Entdeckung einer stillen Revoluzzerin Das posthum erschienene Buch „Die Befreiung des Körpers. Erinnerungen“ von Suzanne Perrottet nimmt mit auf eine Zeitreise in die Anfänge der Moderne. Eine Würdigung

Die Tanzpädagogin Suzanne Perrottet ist eine Entdeckung wert.

Der Einband ist vornehm, der rote Buchrücken sogar textil: Suzanne Perrotts Erinnerungen „Die Befreiung des Körpers“ sind eine asbolut faszinierende Lektüre. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Wer glaubt, alle wirklich wichtigen Pionierinnen und Pioniere der frühe Moderne seien bereits hinreichend bekannt gemacht – insbesondere auf dem Gebiet des Ausdruckstanzes – wird nun eines besseren belehrt. Die Tänzerin, Bewegungslehrerin, Heilgymnastin, Pianistin, Choreografin, Librettistin und auch Theoretikerin Suzanne Perrottet – am 13. September 1889 als Tochter eines Apothekers geboren, als Geliebte von Rudolf von Laban zuerst bekannt geworden, später mit einem eigenen Werk reüssierend, um am 10. August 1983 in einem Zürcher Altersheim 94-jährig zu versterben – ist eine Entdeckung wert. Das Buch „Suzanne Perrottet: Die Befreiung des Körpers. Erinnerungen“ ermöglicht diese in einer der stillen Revoluzzerin der Tanzwelt angemessen Weise, in einer erfrischenden, auch dem jungen Publikum zugänglichen Sprache.

Die Tanzpädagogin Suzanne Perrottet ist eine Entdeckung wert.

Die junge Suzy in „Wiener Gesellschaftskleidung“: Man musste ja was darstellen, damals, wenn man Mäzene haben wollte. Die Suche danach wird nett beschrieben. Foto: Gisela Sonnenburg

Sie war nicht so laut wie Mary Wigman und kein Kerl wie Rudolf von Laban. Sie hatte nicht ganz so viel Karriere-Glück wie Kurt Joss und war eine andere Generation als Pina Bausch. Aber ihre Theorie von der tänzerischen Bewegung als „Befreiung des Körpers“ und ihre weniger kalt- systematische, dafür flexibel-funktionierende Lehre von Rhythmik und Gestus verdienen alle Ehren: Suzanne Perrottet erkämpfte sich zwischen bürgerlichen Vorbehalten und allgemeinem Aufbegehren gegen die Traditionen Freiraum für eine eigene wie die zu lehrende Entfaltung der Persönlichkeit auf der Grundlage rhythmischen Bewegungsausdrucks.

Das klassische Ballett hat sie dabei – dieses sei betont – durchaus inspiriert, wenn auch erst spät und mitten in ihrem Werdegang. Denn Suzanne Perrottet entstammte nicht der Tanz- oder Theaterszene, sondern kam über die Musik und den Schweizerischen Bewegungsexperten Émile Jaques-Dalcroze zur Bühne und ins Tanzstudio. Ballett mit seiner Auswärtsdrehung der Beine und Füße, die sie erst 1922 für sich entdeckte, war für sie etwas Positives, und sie erkannte rasch, dass das Entscheidende im Ballett die gerade Haltung sei. Aber eine Ballerina war Perrottet nie, wollte es auch nie sein, auch wenn ihre Ausstrahlung, ihre feminine Aura, ihr Charme und ihr Talent dieses nahe gelegt hätten.

Dabei begann ihr eigener Werdegang in ihrer Kindheit, denn sie wurde bereits mit acht Jahren vom Genfer Konservatorium aufgenommen und dann zur Violinistin ausgebildet. Jaques-Dalcroze unterrichtete am Konservatorium. Aber nicht Violine, sondern Solfège, eine Tonlehre mit Gesang. Er begann mit ihr und einigen weiteren Mädchen seine später in größerem Rahmen bekannt werdenden Auftritte zu bestücken. Kleine Szenen und Tableaus werden mimisch illustriert. Die Mädchen tanzen nicht immer in Kostümen, sondern auch in Straßenkleidung – um den allgemein verbindlichen Charakter ihrer Darbietung zu betonen.

Übernommen hat Perrottet von Delacroze vor allem die Inspiration, dass alle Menschen – wenn auch in unterschiedlichem Umfang – ein tänzerisches Bewegungsbewusstsein entwickeln sollten. Für ihr eigenes Werk war das die Initialzündung und eine Antizipation von „sozialen“ Künstlern wie Joseph Beuys, für die ohnehin in jedem Menschen auch ein Künstler stecken sollte.

So weit greift das Buch aber nicht vor. Aufgebaut ist es weitgehend chronologisch. Ganz sorgfältig beginnen diese Memoiren (um nichts anderes handelt es sich hier) mit einer Charakteristik von Suzannes Eltern. Man muss dazu sagen, dass Perrottet den Band nicht selbst aufgeschrieben hat. Aus der Ich-Perspektive erzählend, basiert er auf Interviews, die der Fotograf, Filme- und Ausstellungsmacher Giorgio Wolfensberger (Jahrgang 1945) in ihrer letzten Lebenszeit mit Perrottet geführt hat.

Vertraulich erzählte sie ihm von ihrem Leben, insoweit es für die Öffentlichkeit relevant ist. Als sie im August 1983 überraschend verstarb, befand man sich erzählerisch erst in den 40er Jahren – der Rest des Lebens und Lebenswerks von Perrottet fehlt hier entsprechend.

Wolfensberger und Margarete Berg gaben dann erst viele Jahre später, nämlich im März diesen Jahres, das Buch heraus. Es ist außerordentlich überraschend, wie gelungen, wie wenig abgestanden, wie lebendig, wie dramatisch es ist!

Das liegt an der Offenheit und am Sprachduktus von Perrottet: Sie ist von spürbarer Aufrichtigkeit, von einem einfach verständlichen, aber wunderschönen Stil sowie von einer Vorbehaltlosigkeit, die immer wieder für sie einnimmt. Wie sie Menschen beschreibt und einschätzt, so originell und doch treffsicher, dabei immer kreativ, nie herabsetzend, ist berückend. Da haben wir in unserer Mainstream-verregelten Gegenwart doch Einiges zu lernen!

Die Tanzpädagogin Suzanne Perrottet ist eine Entdeckung wert.

Eine sehr ungewöhnliche Frau, mit viel Flair und Inspiration – und auch Mut zur eigenen Kunst: Suzanne Perrottet. Faksimile aus dem Buch: Gisela Sonnenburg

Wenn eine Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts auch nach heutigen Maßstäben noch ungewöhnlich war und ist, dann Suzanne Perrottet. Ein wichtiges Standbein ihrer künstlerischen und pädagogischen Arbeit war nicht etwa der Tanz an sich, sondern ein Instrument, das sie gar nicht zu spielen gelernt hatte, auf dem sie jedoch hoch begabt zu improvisieren wusste: das Klavier. Sie komponierte – was sie auf dem Konservatorium gelernt hatte – auch selbst, vor allem aber hatte sie das rare Talent, aus Tänzern und Tanzschülern durch die Evokation vom Klavier aus eine Menge herauszuholen.

Ganz klar stammt diese Technik von ihrem frühen Lehrer Jaques-Dalcroze, dem sie sein „Diktat am Klavier“ sogar mal anlastete. Aber Perrottet praktizierte ja auch kein „Diktat“, sondern ging mit Herzenslust auf die individuellen Talente ihrer Zöglinge ein. Menschen zu öffnen, ihre seelischen Verkrustungen mittels Kunst aufzubrechen, war sozusagen ihre Spezialität. Berühmte Ärzte schickten ihr Patienten, und ob sie mit Kindern oder mit Erwachsenen arbeitete: die nicht-methodische Methode der Suzanne Perrottet hatte Erfolg.

Es ist wirklich bedauerlich, dass so wenig von ihrem Können schriftlich, als Film oder als irgendwie fassliches System verfügbar ist. Hier kommt noch viel Arbeit auf die Wissenschaft zu!

Die Tanzpädagogin Suzanne Perrottet ist eine Entdeckung wert.

Schöne Arme, ein sanftes, sinnliches Gesicht: Suzanne Perrottet hätte auch als Tänzerin berühmt werden können, aber ihre hauptsächliche Berufung war die Pädagogik. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Perrottets Ungeduld und Leidenschaft waren ihre Stärken: Vergleicht man ihre menschenfreundlichen, logisch-humanistischen Ansätze mit den etwas kryptisch-verkopften und zum Teil sogar skurril-sinnlos anmutenden Theoremen ihres zeitweisen Geliebten und Lehrers Rudolf von Laban, so scheint Perrottet doch auf weit fortschrittlicheren Pfaden gewandelt.

Immerhin haben viele Zöglinge ihrer Schule glatt den Weg in die „Hall of Fame“ des Tanzes gefunden: Mary Wigman, Trudy Schoop, Max Terpis, Vera Skoronel – um nur Einige zu nennen.

Prägend ist für sie – ohne dass sie es selbst weiß – der Begriff der Intuition. Sie nennt es „Eingebung“, wenn sie etwas tut, das genau richtig ist, obwohl vordergründig alles dagegen spricht. Oder umgekehrt: Wenn sie einen Vertrag nicht unterschreibt, obwohl er lukrativ erscheint – und sich im Nachhinein heraus stellt, dass es so besser war. Manchmal ist sie sogar hellsichtig oder telepathisch begabt – aber allzu weit gehen diese Ausflüge in die Bereiche der Para-Intelligenz nicht. Dazu ist Suzanne Perrottet zu sehr dem gegenwärtigen Leben, der allgemeinen Realität, verpflichtet.

Den Jungmädchentänzen ihrer Jugend folgte die Anstellung als Lehrerin im sächsischen Hellerau. Es amüsiert, wenn man bedenkt, dass auch heute in Dresden-Hellerau ein Stück weit der moderne Tanz zuhause ist. Damals aber war das noch etwas ganz anderes: Émile Jaques-Dalcroze erhielt dort ab Herbst 1910 von dem reichen Fabrikantensohn Wolf Dohrn Gelegenheit, die „rhythmische Erziehung“ im großen Stil aufzuziehen. Arbeiter und ihre Kinder sollten reihenweise in den Genuss bewegungsrhythmischer Schulung kommen, die Mission war, möglichst jeden Menschen für die freie körpermusikalische Ausbildung zu gewinnen.

Suzanne Perrottet wurde von ihrem Lehrer mitgenommen und als Ausbilderin beschäftigt. Für Dohrn, der sich später, als sich das politische Klima um ihn verfinsterte, das Leben nahm, hat Suzanne nur lobende Worte übrig: „Ich kenne keinen Menschen, der eine so interessante Verbindung von vulkanischem Streben, Milde in dessen Äußerungen und Harmonie in deren Verschmelzung dargestellt hätte.“ Man könnte angesichts dieses kunstvoll mit den Genitiven spielenden Schachtelsatz meinen, die zwei hätten viel und eng miteinander zu tun gehabt – falls es so war, bedeckt jedoch ein Mantel des Schweigens das Verhältnis der beiden.

Interessant ist an der großzügigen Beschreibung des Mannes durch Suzanne, wie neidlos und wie sinnlich sie auf Menschen und ihre ureigenen Potenziale zu blicken wusste. Auch in Nicht-Tänzern und Nicht-Künstlern wie eben Wolf Dohrn erblickte sie Möglichkeiten des Ausdrucks („vulkanisches Streben“), eine schöne Seele („Milde“) und „Harmonie“: Sie war wirklich eine darin Berufene, Menschen im positiven Sinne zu sich selbst zu führen.

Kein Wunder, dass sie als Tanz-, Musik- und Bewegungspädagogin auf Anhieb außerordentlich großen Erfolg hatte. Allerdings: Nur gut zu sein, reichte – zumal bei Frauen – schon damals zum Überleben in einer künstlerischen Branche nicht aus. Dass die Schule in Hellerau bald um die 400 Schüler hatte, lag an der Organisation durch Wolf Dohrn – und nicht daran, dass sich der gute Ruf von Perrottet und Jaques-Dalcroze so rasch so weit durchgesetzt hätte. Allerdings kamen auch Nicht-Arbeiter, vor allem Tanzstudenten und andere angehende Künstler, um sich in dieser für damalige Verhältnisse völlig neuartigen Bewegungskunst mit dem Anspruch der sozialen Institution schulen zu lassen.

Ein Highlight dabei: das Zusammentreffen mit der damals ebenfalls noch sehr jungen Mary Wigman (die später als Begründerin des deutschen Ausdruckstanzes in die Tanzhistorie eingeht). Wigman kannte die Jaques-Dalcroze-Truppe von einer Tournee, hatte deren Gastspiel in Amsterdam gesehen. Jetzt kam sie nach Hellerau, um Unterricht zu nehmen. „Suzy“, wie Suzanne Perrottet von allen genannt wurde, sah natürlich sofort, dass hier ein besonderes Talent auftauchte. Die privaten Spielchen, die die Wigman mit ihren Freundinnen spielte, behagten ihr indes wenig – Suzy fand es eigenartig und infantil, wenn Mary sich von einer jungen Gefährtin spaßeshalber bedienen ließ wie von einem Lakaien.

Die Tanzpädagogin Suzanne Perrottet ist eine Entdeckung wert.

Mary Wigman um 1913 am Lago Maggiore – Frau und Natur, Tanz und Natur, Tanz und Freiheit… Faksimile: Gisela Sonnenburg

Aber sie hatte ein offenes Ohr für die Nöte von Wigman, die sich ihr anvertraute: „Weißt du, Suzy, ich arbeite für mich allein in meinem Zimmer, denn Dalcroze will ja nichts von mir wissen.“ Dabei war beiden klar: „Mary Wigman wollte von Anfang an mehr als nur seine Schülerin sein, wollte etwas für die Sache tun, weil sie davon begeistert war.“

Allerdings bekam Dalcroze wohl Kastrationsangst sprich Panik vor ihrer (weiblichen) Konkurrenz: Er lehnte die Mitarbeit der Wigman rundum ab. Suzy beurteilt das ganz sachlich: „Das fand ich sehr schade, denn er hätte doch froh sein müssen, wenn sich eine solch begabte Frau für seine Sache interessierte!“ Viele Jahre später bemerkt Suzanne, dass die Wigman, als sie eine eigene Schule hat, eine fast zu starke Autorität verbreitet – und deren Schülerinnen sich regelrecht vor der Wigman ängstigen. Sie selbst, also Suzy, kam jedoch stets sehr gut mit Wigman aus, auch wenn die unterschiedlichen Tanzstile der beiden nicht wirklich kompatibel waren. Es spricht für Suzy, dass sie sich, als sie als Lehrerin schon erfolgreich ist, nach Dresden begibt, um bei ihrer ehemaligen Schülerin Wigman Tanzstunden zu nehmen.

Auch sonst schwappt viel vom experimentellen Mut jener Jahre zu uns herüber. Der Zeitgeist damals war wild und frei – und es macht schlicht Spaß, mit der Perrottet auf Zeitreise zu gehen. Da reist Suzanne mal mit falschem Pass, weil ihre eigenen Papiere nicht rechtzeitig aus Genf kamen, nach Russland ein. Sie wird zwar nicht erwischt. Aber die Frau in der Schlange am Zoll vor ihr versucht, ein Baby über die Grenze zu schmuggeln – und wird deshalb verhaftet.

Irgendwie ist das symbolisch für das Leben der Suzanne Perrottet: Immer schrammt sie knapp an einer Katastrophe vorbei, zielsicher rettet sie sich über so manche schier unüberwindlich scheinende Hürde.

Schließlich ist ihr Freiheitsdrang immer eine wichtige Triebfeder. Der freie Tanz, die freien Gefühle, bald auch die freien Ehen (wie man damals die Ehen ohne Trauschein nannte) – das sind Suzys Felder. So wird es ihr bei Jaques-Dalcroze trotz der damals angenehmen finanziellen Sicherheit bald zu eng, nicht im wörtlichen Sinn, sondern die Gedankengebäude betreffend, in denen Suzy sich bewegen möchte.

FREIER TANZ, FREIE GEFÜHLE, FREIE EHEN

Ihre Menschenkenntnis und Beobachtungsgabe waren indes früh ausgeprägt, und dass sie an deren Weiterbildung festhielt, ist auch für die Leserschaft ihrer Memoiren eine Bereicherung. In wenigen Sätzen vermag Perrottet mitunter Sachverhalte darzustellen, die knapp, ungeschminkt und pointiert sind und zugleich zum Beispiel die Überlebensstrategie so mancher Zeitgenossen drastisch schildern.

Die Gesichter des russischen Publikums begeistern und interessieren sie – sie schildert diese als Typen, die ihr unvergesslich sind.

Oder der Graf von Wolkonski, der Jaques-Dalcroze förderte, wie er nur konnte: „Ich habe den Grafen viel später in London wiedergesehen, bei Kurt Jooss, einem Schüler von Laban. Wolkonski hatte gerade, obwohl er ein bekannter Homosexueller war, eine alte, steinreiche, amerikanische Dame geheiratet – vermutlich, weil er kein Geld mehr hatte.“

Als Suzy ihrem damaligen Chef Dalcroze einmal vorschlägt, Bewegung ohne Musik zu machen, lehnt er das unwirsch ab. Er war halt ein „Diktator“, kannte nur seinen eigenen pädagogischen Stiefel. Suzy entscheidet richtigerweise, sich langsam, aber sicher nach etwas anderem umzusehen.

SIE WILL TANZ OHNE MUSIK

Sie war zudem überarbeitet, brauchte Erholung. Wolf Dohrn schickte sie in ein Sanatorium, in dem sie ihr Schicksal in Person von Rudolf von Laban traf. Er war auch Kurgast – und die beiden waren vom ersten Moment ihres Gesprächs an ein Paar. Aber es dauert noch zwei Jahre, bis Suzanne Perrottet sich von den Verpflichtungen Dohrn und Delacroze gegenüber loseisen kann. Zunächst schicken diese sie nach Wien, wo sie eine neu gegründete „Filiale“ von Hellerau aufbauen soll.

Sie sieht in Wien viel Oper – und die Ballets Russes, darf sogar eine Probe lang neben Vaslav Nijinsky sitzen. Sie ist beeindruckt. Dann darf sie für die Hofoper das Bacchanal im „Tannhäuser“ choreografieren – aber sie ist von den Gepflogenheiten und Konventionen am Theater gar nicht begeistert.

Mit Laban steht sie in brieflichem Kontakt. Als er sie bittet, zu ihm zu kommen, um in Ascona in der Schweiz eine „Tanzfarm“ aufzubauen, sagt sie zu. Ihr Vertrag mit Dohrn und Delacroze (den diese nicht bereit waren, vorzeitig aufzulösen) läuft endlich auch aus. Auf dem Monte Verità in der Schweiz finden Laban und Suzy allerdings halbreligiöse Sektierer vor. Zwar lernen sie, ihre Kleider selbst zu nähen (und damit vom Korsett und ähnlichen Zwängen wegzukommen). Sie lernen auch die Vorzüge natürlicher, vegetarischer Ernährung. Aber auf Dauer hält sie die Möglichkeit, dort mit dem Tambourin und anderen einfachen Mitteln Tanz zu produzieren, nicht in der Gemeinschaft fest. Die Natur- und Nackt-Tänze, die in anderen Publikationen über diese Zeit so gern hochgespielt werden, spielen hier kaum eine Rolle: Suzy war an mehr interessiert als nur an hitziger, sommerlicher Erotik.

Die Tanzpädagogin Suzanne Perrottet ist eine Entdeckung wert.

Um 1915 mindestens genauso ungewöhnlich wie heute: Leben in einer Menage à trois. Suzy Perrottet, Rudolf von Laban und Maja Lederer. Für den Mann vermutlich ein kleiner Haremstraum. Faksimile aus dem besprochenen Band: Gisela Sonnenburg

Dass Laban verheiratet ist und Kinder hat, schreckt sie indes nicht. Sie ziehen zusammen in die Nähe von Zürich und leben eine Ehe zu dritt, und auch Suzy bekommt von Laban ein Kind. Es ist nicht ganz einfach, als so unkonventionelle Bigamisten-Patchwork-Familie in den Zehner Jahren des 20. Jahrhunderts auf dem Land in der Schweiz zu existieren. Es wäre auch heute nicht einfach!

Aber die ungewöhnliche „Wohngemeinschaft“ mit dem charmant-potenten Rudolf von Laban als unumstrittenem Mittelpunkt setzt sich durch. Man hat zwar zunächst noch nicht den erhofften Zulauf von Tanzschülern. Dafür aber bepflanzt man den Garten so geschickt, dass der Gemüse-Verkauf eine Einnahmequelle wird. Die Vorträge von Rudolf von Laban, die Suzy am Klavier und manchmal auch tänzerisch illustriert, werden vorerst ihr Daseinszweck. Nach einem Prinzip, das wir heute „Werkstatt“ nennen würden, erläutert Rudolf von Laban seine Theoreme und fährt tanzpraktische Beispiele dazu auf. Solche Abende hatten damals in Zürich ziemlich großen Erfolg. Dennoch leben sie nicht gerade in materiellem Überfluss – ihre Kinderwiege für den Sohn Allar improvisiert Suzanne aus einem Karton und schönen Textilien.

Für Suzanne ist es eine Liebes- und Lernzeit mit Rudolf und Maja; Labans frühe Bewegungslehre prägt sie ein Stück weit, vor allem raumtechnisch bringt er ihr viel bei. Und alltagspraktisch entwickelt die Perrottet eine Entscheidungskraft und soziale Kompetenz, die sie für den Aufbau der eigenen Sache stählen wird. Die „ungewöhnliche Lebensform“ gibt ihr Kraft, zeigt ihr zugleich aber auch ihren Weg, der sie noch viel weiter weg vom Klischee der bürgerlichen Ehefrau führen wird.

Privat gilt für die Perrottet ihr Leben lang: Sie wollte nie – bis auf die Zeit der Anfangsverliebtheit mit Laban – heiraten, und sie fühlte sich auch stets unfrei, wenn sie mit denen, die sie liebte, zu eng beisammen lebte. Dessen war sie sich auch bewusst.

Dennoch hat Suzy mit dieser seltsamen „Dreiecksbeziehung“ mal wieder großes Glück. Denn die „Bildungsanstalt“ in Hellerau wird 1914 wegen dem Ersten Weltkrieg geschlossen und in ein Lazarett umgebaut. Delacroze kehrt nach Genf zurück, Dohrn bringt sich um. Die Leute haben kein Geld mehr – all die Ideen, die so fortschrittlich erblüht waren, weichen in Deutschland einem militärisch-nationalistischen Geist.

Die Tanzpädagogin Suzanne Perrottet ist eine Entdeckung wert.

Im Kabarett „Im Krater“ trat Suzy auf, als geldgierige, verlockende Dirne. Ihr expressives Tanszpiel hatte großen Erfolg! Faksimile: Gisela Sonnenburg

In Zürich aber erblüht die Freiheit der Kunst: mit Dada. Perrettot ist sofort Feuer und Flamme, spielt Klavier, tritt mit den Dadaisten auf. Tristan Tzara, Hugo Ball, Richard Huelsenbeck werden ihre Freunde und Kollegen. Und als sie 1917 eine Vorstellung der Kinderklassen der „Labanschule“, die mittlerweile existiert, ganz allein organisiert und leitet, steht für sie fest: Ihr Gefühl zur Kunst trägt sie dorthin, wo sie etwas bewirken kann.

So führt sie die Labanschule ab 1918 allein weiter, als der „Meister“ nach Deutschland aufbricht. Wie mühsam es ist, Zulauf zu erhalten und Mäzene und Freundschaften zu finden, versteht sich fast von selbst, wenn man kein „Mitläufer“ ist, sondern etwas Neues startet. Suzy Perrottet gelingt es aber, gegen alle Widerstände in den folgenden Jahren und Jahrzehnten in Zürich etwas aufzubauen – und ihre „Schule für Eurythmie“ wird (ohne eindeutigen Bezug zu Rudolf Steiner und seiner anthroposophischen Lehre) tatsächlich wegweisend.

Jetzt ist Suzy es, die Vorträge hält, Aufsätze für Zeitschriften schreibt und mit ihren Klassen Auftritte absolviert. Sie ist auch als Ausbilderin begehrt – und sucht sich ihre Mitarbeiter wiederum auf mitunter ungewöhnliche, umso erfolgreichere Weise. Ihr gutes Auge für menschliche Qualitäten hilft ihr und macht ihre „Erinnerungen“ zudem lesenswert. Privat bleibt sie sich treu und lebt mit einem jüngeren schönen Mann, der zunächst ihr Schüler, dann ihr Mitarbeiter ist. Er sorgt sich auch um ihren Sohn, wiewohl dieser zumeist in Heimen aufwächst – Kind und Karriere zu haben, war damals für eine alleinstehende Frau ohne Vermögen (und ohne Geld für Haushaltshilfen und Kindermädchen) schier undenkbar.

Lieblos behandelt Suzanne ihr Kind trotzdem nicht. Später macht Allar Karriere als Regisseur: Seine Neigung zum Spielen mit Marionetten- und Puppentheatern beobachtet und fördert seine Mutter. Aber ganz sie selbst ist sie nie privat, sondern nur in ihrem Arbeiten.

Die Tanzpädagogin Suzanne Perrottet ist eine Entdeckung wert.

Hier tollen sie, frei und doch gelenkt: Die Tanzkinder in Suzanne Perrottets Schule in Zürich. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Wie sie gelegentlich ihren Unterricht beschreibt, heimelt wirklich an. Auch die Fotos ergänzen das. Und es gibt sogar Fotos von ihr hier, auf denen sie noch mit 80 Jahren unterrichtet! Man bekommt Lust, bei und mit ihr das Tanzen neu zu sehen – und bedauert immer wieder, dass sie keine Systematik und keine Schultradition hinterlassen konnte. Aber für alles reicht die Kraft einer Frau, die sich hoch arbeitet, eben nicht – da haben viele Männer doch einfachere Startbedingungen gehabt. Immerhin liegt jetzt ein Band vor, der die mehrfache Lektüre auch unter verschiedenen Gesichtspunkten lohnt.

Denn auch, wenn Suzanne Perrottet politisch eher zurückhaltend war, so ist sie doch von glasklarer, humanistisch geprägter Urteilskraft. Im Großen wie im Kleinen!

Die Tanzpädagogin Suzanne Perrottet ist eine Entdeckung wert.

Auch im Alter von 80 Jahren unterrichtete Suzanne Perrottet noch, in der von ihr entwickelten Methode: am liebsten vom Klavier aus, unter starker Forderung der Schüler und mit mimischer Begleitung. Was für eine Tanzlehrerin! Faksimile: Gisela Sonnenburg

Dem Verlag Nimbus aus der Schweiz gebührt denn auch großes Lob für diese sorgfältig edierte Ausgabe. Auch die Fotografien kommen gut zur Geltung, liebevoll ist das Layout. Dass man viel hin- und herblättern muss, weil die Bildunterschriften fehlen und nur im Anhang Erklärungen zu den Bildern stehen (und nie die Lizenzinhaber), ist zwar seltsam. Aber die kluge Papierwahl gibt einem dafür das Gefühl, dass Schriftsprache und Buchdruck keine ausgestorbenen Künste sind. Bravo!
Gisela Sonnenburg

Suzanne Perrottet: „Die Befreiung des Körpers. Erinnerungen, hrsg. von Giorgio Wolfensberger unter Mitarbeit von Margarete Berg. 224 Seiten, 64 Abbildungen, Halbleinen. Nimbus, Schweiz. 2015. 28 Euro.

ISBN 978-3-03850-002-5

Mehr über Mary Wigman (und leider nicht auch über Suzy Perrottet) gibt es hier:

www.ballett-journal.de/die-taenzerin-die-aus-dem-untergrund-kam/

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