufig melancholisch bis gespenstisch, dabei so britisch unterkühlt, dass es einen gruselt.
Eine Horde junger Männer in modisch geschnittenen, sehr eng anliegenden grauen Jeansanzügen, so genannte „D-Men“, fungieren als Lückenbüßer. Sie ersetzen Dienstboten, Arbeiter, Bettler, Betende, Flaneure und Traumfiguren, ja sogar Geister. Für Jane sind sie eben einfach da, um mit ihnen zu tanzen, wenn sonst nichts ansteht. Aber es ist die Frage, ob es wirklich schlüssig ist, dass diese Männer Janes „innere Dämonen“ sein sollen, wie Cathy Marston behauptet.
Warum sollte ausgerechnet die tapfere Jane innere Dämonen haben? Und warum sollten die dann auch noch lauter nette Jungs sein, die sie freundlich hochheben und weder ihr noch anderen schaden? Dämonen sind etwas ganz Anderes, und es ist ein bisschen schade, wenn man das Gefühl hat, eine hochbezahlte Künstlerin erzählt mal eben was, das sich gut anhört, ohne es einlösen zu können. Da sieht man doch, dass Marston lediglich auf Erfolg aus ist und ihre künstlerische Intention begrenzt ist.
Auch das Etikett „feministisch“, das Marston ihrem Jane-Eyre-Ballett aufklebt, passt so gar nicht. Weder zur Romanvorlage noch zum Ballett. Denn die Pas de deux sind ziemlich konventionell konstruiert, der Mann alleine bestimmt hierin die Aktivitäten. Auch die Handlung bestätigt nur den Charakter des Cinderella-Märchens. Emanzipation? Fehlanzeige.
Im Gegenteil: Das Frauenbild hier gehört wirklich ins 19. Jahrhundert. Eine Gegenspielerin hat Jane in der rasanten Blanche, die von Anna Laudere mit ihren verführerischen Beinen hervorragend verkörpert wird. Die reiche Dame könnte Jane das Lebensglück noch ganz vermasseln, muss man befürchten – aber da ändert sich schon die emotionale Wetterlage im Stück.
Gefühle für Adèle, das Mündel, dessentwegen Jane überhaupt in Rochesters Haushalt kam (und das von einer Ballettschülerin getanzt wird), spielen allerdings null mit. Armes Kind. Eigentlich wirkt es hier wie von seinem Vormund verstoßen, und am Ende ist von ihm gar keine Rede mehr. Huch? Wo bleibt die Drehbuch-Logik? Sind Muttergefühle bei den Anhängern von Jane out?
Oder ist Adèle, weil unehelich geboren, nun mal nichts wert? Schlimm. Jane scheint plötzlich gar nicht mehr warmherzig und gütig. Sondern sie ist nur noch mit sich und ihrem sexuellen Begehren beschäftigt.
Die Musik bekräftig die erotischen Belange: mit romantischen Musiken von Franz Schubert und Fanny Hensel, der Schwester von Felix Mendelssohn Bartholdy, von Mendelssohn selbst sowie vom heutigen Zeitgenossen Philip Feeney, der für die schrägen, unbequemen Klänge zuständig ist.
Nathan Brock dirigert das Philharmonische Staatsorchester Hamburg mit traumwandlerischer Sicherheit. Ein Teil der Liebesgeschichte hier ist darum glattweg zu hören.
Doch noch bevor Jane ihren Rochester heiratet, wird sie erstmal durch eine wundersame Erbschaft selbst reich, damit sie ihrem künftigen Mann auf Augenhöhe begegnen kann. Welch ein Zufall wieder mal…
All das ist fast ein Absturz in triviale Untiefen, entspricht aber auch der literarischen Vorlage. Und als wäre das nicht genug, erblindet Rochester auch noch, bei einem Großbrand, der ihm sein Anwesen raubt, aber er gewinnt dank der ihn liebenden Jane einen Teil seines Augenlichts zurück. Hollywood hat hier wohl viel gelernt.
Bei diesem Ende mit bürgerlichem Familienglück sind wir aber noch längst nicht. Und als Kind, also im ersten Teil des Stücks, leidet die junge Jane über alle Maße.
Abgeschoben ins Internat, wird sie von einem willkürlich grausamen Direktor (sehr toll dargestellt von Matias Oberlin) gequält. Ihre beste Freundin (Greta Jörgens) steht ihr bei, bis sie stirbt. Jane tanzte mit ihr eben noch nachts zum Trost von Mädel zu Mädel, legte sich dann neben sie zum Schlafen auf den Boden – und erwacht mit der Verstorbenen unter der Decke an ihrer Seite. Ein Schock.
Ab hier übernimmt dann Ida Praetorius die Rolle der Jane, weil sie jetzt, unter dem Druck der Verhältnisse, ganz schnell erwachsen werden muss.
Als Engel aus der Zukunft schaute sie ohnehin schon der jungen Jane beim dramatischen Agieren von einer oben gelegenen Plattform aus zu.
Tatsächlich schafft es Jane alsbald, sich zur Lehrerin hochzuarbeiten. So kann sie eine Stellung als Gouvernante annehmen, für das Mündel des reichen Rochester. Letzterer, ein attraktiver Mann, residiert als arroganter Platzhirsch auf seinem Anwesen, wo er allerdings ein trauriges Geheimnis bewahrt.
Der schöne Karen Azatyan tanzt diese Partie mit großer Souveränität: betont maskulin, auch mysteriös, mit einer großartigen Ausstrahlung. Durch das Interesse an Jane, die er zunächst kaum wahrzunehmen scheint, verändert er sich, eine offenbar schon im 19. Jahrhundert beliebte Klischeevorstellung: Der harte Mann zeigt seinen weichen Kern, sowie die Liebe ihn trifft.
Wer soll noch an solche verlogenen Märchen glauben? Alle, die der Realität entfliehen wollen und dabei eben auch mal bei einem Roman, Film oder Ballett mit dezenter Kitschzulage landen möchten. Sie sind hier genau richtig.
In der Realität sollte man allerdings wissen: Menschen, die grausam oder herrschsüchtig sind, ändern sich nicht, nur weil man sie liebt oder weil sie sich verlieben. Im Gegenteil. Je mehr Zucker man dem Affen gibt, desto äffischer führt er sich auf. Logo. Es gibt auch Schriftsteller, die das wissen. Die Pfarrerstochter Charlotte Brontë gehörte nicht dazu.
Ihr Leben selbst verlief übrigens tragisch, starb sie doch ein Jahr nach ihrer Hochzeit an schwangerschaftsbedingtem unstillbaren Erbrechen. Sie hätte stärker auf ihre innersten Wünsche hören sollen, statt die Zweckgemeinschaft mit ihrem Gatten einzugehen.
Aber schon ihr Roman „Jane Eyre“ glänzt nicht gerade durch Tiefsinn. Er ist ein typisches Exzerpt biedermeierlicher Wunschgedanken: prima zur reinen Unterhaltung, aber schlecht, wenn man von Kunst mehr verlangt.
Genau deshalb wohl wurden der erfolgreiche Film und fünf Jahre später dieses Ballett gemacht. Täuschen wir uns nicht über die Absichten unserer ehrenwerten Künstler: Sie wollen oft vor allem Geld und Erfolg, und eine inhaltliche Intention haben sie heutzutage eher selten.
Die Idee zu diesem Stück hatte übrigens nicht Cathy Marston selbst, sondern David Nixon, der damalige Direktor vom Northern Ballet im britischen Leeds. Für ihn hatte Marston schon zwei Stücke gemacht, und 2015 rief er sie an und fragte, ob sie für ihn „Jane Eyre“ kreieren wolle.
Nixon, ein erfahrener Mann, spekulierte nach dem Publikumserfolg der Verfilmung von 2011 wohl auf einen ballettösen Kassenschlager. Und tatsächlich wurde „Jane Eyre“ ein Erfolg, und auch das Joffrey Ballet in Chicago – wo John Neumeier zuletzt seine Ballettoper „Orphée et Eurydice“ kreierte – übernahm das Stück ins Repertoire.
Neumeier dürfte es über seine Verbindungen nach Chicago für sich entdeckt haben.
Jedenfalls rief er Cathy Marston letztes Jahr an, ohne sie persönlich zu kennen, und fragte sie, ob sie ihre „Jane Eyre“ auch in Hamburg einstudieren wolle. Sie wollte. Und sie brachte außer David Nixon – der mittlerweile im Ruhestand lebt – noch drei weitere Coachs für die Arbeit mit.
Fünf hochbezahlte fachkundige Menschen plus unzählige Videos – mit diesem Aufwand hätte man wirklich mehr als nur dieses eine Tanzstück einstudieren können. Es ist nicht besonders kompliziert choreografiert, im Gegenteil. Aber es sollen eben heutzutage bei solchen Gelegenheiten möglichst viele gute Kumpels mitverdienen, wenn ein millionenschweres staatliches Haus dafür bezahlt.
Das wird auch durch eine zweite Besetzung, die angekündigt ist, nicht gerechtfertigt. Madoka Sugai und Alexandr Trusch brauchen ganz sicher keine fünf Leute zusätzlich zu den hauseigenen Ballettmeistern, um diese Tänze zu lernen.
Früher hätte man das Protektion genannt, so viele Leute einfach mit Luxus-Jobs zu versehen. Heute sehen alle stillschweigend darüber hinweg und genießen es, sich ganz großartig miteinander zu fühlen.
Jedenfalls ist „Jane Eyre“ kein großes Meisterwerk, sondern eine hübsche, aber bescheidene Arbeit. Die Choreografie entstand in sieben Wochen – und so sieht sie auch aus. Etliche tänzerische Leerstellen sind mit motivlosem Gehen, Stehen, Laufen angefüllt.
Der Ausstatter Patrick Kinmonth sorgt aber für starke Effekte. Die Kostüme, eine Mischung aus historisch inspiriert und modern gepeppt – so tragen die Damen Gymnastik-Shorts unter den beim Tanzen hochfliegenden Kleidern – schmeicheln den Körpern und verwöhnen das Auge des Zuschauers.
Das Bühnenbild ist reduziert, das Licht von David Finn spielt darin mit viel Düsternis.
Oft gibt es zwei Spielebenen: vorn, rampennah, und weiter hinten, etwas erhöht.
Der Höhepunkt der Handlung ist das Feuer, das Rochesters zuvor weggesperrte geisteskranke Ehefrau (furios in der Partie: Ida Stempelmann) legt. Beim Versuch, sie zu retten, verliert Rochester sein Augenlicht – und seine Frau stirbt.
Dass Rochester zuvor versuchte, seine Ehe insgesamt zu verheimlichen und Jane zu heiraten, macht aus ihm nicht gerade einen Ehrenmann. Auch sein Angebot, mit ihm im sonnigen Italien ohne Trauschein zu leben, lehnte Jane nach der geplatzen Hochzeit mit ihm ab. Ganz umsonst will sie ihre Moral dann doch nicht haben.
Als das Feuer ausbricht, lebt Jane schon bei Verwandten, die sie ganz zufällig und nachgerade wundersam während ihrer gefühlsbedingten Flucht vor Rochester fand. Ein Pfarrer (Christopher Evans) bot ihr Zuflucht und nahm sie bei sich und seinen beiden Schwestern auf. Prompt stellen sie sich als Cousin und Cousinen von Jane heraus. Holla, was für eine Anhäufung von absolut unwahrscheinlichen Zufällen in diesem Stück! Da hat die Choreografin auch nicht gerade entrümpelt, was sie ja hätte tun können.
Fehlt eigentlich nur noch die Blutsverwandtschaft mit einem Regenten. Ganz so weit geht Charlotte Brontë mit ihren Erfindungen nicht, aber Jane erweist sich als unglaubliches Abbild christlicher Nächstenliebe.
Als Jane nämlich ihre unverhoffte Erbschaft macht, teilt sie diese mit ihren Rettern. Der Pfarrer will sich sofort damit seinen Lebenstraum erfüllen und als Missionar nach Indien gehen. Er drängt Jane, ihn zu ehelichen und mitzugehen. Wie skurril.
Erst unter diesem Druck merkt Jane endlich, dass sie ihre Liebe zu dem komplizierten Macho Rochester nicht länger unterdrücken muss. Sie fasst all ihren Mut zusammen, reist zu ihm, findet ihn erblindet, auch abwehrend, aber sie kann ihn von ihrer Liebe überzeugen. Am Ende liegt seine Hand auf ihrer Brust und ihre Hand auf der seinigen. Einfach, aber schön hingestellt. Und Jane tritt vor, schaut ins Publikum und sagt stumm: Jetzt bin ich da, wo ich hingehöre. Na, das ist doch was!
Gisela Sonnenburg / Anonymous