Sechs Minuten Sex Ein Höhepunkt beim Bayerischen Staatsballett mit „Le Parc“ von Angelin Preljocaj

"Le Parc" von Angelin Preljocaj

Madison Young im fliegenden Kuss mit Julian MacKay: Höhepunkt von „Le Parc“ von Angelin Preljocaj beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Nicholas MacKay

Ein Paar findet sich langsam, aber unausweichlich. Der erste Kuss verschreckt die junge Dame noch, aber einige Szenen später wird sie sogar von sich aus aktiv. Schließlich legt sie die Arme um seinen Hals, knutscht ihn und lässt sich von ihm zum Fliegen bringen – indem er sich um die eigene Achse dreht und seine Geliebte, die ihn weiterhin küsst, wie eine Fahne in der Luft wehen lässt. Der Effekt dieses „fliegenden Kusses“ im 1994 kreierten Stück „Le Parc“ von Angelin Preljocaj ist weltberühmt und unnachahmlich genial. Viele Galas schmückten sich schon mit diesem schwer erotischen Clou eines Pas de deux. Letzterer dauert insgesamt sechs Minuten und stellt im Grunde puren Sex dar. Bei jeder Aufführung von „Le Parc“ ist diese Szene der absolute Höhepunkt. Zudem aber bildet das ganze Stück in München einen Höhepunkt, und zwar in der Ära von Laurent Hilaire als Ballettdirektor vom Bayerischen Staatsballett. Hilaire hat das Stück mit uraufgeführt, als Startänzer an der Pariser Opéra. Er selbst wurde damit berühmt, und das verdankt er Choreograf Preljocaj. Jetzt hat Hilaire, zusammen mit Naomi Perlov, sein damaliges Erfolgsstück beim Bayerischen Staatsballett einstudiert – und mit Julian MacKay und Madison Young eine brillante Premierenbesetzung des getanzten Softpornos gefunden. Das Publikum gestern abend im Nationaltheater war begeistert, auch wenn der einstige Meilenstein in der Ballettgeschichte hier und da schon etwas Staub angesetzt hat.

Fangen wir mit den schlechten Nachrichten an, um dann auch zu den guten zu kommen:

Was Mitte der 90er-Jahre im modernen Ballett revolutionär schien, nämlich die Konzentration auf die Frage nach der gelebten Sexualität, wirkt heute ein wenig reaktionär. Denn Preljojac gelang es nicht, eine tanzende Gesellschaft mit erkennbaren Charakteren zu erschaffen. Vielmehr wirken die Akteure austauschbar und beliebig, gerade auch das Liebespaar, um das es an diesem Abend vorrangig geht. Das ist das erste Manko des Stücks.

Das zweite besteht in den Längen, die sich dadurch ergeben, dass Preljocaj pro Szene genau eine Idee hat, die originell und hübsch ist, die aber an Reiz dadurch verliert, dass der Choreograf sie zu oft wiederholen lässt.

"Le Parc" von Angelin Preljocaj

Die vier „Gärtner“ in Aktion: auf dem Parkdeck oder im Park? Wer weiß… „Le Parc“ lässt manchmal rätseln. Foto vom Bayerischen Staatsballett: Serghei Ghericu

Drittens tanzen die Tänzerinnen und Tänzer des Corps de ballet zwar häufig wunderhübsch synchron, aber ohne in eine prickelnde Interaktion zueinander zu kommen. Das liegt nur an der Choreografie, nicht an der Einstudierung oder an den Tänzern. Diese folgen den Anweisungen: Wie aufgezogene Automaten hopsen sie akkurat in Reih und Glied.

Vieles davon sieht wie Ballett ohne Einwärts-Doktrin aus, und es ist gut möglich, dass sich Sasha Waltz (falls sich noch jemand an sie erinnert) von diesem Werk die Inspiration für einige ihrer eigenen Stücke holte.

Das Bewegungsvokabular schwankt jedenfalls zwischen Klassik und Zeitgenössischem, und Preljocaj tat gut daran, nicht auf die grandiosen technischen Möglichkeiten, die Balletttänzer haben, zu verzichten.

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Zu Beginn wähnt man sich dennoch fast in einem Stück von Marco Goecke. Düster ist es, es ist auf der Bühne spät am Abend, und im Hintergrund ragen stilisierte Bäume mit Pyramidenform in den nächtlichen Himmel. Der Stimmung nach könnte man sich aber trotz eingespielten Amselgesangs auch auf einem Parkhausdeck befinden statt im Park („Le Parc“). Denn die Natur scheint hier fern zu sein, sehr fern. Die zu Pyramiden geschnittenen Bäume könnten glatt Hochhäuser am Horizont sein.

Dafür tanzen vier Männer in schwarzen Latexhosen mit Brustschurz, zudem mit maskenähnlichen schwarzen Brillen ausgestattet, in seltsam eckigen  Bewegungsmustern. Es sollen Gärtner sein – aber sie stehen hier im Stück vor allem für die Masse der arbeitenden Bevölkerung. Ob sie Feierabend haben oder noch die letzten Setzlinge vorbereiten, bleibt der Fantasie des Zuschauenden überlassen. Aber eines steht fest:

Der Wohlstand, den sie erwirtschaften, kommt der Oberschicht zugute.

Die tanzt in der Haupthandlung des Stücks. Es ist eine höfische Gesellschaft aus dem Barock oder Rokoko, die sich jetzt ein Stelldichein gibt. Prunkvolle Kostüme – in München übernahm man die edlen Entwürfe der Uraufführung von Hervé Pierre – sorgen immer wieder für Ahs und Ohs, für echte Hingucker, die das Auge ausgiebig verwöhnen.

"Le Parc" von Angelin Preljocaj

Exzellent tanzt das Corps de ballet vom Bayerischen Staatsballett die Mischung aus Klassik und Zeitgenössischem in „Le Parc“ von Angelin Preljocaj. Foto: Wilfried Hösl

Im ersten Teil sind auch die Damen in wadenkurze Hosen zum Barockjackett gewandet, und auch ihnen baumelt der Mozartzopf übern Rücken. Sie sind hier noch Backfische, Kindfrauen, nicht Fisch noch Fleisch, jungsähnliche aparte Wesen.

In hellen Aquarellfarben hüpfen die jungen Frauen, in Schwarz und Bordeauxrot gekleidet tun es die Herren. Links die Frauen, rechts die Männer. Dann tauscht man mal. Man nähert sich an, spielt und tanzt füreinander – und dividiert sich wieder auseinander.

Wir sehen eine Gesellschaft, die keine Sorgen hat – und sich schier zu Tode langweilt. Einzige Ablenkung darin: das erotische Spiel, das Streben des Sexus.

Es wird zudem viel hin- und hergeschlendert, sich gegenseitig begafft und angestarrt – und auch Julian MacKay (der in der Zweitbesetzung von dem sprungstarken Jinhao Zhang ersetzt werden wird) nimmt den ersten Blickkontakt zu seiner Erwählten auf (in der Zweitbesetzung wird dann die holde Maria Baranova tanzen.

Am Ende, beim großen Kuss-Pas-de-deux, sind beide Liebende zwar nicht nackt, tragen aber jeweils ein weißes, rüschenblusenähnliches Hemd. Und: Sie tanzen dann barfuß, als Sinnbild ihrer ursprünglichen, unverstellten Gefühle füreinander.

"Le Parc" von Angelin Preljocaj

Laurent Hilaire, der erste Küssende in „Le Parc“, coacht hier sein Bayerisches Staatsballett in dem Stück. Foto: Carlos Quezada

Laurent Hilaire, der seine Partie damals mit Isabelle Guérin tanzte, verlieh der Rolle von Beginn bis Ende viel Coolness, eine männliche Vornehmheit – und er zeigte nicht so viel offene Leidenschaft, wie man es vielleicht erwarten könnte. Julian MacKay darf sich da mehr austoben und sowohl äußerst lyrisch-zart als auch deutlich passioniert und temperamentvoll agieren.

Madison Young wiederum brilliert hingebungsvoll als langsam, aber sicher zum Blühen erbrachte junge Liebhaberin. Ihre Sanftheit ist einfach unübertrefflich und gerade auch in den abwehrenden, völlig überraschten Gesten glaubhaft.

"Le Parc" von Angelin Preljocaj

Kuss und Liebemachen – in „Le Parc“ gehört das zusammen. Madison Young und Julian MacKay vom Bayerischen Staatsballett im berühmten Schluss-Pas-de-deux von Angelin Preljocaj. Foto: Nicholas MacKay

Ihre Entwicklung ist klar: vom keuschen, etwas ängstlichen Mädchen zur geilen Frau, die gar nicht genug bekommen kann. Das ist eine klassische Männerfantasie, die nur leider aus Frauensicht ein bisschen altmodisch wirkt.

Dafür bringt jeder Traum, in dem diese erwachende Schönheit dem Gärtnerquartett begegnet – also endlich mal Männern ohne alte Zöpfe – sie näher an ihre sexuelle Selbstverwirklichung.

Das Corps de ballet folgt ihrer Entwicklung, macht sozusagen alles (bis auf den Schluss-Pas-de-deux) brav nach. Das ist ein Konzept aus dem 18. Jahrhundert und nicht besonders fortschrittlich. Der Absolutismus beruht darauf, dass es keine Unterschiede in den Wertigkeiten bei den verschiedenen sozialen Schichten gibt: Die Obrigkeit hat immer recht. Aber muss ich küssen, nur weil die Reichen es gerade tun?

"Le Parc" von Angelin Preljocaj

Sexy Outfits gibt es zur Genüge in „Le Parc“ – und manchmal messerscharfe Erotikszenen. Foto vom Bayerischen Staatsballett: Wilfried Hösl

Immerhin ergeben sich so ansehnliche Szenen, die fast schon nicht mehr jugendfrei sind. So knutschen mehrere Paare wie auf Befehl im gleichen tänzerischen Modus, leidenschaftlich an jeweils eine Steinsäule gepresst.

Das Spielerische, Sinnliche, Aufgeladene des Barock transportiert sich hier dennoch nur teilweise. Fast verklemmt mutet die gelangweilte Gesellschaft vor allem im ersten Teil an, wenn ihre Mitglieder, statt miteinander zu kommunizieren, ihre Metallstühle immer wieder knallend abstellt.

Auch das Niedliche, das Raffinierte, auch das mitunter Scheinheilige des Barockzeitalters fehlt hier. „Pflücke den Tag!“ – diese Devise galt ja nicht nur im sexuellen Bereich, ebenso das mahnende Motto vom „memento mori“.

In Mozarts Musik ist all das enthalten. Aber auf der Bühne müssen allzu oft die Kostüme den Gehalt des tänzerischen Geschehens ersetzen.

Tanzten zunächst noch alle in barocken Schnallenschuhen auf kleinem Absatz, gibt es später auch Spitzentanz. Dazu tragen die Damen dann aber keine ausladenden Reifrockroben mehr, sondern nur noch Unterrock mit Mieder, in Wäscheweiß, wodurch sie noch aufreizender wirken sollen.

Da erinnert manches an Stücke von Jiri Kylián, etwa an seinen 1991 entstandenen „Petit Mort“, der ebenfalls mit dem lustbetonenden Barocktopos spielt.

Die Herren tanzen zudem virtuos Pas de six, mit vielen Battus und Arabesken – ach, dürften sie doch Menschen darstellen und nicht Tanzautomaten! Da ist durchaus Potenzial für einen ganz großen Abend…

"Le Parc" von Angelin Preljocaj

Madison Young bei der stilvollen Liebessehnsucht: in „Le Parc“ von Angelin Preljocaj beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Nicholas MacKay

Zumal die Musik mit erlesenen Stücken von Wolfgang Amadeus Mozart wirklich bezaubert. Koen Kessels dirigiert das Bayerische Staatsorchester mit viel Gefühl: fein, wie ziseliert, betont ausdifferenziert erklingen die verspielten, ja verschnörkelten und dennoch glasklar wirkenden Kompositionen.

Auch der Pianist Dmitry Mayboroda erquickt mit einer ausgewogenen Balance zwischen Technik und Emotion.

Jeweils zu Beginn der drei Akte dürfen die vier Gärtner sich zeigen, in unverändertem Outfit. Mal zu elektronischer Musik, mal zum Toktok eines Metronoms im Adagio. Glaubt Preljocaj wirklich, dass die Arbeiter uns die Moderne bringen? Verwechselt er da modern und trivial?

Doch die beiden Welten mischen sich, die des Barock und die der Gärtner-Gegenwart. Madison Young lässt sich dann somnambul verführen, im Schlaf heben und erheben, herumwirbeln und bewundern, gleichsam zur Göttin und Lockpuppe machen.

Es steckt viel Liebe zum Detail in diesem Stück, und das ist es, was letztlich mitreißt und begeistert.

"Le Parc" von Angelin Preljocaj

Julian MacKay in „Le Parc“ von Angelin Preljocaj: lyrisch, aber auch sehr dynamisch. Foto vom Bayerischen Staatsballett: Nicholas MacKay

Julian MacKay hat ein wildes, auch wild entschlossenes Solo, als er merkt, dass seine Auserwählte nicht leicht zu haben ist. Fabelhaft zeigt er es, mit seinem niedlichen Gesicht sowohl ein verwöhnter Balg als auch ein angestachelter Liebender.

Seine Partnerin Madison Young ist ebenfalls ein selbstbewusstes Persönchen, mit viel Eigensinn in dieser Rolle, was der getanzten Affaire ihre Pikanterie verleiht.

Wenn dann im Takt mit dem Corps de ballet begrapscht und geknutscht werden muss, verliert der Eros allerdings seinen Charme. Da wirkt doch manches zu einfach zusammengeschustert.

Den Epilog, das letzte Wort, haben die Gärtner. Die Nacht ist vorbei. Vogelzwitschern, Kinderrufe – es ist akustisch die Stimmung eines Sommermorgens. Der Vorarbeiter hebt den Arm, reckt ihn in die Höhe, streckt den Zeigefinger steil hoch – auf geht’s in einen neuen Tag!
Gisela Sonnenburg / Anonymous

https://www.staatsoper.de/staatsballett

"Le Parc" von Angelin Preljocaj

Der fliegende Kuss auf der Probe: Madison Young am Hals von Julian MacKay beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Nicholas MacKay

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