Man erkennt sie an ihren Füßen. Wenn Hélène Bouchet mit ihren enorm schönen, mit dem hohen, schlanken Spann ganz dem ballettösen Ideal entsprechenden Füßen über den Tanzboden der Hamburgischen Staatsoper trippelt, auf die Knie geht und vornehm wieder aufsteht, schauen viele Fans wie gebannt auf ihre besten Stücke. Die Spitzenschuhe. Hélènes Füße darin wirken zart und elfenartig, stark und mächtig. Die Unterseite des Fußes ergibt, dem Ideal entspreched, eine sichelförmige Biegung. Die Biegung des Oberfußes – der „Spann“ – ist kräftig, der Mittelfuß wirkt aber dennoch lang. Jede Tänzerin hat hier eine etwas andere Kurvigkeit, mit trainierter Fußschönheit, die vor allem bei den Tendu-Übungen gereift ist. Der Primaballerina Hélène Bouchet helfen die schönen Füße nicht nur, wenn sie den Boden berühren, sondern auch in der Luft, bei Sprüngen und Hebungen. Verleiht der Fuß doch dem ganzen Bein und somit auch der gesamten Figur eine besonders schöne Anmutung.
Autonom, sexy, mondän ist die sanfte weibliche Erhebung mit Spitzenschuhen. Hélène hat einen langen Vorderfuß, was ihrer „Fußkurve“ den besonderen Kick verleiht: Der höchste Punkt der ausgeprägten Rundung ihres gestreckten Fußes liegt weit oberhalb der Fußmitte. Wenn sie sich „sur le pointe“ bewegt, im Spitzentanz, sieht es aus, als würde sie schweben. Kaum zu fassen, daß der Fuß nur auf der großen Zehe steht. Tut er auch nicht. Beim Spitzentanz wird das Gewicht auf die Zehen und den Mittelfuß verteilt, es heißt ja nicht „Fußnageltanz“ oder „Großer-Zeh-Tanz“.
Vor allem muß das Schuhwerk passen wie eine zweite Haut. Maßgeschneidert reicht oft nicht, weil Füße sich verändern: Mal sind sie leicht geschwollen, dann wieder dünn. Auch was und wie die Tänzerin gerade arbeitet, spielt eine Rolle. Darum steckt sie viel Näharbeit in ihr Fußwerkszeug. Rund 150 Paare „vertanzt“ eine Profi-Ballerina pro Saison, manchmal mehrere pro Ballettabend. Wöchentlich stichelt und sägt, klebt und lackiert, hämmert und schnippelt sie viele Stunden an den handgefertigten Schuhen aus Leder, Leinen, Fiber und Seide herum.
Manche machen eine richtige Wissenschaft daraus. Schon die Auswahl des Fabrikats, der Größe, der Weite, der Härte und Beschaffenheit der Sohle ist mitunter eine delikate Angelegenheit. Da gibt es große Unterschiede. Am wenigsten Auswahl haben Tänzerinnen mit breitem Mittelfuß: Im Trend liegt eine Optik à la Hélène Bouchet, und Frauen mit deutlich breiteren Mittelfüßen werden entsprechend weniger gut vom Angebot der den Trends hinterher hechelnden Herstellern bedient.
Dabei gibt es durchaus neben dem hohen Spann auch noch das Ideal von der kürzeren, dafür weniger kapriziös aussehenden Fußlinie. Ida Praetorius etwa (siehe home-Topbeitrag „Ein glamouröser Preis mehr“ im ballett-journal.de), die eine hoch begabte und noch blutjunge Primaballerina in Kopenhagen ist, hat im Gegensatz zu Hélène Bouchet einen eher flachen Spann, sieht damit beim Tanzen aber auf ihre Art auch weiblich, anmutig, sexy aus.
Ballettomane wissen es ohnehin zu schätzen, dass kein Körper und kein Ballerinenspitzentanz wie der andere ist. Die Vielfalt steigert da das Vergnügen beim Ansehen und Vergleichen.
Ein delikates Extrem verkörperte einst die legendäre französische Ballerina Yvette Chauviré. Ihre Spitzenschuhe hatten einen kurzen Vorderteil und liefen extrem spitz zu – Chauvirés Zehen waren vermutlich nicht möglichst gleich lang, was das Ideal für Spitzentanz ist. Die Schuhe von der in London, Hamburg und weltweit tanzenden Alina Cojocaru bieten hingegen eine besonders große Breite im vorderen Bereich: auf der solchermaßen verhältnismäßig großen Spitzenfläche findet die Tänzerin viel Halt für lange Balancen.
Hier ist die Fußform entscheidend: Wenn ein Schuh passt, wird er oft als angenehm empfunden. Sind die Boxen, die Vorderteile der Schuhe, dennoch zu hart, wird eine Socke drübergestülpt und zum Hammer gegriffen. Weichgeklopfte Schuhe erlauben dem Fuß dann ein eher druckfreies Auftreten darin.
Um die Zehen vor Blasen und Druckstellen zu schützen, benutzt Hélène Bouchet außerdem etwas Noppenfolie. Andere nehmen Silikonkäppchen, noch andere Toilettenpapier, Taschentücher, Einmal-Putztücher, Papierwaschlappen oder andere Zellstoffe. Da gibt es Tricks ohne Ende – und manche steigen sogar ganz ohne Zehenschutz in ihre eleganten Arbeitsschuhe.
Jenni Schäferhoff etwa, die beim Semperoper Ballett tanzt, hat es von ihrer Lehrerin von der Staatlichen Ballettschule Berlin so gelernt, dass der Kontakt einer Künstlerin zum Tanzgrund am besten sei, wenn die Zehen ohne druckdämmende Schutzhülle im Schuh stecken. Auch Joelle Boulogne, die bis vor einigen Jahren Primaballerina beim Hamburg Ballett war, legte sich lieber reichlich Hornhaut auf den Hauptbelastungspunkten an den Zehen zu, als Watte oder Käppchen zu verwenden. Sylvie Guillem, die französische Starikone des Balletts, die noch von Rudolf Nurejev entdeckt worden war und vor wenigen Wochen ihren Bühnenabschied nahm, benutzt hingegen Klebeband, um einzelne Zehen vor dem Tanzen zu „verpflastern“ und in der richtigen Stellung zu fixieren.
Auch wo man die Bänder, die den Schuh am Fuß halten sollen, anbringt, ist eine diffizile Sache. Weiter vorn oder weiter hinten? Am Ansatz schräg oder gerade? Sollen zusätzliche Gummibänder die Schuhferse am Fuß befestigen? Und um die Kniffelei wörtlich auf die Spitze zu treiben: Klebt die Ballerina vorn auf die Spitze, auf der sie dann tanzen will, Lederflicken auf oder belässt sie es beim seidigen Stoffüberzug?
Da haben auch die Ballettbosse ein Wörtchen mitzureden – viele Choreografen, Lehrer und Direktoren mögen keine Lederspitzen und verdonnern die Tänzerinnen zum Rundumnähen und „Behäkeln“ der Spitzen, damit sie nicht auf dem glatten Stoff ausrutschen. Auf den Bühnen gehören die „pointe shoes“ außerdem zum Kostüm. Da spielt dann die Farbe eine Rolle, nicht immer ist einheitliches Lachsrosé gefragt. Und John Neumeier etwa verlangt für viele Stücke zudem mattierte Schuhe: mit Puder und Make-up wird den Spitzenschuhen dann der reflektierende Taftglanz genommen.
Alte Spitzenschuhe werden (sofern sie nicht signiert als Sammlerstück bei einem Fan landen) „ausgeschlachtet“ und als „Schläppchen“, also als Tanzschuhe ohne Spitzentanzmöglichkeit, weiter verwendet. Die Sohle eines Spitzenschuhs besteht ja auch etlichen Schichten – manche Ballerina operiert schon als erstes, wenn sie den Schuh für sich präpariert, Teilsohlen heraus, um sich geschmeidiger darin bewegen zu können.
Junge Tänzerinnen müssen ihren Weg zum optimalen Spitzenschuhtanz oft erst mühselig auspropieren. Und viele Laien stehen gar wie der Ochs vorm Berg in den einschlägigen Geschäften oder vorm Online-Sortiment – und sind auf eine gute Fachberatung angewiesen.
Guten Rat erteilt die ehemals an der Komischen Oper in Berlin als Erste Solistin engagierte Angela Reinhardt, die nicht identisch mit der gleichnamigen Kritikerin ist. In ihrem Buch „Der passende Spitzenschuh“ erklärt die ehemalige Tänzerin, welcher Schuh zu wem passt. Allerdings handelt sie nicht die heute handelsüblichen Fabrikate ab. Durch das faktisch erhältliche Sortiment muss sich eine angehende Spitzentänzerin und Leserin des Buches schon selbst durchwursteln. Es gibt nämlich, von den englischen Schuhen der Marke Freed (sehr kompatibel) über die amerikanischen Capezio (gut auch für breite Füße) bis zu den russischen Grishko (besonders starke Sohlen) auch kleinere Label (wie den französische Anbieter Merlet), die es lohnen, anprobiert zu werden. Das Fabrikat Gaynor Minden zeichnet sich dabei durch synthetische Sohlen statt Ledersohlen aus – nicht für jeden Geschmack passend, aber immerhin eine Novität.
Die Hilfen, die Angela Reinhardt liefert, sind ganz praktischer Natur und entstammen ihrer subjektiven Erfahrung als Profiballetttänzerin. Geduldig beschreibt sie zum Beispiel, wie die zu Anfang harten Schuhsohlen vor dem Trainingsbeginn weicher gemacht werden können und wie die Dauer, sie sachgerecht zu nutzen, mit Schellack verlängert wird. Mit Nadel und Faden werden außerdem die Bänder angenäht – und seitlich am Schuh werden ebenfalls mit Nähtechniken (oft im Kreuzstich) die Falten beseitigt. Manch ein Schuh wird einer regelrechten „Umoperierung“ unterzogen. Und so hehr und anmutig die Schuhe auch anmuten – O-Ton Reinhardt im Interview mit mir: „Spitzenschuhe sind nicht heilig, sondern müssen bearbeitet werden.“
Heute gilt der Spitzenschuh als typisch weibliches Accessoire. Durch die Choreografien seit dem 19. Jahrhundert wird er für sanft-schwebende Effekte verwendet, und die typische Erotik, die von einer spitzentanzenden Ballerina ausgeht, steht seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts – als das Ideal von fettfreier Magerkeit aus der Modewelt in die des Balletts überschwappte – oft in reizvollem Widerspruch zu ihrer etwaig androgynen Figur.
Die ersten Schritte „auf Spitze“ machten dennoch Männer. In der russischen Folklore, ohnehin dem Ballett nicht unähnlich, gibt es – als deliriumsartig mit wie berauscht dargebotenem Höhepunkt – das männliche Springen auf die umgeknickten Zehen bei gestrecktem Fuß.
Ohne Spitzenschuh. Das sieht toll aus, verleiht animalisches Flair – aber selbst ein Berserker aus der Taiga hält es nicht aus, ganze Abende mit solchem Spitzentanz durchzustehen. Das war auch gar nicht Ziel der Folklore. Aber der Romantik!
Paris, 1832. Dort und in Italien wurde das Ballett seit Ende des 15. Jahrhunderts entwickelt. Versuchsweise wurde mit verstärkter Fußsohle getanzt. Aber erst die damalige Startänzerin Marie Taglioni und die von ihr und ihrem Vater Filippo entwickelte mehrschichtige Sohle schafften es, mit Spitzentanz die romantische Illusion des Fliegens hervorzurufen. In der Uraufführung von „La Sylphide“ balancierte Taglioni als elfenhaftes Geisterwesen so überzeugend, dass fortan Ballett und Spitzenschuh nicht mehr zu trennen waren.
Als der Meisterchoreograf Marius Petipa 1847 seinen französischen Ballettstil von Paris nach Russland brachte, war der Spitzentanz bereits etabliert. Die italienische Ballerina Pierina Legnani zeigte dann 1893 dem immer noch aktiven Petipa in Sankt Petersburg, was ihre speziellen Schuhe drauf hatten: eine spezielle Härtung. Petipa kreierte daraufhin die 32 berühmten Pirouetten am Stück, die „Fouettés en tournant“. Pierina drehte sie erst in „Cinderella“, dann im „Schwanensee“. Faszinierend war die Wirkung, auf Anhieb! Und ohne Spezialschuh nicht mal denkbar.
Psychologisch ist der Drang zum Spitzenschuh also verständlich. Das hat aber nicht nur mit Ballett zu tun. Schon Sigmund Freud diagnostizierte Fußfetischismus als bedeutendste Fixierung. Freuds Begründung ist die traumatische, frühkindliche Reflex-Erfahrung: Wenn das Kind einen gegengeschlechtlichen Erwachsenen nackt sieht und den geschlechtlichen Unterschied bemerkt, schlägt es – aus Entsetzen, Angst, Überraschung, Scham – die Augen nieder. Es will nicht glauben, was es sieht, obwohl es das, was es zu dem Zeitpunkt bereits gesehen hat, auch nicht mehr in seinem Unbewussten löschen kann.
Der Blick richtet sich vor Schreck automatisch nach unten, auf die Füße der nackten Person. Damit ist im Gedächtnis des Kindes wegen der Prägung durch die Ersterfahrung zweierlei fest miteinander verbunden: die Assoziation von Geschlechtlichkeit (Sex) mit dem Anblick von Füßen.
Dieser Schock – ein frühkindliches Trauma – betrifft laut Freud jeden. Und das Trauma gebiert eine Lustquelle. Fußfetischismus, von dem übrigens auch die Schuhindustrie ganz gut lebt, beruht also darauf: Wir machen uns schön und betonen unser Geschlecht, indem wir Wert auf unsere Schuhe legen. High Heels, Turnschuhe, Stiefel, Schnabelschuhe, auch gemusterte Socken oder der Straps gehören dazu: Mit der Präsentation der Füße weist der Mensch dezent auf sein Geschlechtsteil hin. Das Signal wird – meist unbewusst – verstanden: Wer „hippes“ Schuhwerk trägt, kommt gut an.
Im Fall der Ballerina ist der Schuh berufsstiftend. „Ballet is woman“, Ballett ist weiblich, meinte der Choreograf George Balanchine. Der Fetisch, den der Spitzenschuh versinnbildlicht, will aber mehr.
Denn auch im subjektiven Erleben der Tänzerin bildet er ein Kultobjekt: Der spezielle Schuh trägt sie durch die Kunst.
Der Choreograf Martin Schläpfer hat das in „Ein deutsches Requiem“, das im Sommer 2011 in Düsseldorf zu Brahms-Musik premierte, bühnenwirksam konterkariert: Er läßt eine Tänzerin auf nur einem Spitzenschuh hüpfen – ein Kunstgriff, den schon John Neumeier in seiner „Matthäus-Passion“ (allerdings mit einem männlichen Tänzer, 1981) und auch Maurice Béjart im „Ring um den Ring“ (1990) durchexerzierten. Schläpfer zitiert die Ballett(schuh)-Tradition also sogar dann, wenn er sie bewusst bricht.
Für das noble „Bourrieren“, das „Trippeln“ auf den Zehenspitzen mit geschlossenen Beinen, das vornehmste Effekte verbreitet, braucht man indes beide Schuhe. Sonst geht die Poesie flöten. Das zuerst von Anna Pawlowa getanzte Solo „Der sterbende Schwan“ (1905 in Sankt Petersburg in der Choreografie von Mikhail Fokine uraufgeführt) bezieht einen Teil seiner Magie aus diesem zarten Gehippel.
Wenn eine ganze Gruppe von Ballerinen trippelnd die Bühne bevölkert, hat das gar was Paradiesisches. In „Giselle“, in „Schwanensee“, in „Dornröschen“, in „La Bayadère“ lassen die Choreografen die Mädchen bourrierend durch fantastische Formationen schweben: zum Abheben sanft sieht das aus. Der Anblick animiert regelmäßig Kinder zum Nachahmen – und zur Anfrage nach dem ersten Ballettunterricht.
Aber wann sollten sie mit Spitzentanz anfangen? Es gibt kein festes Alter dafür. Es hängt vom Talent, von der Gegebenheit der Füße und vom bereits geleisteten Training ab. Manche Mädchen können schon mit acht Jahren auf die Spitze steigen, ohne sich die Füße damit kaputt zu machen, andere müssen damit warten, bis sie zehn oder elf Jahre alt oder noch älter sind.
Das Stehen auf der verstärkten Spitze ist bei vortrainierten Füßen relativ einfach. Jede Tänzerin bestätigt das. Aber das weiche Abrollen, das notwendig ist, um nicht mit einem Nilpferd verwechselt zu werden, hat es in sich.
Weil Spitzentanz, wenn man ihn richtig übt, gesund ist, die Fußmuskulatur und das Koordinationsvermögen stärkt und zudem Spaß macht, lohnt er aber jede Anstrengung. In manchen Ballettschulen ist es auch üblich, männliche Schüler damit zu traktieren – nicht nur im Hinblick auf Travestie-Rollen, sondern vor allem wegen der Fußmuskelstärkung und wegen des Anmutstrainings. Alles harte Arbeit, übrigens. Denn mühelos flattern können schließlich nur die Schmetterlinge!
Gisela Sonnenburg
Angela Reinhardt: „Der passende Spitzenschuh. Tipps & Tricks für Kauf, Tuning, Pflege“, Henschel Verlag. Berlin. 2005, 2. Auflage 2007. 19.90 Euro
Die passende DVD zum Thema kommt aus Paris und wird hier besprochen: http://ballett-journal.de/dvd-sur-les-pointes-avec-une-etoile-andrey-klemm-isabelle-ciaravola-paris/